A. Doering-Manteuffel u.a.: Der Brokdorf-Beschluss

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Titel
Der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts 1985. Eine Veröffentlichung aus dem Arbeitskreis für Rechtswissenschaft und Zeitgeschichte an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz


Autor(en)
Doering-Manteuffel, Anselm; Greiner, Bernd; Lepsius, Oliver
Erschienen
Tübingen 2015: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
X, 230 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Westermann, Historisches Seminar, Universität Heidelberg

Die geschichtswissenschaftliche Forschung tut sich im Umgang mit der juristischen Dimension ihrer Fragestellungen oft schwer. Meist sieht sie das Recht eher beiläufig als gegebenen Rahmen, den es für das ‚eigentliche‘ Thema zu beachten gelte. In diesem Kontext mehren sich Stimmen, die stärker nach der sozialen Bedingtheit von Gesetzen fragen und eine – allerdings unterschiedlich definierte – „Juristische Zeitgeschichte“ fordern.1 Gerade für die jüngere Zeitgeschichte kann dies angesichts neuer gesellschaftlicher Herausforderungen gewinnbringend sein. Aber auch die Rechtswissenschaft kann von einer solchen Blickerweiterung profitieren.

Vor diesem Hintergrund ist die Gründung des „Arbeitskreises für Rechtswissenschaft und Zeitgeschichte“ im Juni 2012 zu sehen, der an der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur angesiedelt ist. Er möchte „die Integration der Fachkulturen […] fördern, damit beide Disziplinen ihre Erkenntnisperspektiven erweitern und gemeinsam nutzen können“ (S. V). Der vorliegende Band ist das Ergebnis der ersten Jahrestagung des Arbeitskreises vom Juni 2013.2 Er umfasst eine kurze Hinführung zum Thema, einen Auszug des richterlichen Beschlusses (BVerfGE 69, 315, so genannter Brokdorf-Beschluss) sowie vier Aufsätze zum zeithistorischen und rechtswissenschaftlichen Kontext.

Dem selbstgesteckten Ziel interdisziplinärer Verschränkung entspricht die einleitende „Lesehilfe“ zu „Entscheidungsaufbau und Entscheidungstechnik“. Oliver Lepsius legt dar, was einen Beschluss von einem Urteil unterscheidet, wie solche aufgebaut und zu verstehen sind, aber auch, welche Implikationen sich schon aus der Zitierform ergeben. So enthalte die übliche deutsche Zitation keine Hinweise auf Zeit oder Inhalt eines Verfahrens: „Die Normauslegung des Gerichts präsentiert sich somit als sachverhaltsindifferente objektive Aussage mit vermeintlich zeitloser Richtigkeit.“ (S. 9)

Bernd Greiner stellt anschließend in der ersten historischen Kontextualisierung „Angst als Emotion und Instrument“ vor. Im Zusammenhang der Systemauseinandersetzung und der Abschreckung zwischen der Sowjetunion und den USA habe Angst eine zentrale Rolle gespielt: Solange man vom jeweils anderen nicht gewusst habe, wie er in bestimmten Situationen handeln werde, habe man immer vom Schlimmsten ausgehen müssen – dem atomaren Erst- oder Gegenschlag. Die Angst vor der eigenen Vernichtung habe somit stets beide Seiten im Zaum gehalten. „Im Kern lief Abschreckung also darauf hinaus, Verwirrung und Angst zu einem Mittel der politischen Kommunikation zu machen.“ (S. 64) Vor diesem Hintergrund erklärten sich beispielsweise Nixons „Madman-Theorie“ (der Versuch, sich selbst als unberechenbar darzustellen) oder das Handeln von „Angstunternehmern“ in den USA, die Greiner bereits an anderer Stelle als „Sicherheitswächter im eigenen Auftrag“ beschrieben hat.3 Auf sowjetischer Seite sei die „RYAN-Operation“ seit 1981 Ausdruck dieses Angstdenkens gewesen (geheimdienstliche Recherchen über die befürchtete Planung eines atomares Erstschlags der USA bzw. der NATO).

Aus Sorge vor den negativen Folgen atomarer Technik (sowohl der militärischen als auch der zivilen) hätten sich Bürgerbewegungen gegründet, die Angst zur Mobilisierung genutzt hätten. Im Laufe der Zeit hätten sich diese Gruppen aber verändert: Statt einer Steigerung von Angst bis hin zur Panik hätten sie die Prävention als adäquates Mittel zur Abwendung der von ihnen geschilderten Gefahr entdeckt. Indem sich die Protestierenden Expertenwissen aneigneten und dieses in die Öffentlichkeit trugen, konnten sie Alternativen aufzeigen und sich letztlich selbst von der Angst befreien. „Individualisierter Protest und vergemeinschaftetes Allgemeinwissen bedingten sich also gegenseitig und dynamisierten eine politische Bewegung, die gemessen an den zentralisierten Aktionsformen ihrer Vorgänger unterschiedlicher nicht hätte sein können.“ (S. 79) Damit schlägt Greiner den Bogen zum Brokdorf-Beschluss: Mit dem Wandel von Demonstrationsformen sei auch das entsprechende Recht veraltet und eine Modernisierung durch das Bundesverfassungsgericht die logische Konsequenz gewesen.

Anselm Doering-Manteuffel knüpft in seinem Aufsatz („Fortschrittsglaube und sozialer Wandel“) daran an; er stellt die Divergenz von gesellschaftlicher Entwicklung und geltendem Recht in den Vordergrund. Dabei zeichnet er zunächst ein Panorama des Umgangs mit der Atomtechnik und geht dafür bis in die 1950er-Jahre zurück: Nachdem die Atombombe anfangs als Schrecken wahrgenommen worden sei, habe sich mit Eisenhowers Rede „Atoms for Peace“ vom Dezember 1953 das Bild völlig gewandelt: „Wärme, Geborgenheit und ein besseres Leben für alle standen zu erwarten!“ (S. 87) Als positive Utopie habe die Kernenergie nun eine starke Wirkung entfaltet. „Das gesellschaftliche Selbstverständnis des kontinuierlichen Wachstums im gesicherten Wohlstand bildete sich heraus.“ (S. 91) Seit Mitte der 1960er-Jahre sei diese ‚heile Welt‘ aber ins Wanken geraten. Die Neue Jugendkultur und die Ölkrisen hätten Gesellschaft wie Industrie herausgefordert, und Zukunftsungewissheit habe den Platz der Fortschrittseuphorie eingenommen. Als Reaktionen hierauf hätten sich provozierende Jugendbewegungen wie die Punks, aber auch andere neue soziale und politische Gruppierungen gegründet.

Hier ordnet Doering-Manteuffel den Brokdorf-Beschluss ein. Neuen gesellschaftlich-politischen Artikulationsformen hätten ein altmodisches Demonstrationsrecht und eine in der Obrigkeitstradition verhaftete Mentalität von Polizei und Verwaltung gegenübergestanden. Da die Massendemonstration seit den 1960er-Jahren als Protestform neu gewesen sei, hätten Gerichte bis zu den Auseinandersetzungen um Brokdorf das harte Vorgehen der Polizei gestützt. Zwischen behördlicher Restriktion und zivilgesellschaftlichem Partizipationsanspruch habe es erhebliche Differenzen gegeben: „Hier musste [nach Meinung der Autoren des Brokdorf-Beschlusses] etwas geschehen.“ (S. 101)

In seiner rechtshistorischen Kontextualisierung über „Versammlungsrecht und gesellschaftliche Integration“ würdigt Oliver Lepsius den Brokdorf-Beschluss als „erste große Leitentscheidung zur Versammlungsfreiheit“ (S. 114). Er stützt diese Aussagen vor allem auf den „Integrations- und Edukationseffekt“ (S. 118) des Beschlusses, den dieser für Demonstranten und Behörden entfaltet habe. Die Integrationsfunktion und den qualitativen Anspruch der Verfassung habe der Beschluss mit dem Einbezug der Demonstranten in den Staat erfüllt: Indem Minderheiten nicht in einer politischen Mehrheit untergegangen seien und ihre Meinung effektiv hätten äußern können, sei die Kompromissfähigkeit der Bundesrepublik erweitert und die Protestkultur auf einen verfassungsgemäßen Boden überführt worden.

Lepsius hebt die vom Bundesverfassungsgericht geleistete Konkretisierung des Prinzips der vertrauensvollen Kooperation hervor: Demonstrationen könnten seit Brokdorf praktisch nur dann aufgelöst oder verboten werden, wenn nicht im Vorfeld zwischen Polizei und Versammlungsleiter alles Notwendige für einen reibungslosen Ablauf abgesprochen worden sei. Da zudem für Spontandemonstrationen keine Anmeldepflicht gesehen wurde, habe es sich um eine enorme Aufwertung des Demonstrationsrechts gehandelt. Lepsius schließt seinen Aufsatz mit verfassungsgeschichtlichen Aspekten. So ordnet er den Brokdorf-Beschluss in den juristischen Schulenstreit ein, bei dem sich 1985 die Smend-Schule durchgesetzt habe, und in den aufkommenden Konflikt zwischen Bundestag und Bundesverfassungsgericht seit der Ära Brandt.

Im abschließenden Beitrag von Doering-Manteuffel und Lepsius kommt die protestantische Prägung der maßgeblichen Köpfe hinter dem Beschluss des Ersten Senats in den Blick – eine Prägung, welche die beiden Autoren bei den Verfassungsrichtern Roman Herzog und Konrad Hesse sowie dem zuständigen Berichterstatter Helmut Simon identifizieren. Methodisch wären hier konkretere Belege für ideengeschichtliche Einflüsse auf die juristische Arbeit wünschenswert gewesen. Die biographischen Schilderungen zu Herzog und Hesse bleiben diesbezüglich vage. Hesse tritt mehr als Smend-Schüler in Erscheinung denn als Protestant. In der Skizze über Simon kommt die Leitfrage stärker zum Tragen. Einem pietistischen Elternhaus entstammend, sei er früh in Kontakt mit den Schriften Karl Barths gekommen und habe das Recht von einer Lesart aus interpretiert, „die eine christliche Ethik in der Würde und Persönlichkeit des Einzelnen verwurzelte“ (S. 181). Aus dieser Perspektive betrachtete Simon, so die Autoren, das Bundesverfassungsgericht als „selbstbewusstes Bürgergericht mit dem Auftrag, Partizipationsmängel auszugleichen“ (S. 185). Dieses müsse eingreifen, wenn „es denjenigen zum Schutz ihrer Stimme verhilft, die sonst in den Institutionen nicht gehört werden“ (S. 188).

Über die Einzelpersonen hinausgehend werden Obrigkeitsdenken und die damit verbundene Demokratieferne als Charakteristika der protestantischen (oder zumindest der lutherischen) Tradition aufgeführt und damit deren anfängliche schwache Integration in die Bundesrepublik erklärt. Erst als mit Barths theologischen Ansätzen individuelle und gesellschaftliche über staatliche Werte gestellt worden seien und gerade evangelische Vertreter wie Martin Niemöller selbstbewusst Alternativen zu Adenauers Politik der Westintegration aufgezeigt hätten, hätten sich weitere protestantische Stimmen vom alten Denken losgesagt und sich von Unterstützern der Obrigkeit hin zu Schutzmächten der Meinungsfreiheit entwickelt. So seien sie mit anderen gesellschaftlichen Kräften koalitionsfähig geworden.

Dieser letzte Beitrag unterstreicht, dass die Autoren mit dem vorliegenden Band ihrem selbst formulierten Anspruch gerecht werden, indem tatsächlich juristische mit geschichtswissenschaftlichen Fragen verknüpft und nicht nur nebeneinandergestellt werden. So entstehen neue und weiterführende Perspektiven, deren Aufwerfen man sich vom Arbeitskreis weiterhin erhofft.

Anmerkungen:
1 Zusammenfassend: Thomas Vormbaum, Juristische Zeitgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22.03.2010, <https://docupedia.de/zg/Juristische_Zeitgeschichte> (28.07.2015).
2 Vgl. den Bericht von Lars Legath, in: H-Soz-Kult, 20.08.2013, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-4966> (28.07.2015). Siehe auch die Website des Arbeitskreises: <http://www.adwmainz.de/arbeitskreis-fuer-rechtswissenschaft-und-zeitgeschichte.html> (28.07.2015).
3 Bernd Greiner, Angstunternehmer. Zur Karriere eines amerikanischen Rollenmodells, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 63 (2013), Heft 32–33, S. 27–33, hier S. 29, <http://www.bpb.de/apuz/165751/angstunternehmer-zur-karriere-eines-amerikanischen-rollenmodels?p=all> (28.07.2015).

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