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Titel
Bilder von Europa im Mittelalter.


Autor(en)
Oschema, Klaus
Reihe
Mittelalter-Forschungen 43
Erschienen
Ostfildern 2013: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
XXXII, 678 S.
Preis
€ 85,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felicitas Schmieder, Historisches Institut, FernUniversität Hagen

Europa ist in aller Munde, nach europäischen Gemeinsamkeiten wird in der Erkenntnis, dass es neben dem Euro und dem Namen auch identifizierende Inhalte geben muss, gesucht. Nicht nur angesichts des Gedenkens an große, den Kontinent entzweiende Konflikte in der jüngeren Erinnerung wird danach besonders gerne in der länger zurückliegenden Vergangenheit gesucht, die hoffentlich gemeinsame Wurzeln oder wenigstens in langer gemeinsamer Geschichte erworbene, tief verankerte Gemeinsamkeiten zu bieten hat. Historiker sind sich meist darüber im Klaren, dass es sich bei solchen Suchen nach möglichst einfachen Antworten um Illusionen handelt, doch erliegt mancher der Versuchung, hier gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Erfordernissen zuzuarbeiten – ganz abgesehen von der Unentrinnbarkeit der eigenen Zeit und Perspektive, auf deren Basis jeder, auch jeder Historiker, denkt und schreibt. Die Geschichte liefert die Bilder und Argumente (S. 13), und speziell das Mittelalter muss hier seit jeher für Vieles herhalten und scheint besonders geeignet, sowohl Negatives als auch Positives (wobei sich die konkreten Bezüge dieser Wertungen ebenso mit der Zeit ändern) zur Verfügung zu stellen: Erinnerungen an frühere Größe und uralte Unterdrückung, aber ebenso gemeinsam verteidigte Werte mit positiven Zuschreibungen an Europa und das Christentum (S. 13), die davon ausgehen, dass all das, was Europa bedeutet und an friedlicher, guter Zukunft bringen kann, geformt wurde, auch wenn man es damals einfach noch nicht europäisch nannte.

Denn seit Langem ist bekannt, dass im „europäischen“ Mittelalter kaum jemand von Europa sprach, wenn es um ein großes Ganzes ging: Europa war kein Begriff, kein Konzept und erst recht kein Ideal. Klaus Oschema, der sich in seiner hier vorliegenden Habilitationsschrift vorgenommen hat, dem Gebrauch und der Füllung des Begriffs oder wenigstens der Benennung „Europa“ im Mittelalter nachzugehen, weiß das, und er kann, das sei vorweggenommen, an dieser grundsätzlichen Erkenntnis nichts ändern. Er weiß aber auch um die gegenwärtige Notwendigkeit, mit historischer Grundlagenarbeit als Historiker eine Position zu beziehen, die sich beliebiger Vereinnahmung in den Weg stellen will, und das soll und kann das Buch leisten, auch wenn sein Umfang die konkrete Rezeption in den benachbarten Epochen und Fächern erschweren dürfte. Oschema verweist zu Recht auf die Verve, mit der vor allem in der Publizistik die historische Bestimmung Europas diskutiert wird, und will neue Untersuchungen liefern, weil die notwendige Vereinfachung bei der Übernahme differenzierter und zudem zumindest ein halbes Jahrhundert alter mediävistischer Untersuchungen zu bemerkenswerten Verzerrungen geführt hat (S. 20).

Angesichts dieser Aufgabenstellung sind die fünfzig Seiten, in denen in Kapitel II die Forschungsgeschichte der letzten beiden Jahrhunderte in aller nötigen Kürze charakterisierend im Hinblick auf ihre Standortgebundenheit aufgearbeitet wird, mehr als berechtigt. Oschema setzt Einschnitte in der allgemeinen Geschichte der beiden letzten Jahrhunderte in Beziehung zu den Einschnitten bei den Forschungsfragen und -perspektiven. Ein wenig problematisch mag die über lange Phasen nur deutsche Perspektive sein – die slawischsprachige Perspektive etwa kommt nur hinein, wenn ein Autor wie Oskar Halecki Deutsch schreibt, Christopher Dawson wird trotz des Wissens um die keineswegs wörtliche Übersetzung deutsch zitiert.

Neben der Herleitung aus diesem forschungsgeschichtlichen Befund (S. 75–79) legen breitere Fragestellungen der heutigen Geschichtswissenschaft und die einfache Zugänglichkeit einer breiten Quellenbasis dank Digitalisierung (explizit ohne Anspruch auf Vollständigkeit) die Überprüfung älterer Forschungsergebnisse zu Europa nahe. Es geht Oschema dezidiert nicht darum, was man mit Blick auf jahrhundertelange Entwicklungs- und Rezeptionsgeschichte europäisch nennen könnte und welche Anfänge im Mittelalter zu uns geführt haben. Sondern für ihn steht (nicht ohne Seitenblicke zu werfen auf das, was anstelle von Europa Christenheit oder auch Occidens hieß und was sich immer wieder als eben ganz und gar nicht deckungsgleich herausstellt) in der Tat die „Praxis des Begriffsgebrauchs“ (S. 30) im Zentrum.

Wegen der enorm verbreiterten Quellenbasis muss Oschema allerdings auch wieder einschränken: Oft sind Beschränkungen auf einzelne Tiefenbohrungen nötig, Bilder in einem buchstäblichen Sinne werden in ein eigenes Kapitel verbannt (was besonders bei den Karten ein zweifelhaftes Vorgehen ist, sind sie doch so textgefüllt, dass sie nicht sinnvoll von geographischen Traktaten getrennt werden können) und literarische Texte werden bewusst ausgelassen. Das dürfte problematisch sein, weil es den Primat der Politikgeschichte möglicherweise durch die Hintertür wieder hereinholt, zumal die Digitalisierung von (edierten) Quellen auf früheren Editionsentscheidungen basiert. Das bedeutet, dass ganze Quellencorpora, die von der Forschung mit dem Primat der Politik vernachlässigt wurden, vor allem für das Spätmittelalter weiterhin massiv unterrepräsentiert sind. Zwar liegt Oschemas Untersuchungsschwerpunkt deshalb erklärtermaßen auf dem Früh- und Hochmittelalter, doch sucht er den Anschluss ans 16. Jahrhundert in der vollkommen richtigen Einschätzung, dass dann die Alternative „Europa“ in mehrfacher Hinsicht interessant, relevant und zum Begriff geworden ist. Die spätmittelalterliche Brücke aber hat leider Löcher. So legt Oschema völlig zu Recht auf prophetische Literatur als eine Gattung, in der politische Aussagen, Polemik, ja geradezu Memoranden zu finden sind, ein großes Gewicht. Doch ist gerade hier eine große Zahl von bekannten Texten bis heute ungedruckt geblieben, die Dunkelziffer der noch nicht bekannten Texte ist schwer einschätzbar. Andererseits scheinen gerade in der prophetischen (eschatologischen) Literatur (proto)nationale und lokalpatriotische Tendenzen einen besonderen Ort gefunden zu haben, und damit Gedankengut, das – wie Oschema anhand anderer Textgattungen feststellen kann – eher weniger zum Europabezug im Sinne einer idealen Heimat zu neigen scheint. Kurz und gut, die digitale Verfügbarkeit von Quellen droht neue Unsicherheiten und Verzerrungen nahezulegen.

Der Zugriff auf eine Entwicklungsgeschichte verlangt einen grundsätzlich chronologischen Aufbau, die Masse der Quellen und die große Zahl einerseits von „Bildern“, andererseits von Aspekten der Bedeutung verlangt sehr bald im Buch eine systematische Aufgliederung nach Sachgruppen und Typen von Begriffsnutzungen, die zu gewissen produktiven Wiederaufnahmen zwingt, aber auch zu Redundanzen, während man gleichzeitig die eine oder andere Doppelbenutzung von Quellen vermisst (so wenn die Notitia saeculi Alexanders von Roes nicht unter den prophetischen Schriften erscheint). Auch wenn weitere Tiefbohrungen erfolgversprechend gewesen wären (wie die Heiligen, eine Fundgrube für Fragen der Identifikation, die keine eigene systematische Position bekommen haben), hat Oschema hat für die Bewältigung der Quellenmassen eine grundsätzlich gute Lösung gefunden.

Nach Fragestellung und forschungsgeschichtlicher Problematisierung werden antike Bilder aufgegriffen, denen ein langes, intensives Leben beschieden sein sollte. Hier ist neben der phönizischen Prinzessin Europa und, seltener, dem König Europs vor allem die Aufteilung der Welt unter Noahs drei Söhne und ihre Nachkommen von zentraler, im gesamten Mittelalter omnipräsenter Bedeutung – eine Bedeutung, die sogleich auf einen wichtigen Aspekt des Europa-Wortgebrauchs hinweist, der sich durch das ganze Buch zieht: Europa ist sehr oft ein Erdteil von dreien, und davon nicht einmal der schönste, denn während Afrika ohne Zweifel den letzten Platz einnimmt, wird Asien aufgrund seiner Größe und Schönheit doch oft vor Europa geordnet.

Oschema überprüft die seit langem bekannten oder angenommenen Hochzeiten der Bedeutung „Europas“ im Mittelalter wie die Karolingerzeit, die Kreuzzugszeit, die mongolischen und osmanischen Bedrohungen und modifiziert zugleich Forschungsmeinungen über angeblich unwichtige Zeiten. Die Karolingerzeit sah, so Oschema, tatsächlich eine signifikante Zunahme an Bedeutung, aber es gab nicht die üblicherweise angenommene anschließende Verflachung zu einem rein geographischen Begriff, wenngleich Europa höchstens in der zweiten Reihe möglicher Benennungen blieb. Die herangezogenen Quellen zur Kreuzzugszeit geben wenig her außer einem kurzen Aufflackern von intensiver Benutzung des Begriffs ausgerechnet an der päpstlichen Kurie, die eigentlich auf die ganze Welt zugreifen wollte. Die Bedrohung durch Mongolen und Osmanen war wie bekannt Katalysator für mehr Bezug auf „Europa“ als gemeinsame Heimat, doch könne noch angesichts der Osmanen von einer klaren Regelhaftigkeit in der Bezugnahme auf Europa nicht die Rede sein (S. 299), auch wenn die solitäre Stellung Enea Silvios modifiziert werden kann (S. 306f.). Wenig überraschend ist die Bestätigung des Übergewichts religiöser Aspekte und damit der Christianitas bei der Identitätskonstruktion, wenig bemerkenswert auch für das Spätmittelalter (S. 291). Oschema lässt bei aller Feststellung „potentieller Sinnhaftigkeit“ Europas (S. 199) viel Vorsicht walten, zumal feststellbar ist, dass die Vermehrung der Europa-Belege nicht Schritt hält mit der markanten Ausweitung der Schriftlichkeit im Hochmittelalter (S. 219), wenngleich eine gesteigerte „Präsenz“ des Wortes durch die herangezogene Quellenmasse offensichtlich wird (so S. 328–330). Doch Europa war und blieb nur eine (zuweilen sehr) unwichtige Alternative, „Nostrifizierungen“ des Kontinents blieben die Ausnahme und die Bezeichnung „Europenses“ extrem selten. Überproportional viele Nennungen stammen aus Randgebieten wie Spanien und vor allem anderen England und Irland: Aus der Entfernung wirkt Europa eher als homogener Herrschaftsraum (und bedient daher Oschemas Augenmerk auf „Prozesse kognitiver Raumerfassung und -repräsentation“, S. 28).

Oschema kommt an vielen Stellen zu deutlichen Differenzierungen und interessanten Einsichten, aber insgesamt gilt weiterhin, was man schon in den 1950er-Jahren festgehalten hat (eine im Hinblick auf ältere Forschungsergebnisse eigentlich beruhigende Erkenntnis): Europa ist kein Begriff, der die mittelalterlichen „Europäer“ sonderlich umgetrieben hätte, doch die stupende Materialordnung erlaubt es nun, typologisch eine ganze Reihe von Gebrauchsfeldern festzuhalten, und bietet Anknüpfungspunkte für weitere Forschung (für die man sich wünschen würde, dass Oschemas Buch selbst bald elektronisch durchsuchbar wäre).

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