Cover
Titel
Von Höllengefährten zu schwimmenden Palästen. Die Passagierschifffahrt auf dem Atlantik (1840–1930)


Autor(en)
Bellmann, Dagmar
Erschienen
Frankfurt 2015: Campus Verlag
Anzahl Seiten
414 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Moritz Glaser, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Kaum ein anderes Transportmittel repräsentierte während des 19. Jahrhunderts zugleich die vermeintliche Fortschrittlichkeit der westlichen Welt und die zunehmende Globalisierung wie es das Dampfschiff tat. Während die Eisenbahn für eine „Vernichtung von Raum und Zeit"1 sowie die Integration vornehmlich nationaler Märkte und Territorien sorgte, ermöglichte die Dampfschifffahrt auf den Weltmeeren eine neue Ebene transnationaler Mobilität und ging dabei mit einer sukzessiven veränderten Wahrnehmung gegenüber Seereisen einher. Mit diesem Wahrnehmungswandel beschäftigt sich die im Rahmen des Graduiertenkollegs ‚Topologie der Technik‘ an der Technischen Universität Darmstadt entstandene Dissertation von Dagmar Bellmann, auf der das hier zu besprechende Buch basiert. Die Erfahrungs- und Wahrnehmungsgeschichte der Passagierschifffahrt auf dem Atlantik reiht sich ein in eine Reihe neuerer kulturwissenschaftlicher Forschungen zur Geschichte der Technik. Damit fragt das Buch nach den Faktoren, die einer technischen Innovation Vertrauen und Akzeptanz verliehen sowie nach den Folgen, die diese für die Wahrnehmung einer spezifischen Mobilitätsform hatten. Bellmann konzentriert sich in ihrer Studie auf die Geschichte der Wahrnehmung von Atlantiküberfahrten mit dem Dampfschiff. Als grundlegend für die Bewertung des Dampfschiffes als Transportmittel durch die Reisenden galt die Erfahrung einer Atlantiküberquerung mit dem Segelschiff, die somit als Negativfolie fungierte. Dass die Möglichkeit der Überfahrt mit dem Dampfschiff beispielsweise für Amerikaauswanderer die Reise über den Atlantik zum einen planbarer machte, zum anderen beschleunigte und damit auch die Zeit des Verdienstausfalles verkürzte, ist von der Forschung bereits herausgestellt worden.2 Insofern ist die Rolle des Dampfschiffes als Element, das die transatlantische Migration erheblich vereinfachte und ihr auch ihren Schrecken nahm, bereits von der Forschung gewürdigt worden. Bellmann geht darüber jedoch noch einen Schritt hinaus, indem sie danach fragt, wie genau sich um diese technische Neuerung eine veränderte, kulturell vermittelte Wahrnehmung der atlantischen Seereise etablierte, die dazu führte, dass das Dampfschiff zunehmend nicht nur als reines Transportmittel genutzt wurde.

Die Autorin konstatiert in diesem Zusammenhang einen Wandel in der gesellschaftlichen Bewertung von Atlantiküberfahrten mit dem Dampfschiff zwischen 1840 und 1930. Dabei sei zunehmend ab etwa 1880 ein Wahrnehmungswandel von der Konnotation der Atlantiküberfahrt mit Angst und Schrecken hin zu einer Assoziation mit etwas Vergnüglichem und einer positiven Erfahrung eingetreten. Bellmann macht dafür ein Zusammenspiel aus drei Faktoren verantwortlich. Erstens seien Imaginationen der Schiffsreise in Werbung, Presse und fiktionaler Literatur ausschlaggebend für den Wahrnehmungswandel gewesen. Zweitens führt sie die veränderte räumliche Einrichtung der Schiffe an. Drittens sorgten soziale und kulturelle Praktiken, die an Bord etabliert wurden, für eine veränderte Wahrnehmung der Überfahrt.

Diese Argumentation stützt sich auf die Analyse von Reiseberichten, Presseartikeln, Publikationen, die Reedereien herausgaben, und von Korrespondenzen. Mithilfe der von Hayden White herausgearbeiteten Narrativitätsstrukturen (Tragödie, Romanze, Komödie, vgl. S. 104) von Texten gelingt es Bellmann, einen systematisierenden Zugriff auf das bearbeitete Quellenmaterial zu entwickeln. Damit bewegt sich die Studie, was ihre methodische Ausrichtung angeht, an der Schwelle zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft.

Der Aufbau des Buches orientiert sich dabei sehr stark an den verschiedenen Quellengattungen. Mit insgesamt zwölf Kapiteln auf 374 Seiten ist die Gliederung eher kleinschrittig angelegt. Nach einem einführenden Kapitel über die Entwicklung der Passagierschifffahrt auf dem Atlantik folgt ein Kapitel zu „Konsum und Tourismus“ sowie zum kulturgeschichtlichen Verhältnis von Passagier und Meer, bevor dann im Einzelnen die Imaginationen der Seereise mit dem Dampfschiff in fiktionalen Texten, Werbung und Presseartikeln, die Ausstattung und Gestaltung der Schiffsräume sowie die kulturellen und sozialen Praktiken der Passagiere während der Atlantiküberfahrten analysiert werden.

Den einzelnen Kapiteln sind dabei immer kurze Zusammenfassungen ausgewählter Reiseberichte vorangestellt, die wohl den Leser auf die im darauffolgenden Kapitel behandelten Aspekte einstimmen und das individuelle Erleben einer Seereise illustrieren sollen. Dies gelingt nicht immer, auch deshalb, da nur 50% dieser Reiseberichte den eigentlichen Schwerpunkt der nordatlantischen Überfahrten zwischen Amerika und Europa abdecken. Zudem stehen einige der Wiedergaben etwas erratisch da und bleiben teilweise weitgehend unkommentiert.

Etwas außen vor bleibt bei dieser Darstellung und der skizzierten Argumentation die Diskussion von exogenen Faktoren, die den ausgemachten Wahrnehmungswandel erklären könnten. So wäre zu überlegen, ob neben Imaginationen, Raumeinrichtungen und der Entwicklung spezifischer kultureller Praktiken auch schlichtweg die Distinktionsbemühungen des wohlhabenden Bürgertums eine Rolle dabei gespielt haben, eine Seereise nicht mehr als gefährlich, sondern als vergnüglich erscheinen zu lassen. Wenn die Schiffsreise genau deshalb zu einem touristischen Produkt wurde, weil mit ihr „die feinen Unterschiede“3 im demonstrativen Konsum4 ausgedrückt werden konnten, dann käme dem Tourismus eher die Funktion einer Triebkraft hinter der gewandelten Wahrnehmung zu und er wäre weniger ein Produkt derselben. Überhaupt spielt die Tourismusgeschichte im eigentlichen Hauptteil der Arbeit, obwohl Bellmann ihr ein eigenes Vorkapitel widmet, kaum mehr eine Rolle. Auch die materiellen Eigenschaften des Dampfschiffes und die damit einhergehende Veränderung der Atlantiküberfahrten scheint seltsamerweise für die Erklärung des konstatierten Wandels kaum eine Rolle zu spielen. Die Tatsachen, dass Dampfschiffe die Atlantikpassage in deutlich kürzerer Zeit und viel unabhängiger vom Wetter bewältigen konnten, gehen im Zusammenspiel von Imagination, Raumeinrichtung und kultureller Praktiken fast unter.

Trotz der großen Diskussionskonjunktur über Konzepte von Räumen und Räumlichkeiten zeigt sich die Studie davon weitgehend unbeeindruckt. Dies ist umso erstaunlicher, da sie der Kategorie Raum eine hohe Erklärungskraft als Explanans des zu erklärenden Wahrnehmungswandel zuweist. Dabei bleibt die Autorin jedoch bei einem recht verkürzten, einseitig materialistischen Raumbegriff, den sie auf Gottfried Wilhelm Leibniz zurückführt (S. 11). Die reichhaltige Literatur zur sozialen Konstruktion des Raumes aus den letzten Jahren nimmt sie jedoch nicht zur Kenntnis. Dies führt gewissermaßen dazu, dass die Autorin vorgibt, Raum in erster Linie als materielle Umgebung innerhalb der Dampfschiffe zu beschreiben, tatsächlich aber ständig über die soziale Konstruktion dieser spezifischen Räumlichkeit spricht. So erinnert die Dreiteilung in Imagination, Raumeinrichtung und kulturelle Praktik, die der Arbeit zugrunde liegt, ja gerade an die Raumtrias Henri Lefebvres, der mit ihr eben die soziale Konstruiertheit von Räumen begründete. 5 Ein expliziter Bezug zu Lefebvre und seinen theoretischen Arbeiten über Raum hätte den Mehrwert haben können, das Zusammenwirken von Imagination, der Einrichtung der materiellen Umgebung und der kulturellen Praktiken besser erklären zu können, indem der Konstruktion einer spezifischen Räumlichkeit des Schiffes eine Schlüsselstellung zur Erklärung des Wahrnehmungswandels zugewiesen hätte werden können. Damit wäre dann als Schlussfolgerung unter Umständen nicht nur die Feststellung geblieben: „Für den Wandel in der Wahrnehmung atlantischer Seereisen zwischen 1840 und den 1930er Jahren ist ein Zusammenspiel von Imagination, Raum und Praxis verantwortlich zu machen.“ (S. 369)

Denn der zentrale Faktor für den Wahrnehmungswandel scheint in der Tat die von den Reedereien verfolgte Strategie der Versicherheitlichung gewesen zu sein. Durch einen immer weiter wachsenden Komfort sollten Vertrauen und Akzeptanz des Transportmittels Dampfschiff gesteigert werden, was wiederum ganz fundamental durch die räumliche Einrichtung der Schiffe versucht wurde zu erzielen (S. 168, 210 und 225). Damit waren es in erster Linie räumliche, materielle, aber eben sozial konstruierte Strukturen, die Sicherheit vermittelten und damit Wahrnehmungsweisen beeinflussten. Somit ist die Studie nicht nur anschlussfähig an neuere Forschungen zur Versicherheitlichung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, sondern vermag diesen zugleich neue Impulse zu geben.

Anmerkungen:
1 Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2000, S. 38.
2 Vgl. Gary Roseman, Evidence on Determinants of the Choice of Sail or Steam from the Hamburg Passengers Lists of 1866, in: The Journal of European Economic History 32 (2006), H. 3, S. 623–633. Bellmann weist jedoch auch darauf hin, dass dieser Vorteil durch die höheren Transportkosten wiederum zunichte gemacht werden konnte (S. 55). Vgl. auch Markus Günther, Auf dem Weg in die Neue Welt. Die Atlantiküberquerung im Zeitalter der Massenauswanderung. 1818–1914, Augsburg 2005.
3 Vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 22. Aufl., Frankfurt am Main 2012.
4 Vgl. Thorstein Veblen, Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, Frankfurt am Main 1987.
5 Henri Lefebvre, The Production of Space, Malden MA 1991, S. 33.

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