K. B. Aaslestad u.a. (Hrsg.), Revisiting Napoleon's Continental System

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Titel
Revisiting Napoleon's Continental System. Local, Regional and European Experiences (War, Culture and Society, 1750-1850)


Herausgeber
Aaslestad, Katherine B.; Joor, Johann
Reihe
War, Culture and Society, 1750–1850
Erschienen
Basingstoke 2015: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 88,21
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alix Winter, Historisches Institut, Universität Potsdam

Die Kontinentalsperre wurde in der Geschichtswissenschaft oft als Beispiel und Bezugspunkt genommen, jedoch ohne dass die Auswirkungen dieses wirtschaftsökonomischen Großexperiments seit den Überblicksanalysen aus dem frühen 20. Jahrhundert1 eingehender untersucht worden wären.

Der von Katherine Aaslestad und Johan Joor herausgegebene Sammelband nimmt sich diese Forschungslücke vor. Hauptanliegen des Buches ist es, die Kontinentalsperre in ihrem Einfluss auf zwischenstaatliche Beziehungen, Handelswege und -netzwerke und das Alltagsleben der Europäer, die Rolle der neutralen Staaten und die Reaktionen einzelner Akteure zu untersuchen. Damit treten die Autoren auch an, die Perspektive, die Kontinentalsperre sei in ihrem Ziel, die britische Handelsmacht zu brechen, gescheitert, zugunsten eines differenzierteren Blicks auf die unterschiedlichen Folgen in einzelnen Regionen und Wirtschaftsbereichen zu überwinden. Sechs Thesen stellen die Herausgeber in ihrer Einleitung heraus: 1. Industrie und Handel der „inneren“ Regionen des französischen Empires (heutiges Belgien, Norditalien, linksrheinische Gebiete) profitierten vom Einfuhrverbot britischer Waren. 2. Eine transnationale Perspektive auf die Handelsblockade öffnet den Blick für die zugleich destruktiven wie konstruktiven Transformationen im internationalen Handel in der Folge der Sperre. 3. Trotz der immensen Kosten für den Krieg gegen Napoleon befand sich Großbritannien nach der Blockade in einer stärkeren ökonomischen Position als zuvor. 4. Die Umgehung der Blockade eröffnete für einige Akteure neue ökonomische Perspektiven. 5. Die als Kriegsform wiedererstarkte Kaperei verteuerte und schränkte den Handel zusätzlich ein. 6. Durch die innovative Anpassung von Kaufleuten und ihren Netzwerken an die Politik der Blockade entstanden neue, nicht intendierte Handelsformen und -praktiken.

Die 15 Beiträge des Bandes sind in vier Teile gegliedert. Der erste widmet sich der Historiographie und den Ursprüngen des Kontinentalsystems. Geoffrey Ellis reflektiert die Entwicklung der Forschung seit der Veröffentlichung seiner eigenen Fallstudie von 1981 zu den Auswirkungen der Kontinentalsperre auf das Elsass. Dabei kritisiert er ausführlich die Forschungsthese der „Integration“ Europas durch Napoleons Kontinentalsystem und kommt, anders als die Herausgeber in ihrer Einleitung ankündigen, zu dem Schluss, die Kontinentalsperre sei gemessen an ihren Zielen gescheitert, habe für das französisch besetzte Europa insgesamt negative ökonomische Auswirkungen gehabt und damit zur Desintegrierung Europas beigetragen.

Annie Jourdan untersucht die Interpretationen der Kontinentalsperre in Frankreich anhand dreier unterschiedlicher Quellengattungen: 1. zeitgenössischer Zeugnisse regierungsnaher Schriftsteller, die die Politik der Sperre begrüßten, ihre Ausführung jedoch im Einzelnen kritisierten; 2. historischer Schriften aus dem 19. und 20. Jahrhundert, die sich vornehmlich der Frage zuwandten, ob die Blockade durch die historischen Gegebenheiten als erzwungene Notwendigkeit oder als Ausdruck des Machthungers Napoleons zu verstehen sei; 3. rechtstheoretischer Schriften, die einen Verstoß Großbritanniens gegen das Seevölkerrecht als Ursache für die Blockade unterstellen. Abgesehen davon, dass eine derart schematische Untersuchung der Ideengeschichte der Kontinentalsperre zwangsläufig oberflächlich bleiben muss, geht Jourdans Wiedergabe der Standpunkte einiger der untersuchten Autoren an deren Kernaussagen vorbei und so bleibt das vielversprechende Thema dieses Beitrags nur unbefriedigend bearbeitet. Alexander Tchoundinov widmet sich zwei frühen russischen Studien zum Einfluss der Kontinentalsperre (Evgeniï Tarlé; Mikhail Zlotnikov), deren Wert für die heutige Forschung er trotz berechtigter Kritik in neueren Studien (Nikolaï Troshin; Svetlana Vasilieva) hervorhebt. Der Einfluss der Kontinentalsperre auf den Handel und die Wirtschaft Russlands sei insgesamt negativ gewesen.Der Beitrag Pierrick Pourchasses untersucht Blockadegesetze und -praxis zwischen Großbritannien und Frankreich vor der Kontinentalsperre und kommt zu dem Schluss, dass bereits in den 1790er-Jahren die Blockaden an den fehlenden Kontrollmöglichkeiten und am Schmuggel scheiterten. Er unterschlägt damit jedoch die neuen Dimensionen der Blockadepolitik unter Napoleon.

Der zweite Teil gruppiert Beiträge zu einzelnen Regionen. Silvia Marzagalli argumentiert aus „maritimer Perspektive“, dass das Kontinentalsystem und die Annexion immer weiterer Teile Europas in das französische Empire mit den Schwierigkeiten, Großbritannien im Wirtschaftskrieg gegenüberzutreten, zu erklären sei. Die „Integration“ einzelner Staaten ins Empire folgte dabei allein der Logik des Handelskrieges und baute nicht auf politisch tragfähigen Allianzen auf. Dies führte in den betroffenen Handelszentren zur Untergrabung der Blockadepolitik durch Schmuggel und Korruption. Alexander Grab zeigt, dass die französische Politik sich im Zweifel auch gegen die ökonomischen Interessen ihrer Alliierten durchsetzte. Im Königreich Italien litten der Handel der Hafenstädte sowie einzelne Industriezweige (Seidenindustrie) unter der Sperre; die Landwirtschaft hingegen, der Hauptwirtschaftszweig des Landes, wuchs in dieser Zeit sogar.Robert Mark Spaulding betrachtet den Rheinhandel während des Kontinentalsystems, dessen Veränderungen (Niedergang der Rheinmetropole Köln und Auftrieb mittlerer Städte wie Düsseldorf und Mannheim) er nicht allein auf die Kontinentalsperre, sondern auch auf längerfristige Entwicklungen im Verkehr entlang des Rheins zurückführt. Der freie Rheinhandel von Straßburg bis in die Niederlande habe dann aber mit zur positiven Wirtschaftsentwicklung im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts beigetragen.

Die Beiträge des dritten Teils untersuchen Veränderungen in den Handelsnetzwerken und Praktiken des illegalen Handels. Margrit Schulte Beerbühl untersucht am Beispiel Nathan Meyer Rothschilds den Einfluss familiärer, religiöser und nationaler Zugehörigkeit in Handelsnetzwerken britischer und kontinentaleuropäischer Kaufleute während der Blockade, welche trotz des internationalen Wirtschaftskrieges eine erstaunliche Anpassungsfähigkeit aufwiesen.Die folgenden beiden Beiträge widmen sich den Fällen Dänemark und Norwegen. Dänemark wurde, wie Jann M. Witt zeigt, durch den Krieg Großbritanniens gegen das Land in die Koalition mit Frankreich gedrängt und auch hinsichtlich der Anwendung der Handelsblockade zu einem der treuesten Alliierten des französischen Empires. Gleichwohl fanden Kaufleute Mittel und Wege, durch Schmuggel und die Verwendung falscher Papiere weiterhin mit den Briten zu handeln. Die Konsequenzen der Kontinentalsperre wurden auch in Norwegen spürbar und führten dazu, dass in dieser Region, die stark vom Holzhandel mit Großbritannien abhing, unter den Händlern und Kaufleuten Kritik an der Zentralregierung des Doppelstaates laut wurde, die zur späteren Loslösung Norwegens von Dänemark beitrug, wie Bård Frydenlund darlegt. Norwegische Magnaten unterliefen in Zusammenarbeit mit ihren britischen und schwedischen Partnern die Sperre. Beide Beiträge zeigen, dass die dänisch-norwegische Wirtschaft einen Zusammenbruch erfuhr, der über die Napoleonische Zeit hinaus wirkte. Die ökonomischen Auswirkungen des Kontinentalsystems auf das Rheinland bewirkten, so die Argumentation von Michael Rowe, einerseits die Desintegration der Regionen beidseits des Rheins und die kurzfristige Entwicklung von Manufakturen auf linksrheinischer Seite, die aber nach 1815 nicht mehr gegen die britische Konkurrenz gewappnet waren. Der langfristige Aufstieg des Rheinlands als Industrieregion hatte dagegen längerfristige Ursachen. Kulturell-politisch motivierte die Kontinentalsperre in der Region Widerstand in Form von Schmuggelpraktiken.

Der vierte Teil untersucht die Auswirkungen des Kontinentalsystems auf einzelne europäische Hafenstädte. Anhand der Beispiele Nantes und Bordeaux erläutert Alan Forrest, dass es hier den traditionsreichen Handelshäusern nicht gelang, flexibel auf die neue wirtschaftspolitische Situation zu reagieren und der langfristigen Verlagerung des Handels ins Inland etwa durch neue Beziehungen in die Levante oder nach Asien entgegenzutreten. Westholland – besonders Amsterdam – erfuhr, wie Johan Joor beschreibt, durch die Kontinentalsperre einen deutlichen Niedergang, der sich in städtischen Revolten und Stadtflucht äußerte. Die verschiedenen Strategien der Kaufleute, den Restriktionen zu begegnen, konnten nicht verhindern, dass Amsterdam am Ausgang der Kontinentalsperre zu einer europäischen Handelsstadt dritten Ranges herabgesunken war. In Antwerpen profitierten dagegen sowohl alteingesessene als auch neuangekommene Kaufleute trotz des Wirtschaftskrieges von den besonderen Möglichkeiten der Situation, wie Hilde Greefs herausarbeitet. Dies betraf allerdings keineswegs alle Kaufleute; Leidtragende waren darüber hinaus besonders einfache Arbeiter, die unter den hohen Güterpreisen litten. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Anita Čerpinska in ihrer Fallstudie zu Riga, wo die Arbeiter in der Zulieferindustrie für die Exportwirtschaft besonders von den Preissteigerungen infolge der Kontinentalsperre betroffen waren. Die Wirtschaft Rigas hing zu einem Großteil vom Handel mit Großbritannien ab. Dennoch konnte die Stadt in den vier Jahren, in denen Russland dem Kontinentalsystem beitrat, die negativen Folgen der Handelssperre insgesamt gut umgehen.

Die titelgebende Neusichtung des Bandes gelingt insgesamt nur in einigen Bereichen, und bisweilen handelt es sich um die Affirmation älterer Thesen. Anhand der Einzelstudien, welche für sich einen großen Gewinn für die Forschung darstellen, lässt sich der transnationale Anspruch der Herausgeber aber nicht recht umsetzen. Ein Manko bleibt, dass sich keiner der Beiträge mit den Folgen der Blockadepolitik für Großbritannien befasst. Auch die kulturellen Aspekte, etwa die immense öffentliche Auseinandersetzung der Zeitgenossen mit der Thematik in Presseberichten, kommen insgesamt zu kurz. Gleichwohl wird in vielen Facetten die Bedeutung der Kontinentalsperre für längerfristige ökonomische, politische und soziale Entwicklungen im 19. Jahrhundert in den verschiedenen Ländern Europas nachgezeichnet. Dabei können vor allem die Erkenntnisse über die positiven Effekte für einzelne Akteure oder Regionen als innovativer Forschungsbeitrag gelten. Dies ist ein großes Verdienst des Bandes, und es steht zu hoffen, dass er neue Untersuchungen zur Kontinentalsperre anstößt.

Anmerkung:
1 Klassiker sind: Eli F. Heckscher, The Continental System. An Economic Interpretation, Oxford 1922; Francois Crouzet, L’économie britannique et le blocus continental 1806–1813, Paris 1958.

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