Nationalsozialistische Kriegsführung und Ernährungspolitik

: Den Krieg ernähren. Kriegsgerichtete Agrar- und Ernährungspolitik in sechs NS-Gauen des "Innerreiches" 1933 bis 1945. Hamburg 2015 : Verlag Dr. Kovač, ISBN 978-3-8300-8215-6 XIII, 470 S. 129,80

Dieckmann, Christoph; Quinkert, Babette (Hrsg.): Kriegführung und Hunger 1939–1945. Zum Verhältnis von militärischen, wirtschaftlichen und politischen Interessen. Göttingen 2015 : Wallstein Verlag, ISBN 978-3-8353-1492-4 294 S. € 20,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wigbert Benz, Karlsruhe

Beide hier vorzustellende Bände gehen von der in der Forschung seit 1997 durchgesetzten Annahme aus, dass das NS-Regime bei seinem angestrebten Krieg um die Vorherrschaft mindestens in Europa ein Ernährungsdesaster an der sogenannten Heimatfront wie am Ende des Ersten Weltkrieges unter allen Umständen vermeiden wollte und seine ernährungspolitischen Maßnahmen diesem Ziel unterordnete.1 In seiner 2013 von der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena angenommenen Dissertation untersucht Joachim Hendel die Bedeutung der NS-Gaue und ihrer Landesbauernführer für die ernährungswirtschaftliche Mobilisierung der Heimatfront. Zu diesem Zweck wertet er in erster Linie die in den betreffenden Landesarchiven verfügbaren Akten der sechs NS-Gaue Halle-Merseburg, Kurmark / Mark Brandenburg, Magdeburg-Anhalt, Mecklenburg, Sachsen und Thüringen aus.

Demgegenüber untersuchen die acht in Deutschland, den USA, Australien und England arbeitenden Historiker des von Babette Quinkert und Christoph Dieckmann herausgegebenen Sammelbandes das Zusammenwirken von strategischen, taktischen und logistischen Aspekten der Kriegführung und der jeweils konkreten situativen Bedingungen. Ob man dabei die 13 Millionen Opfer deutscher Massengewalt analytisch sauber von den zig Millionen weiteren Menschenopfern trennen kann, die der vom NS-Regime verursachte Krieg forderte, darüber kann man sich streiten. Die Herausgeber tun dies nach dem Kriterium Todesopfer „außerhalb von direkten Kampfhandlungen“ (S. 9) und stützen sich dabei auf entsprechende Kategorisierungen der Sekundärliteratur.2 Sie wenden sich gegen jede monokausale Betrachtungsweise als Erklärung für die Massengewalt und konzentrieren sich vorwiegend auf die Kriegsschauplätze in Osteuropa nach dem deutschen Überfall auf die UdSSR im Juni 1941, da dieser eine deutliche Zäsur zum Vernichtungskrieg darstellte und 90 Prozent aller Opfer im Zeitraum von 1941 bis 1945 ermordet wurden.

Die Beiträge dieses Sammelbandes zeigen in überzeugender Weise, wie sehr im Rahmen der rassistischen und antisemitischen Kriegführung die internen Debatten der Entscheidungsträger um die Konfliktthemen Arbeit und Ernährung kreisten. Es ging darum, einerseits genügend Zwangsarbeiter innerhalb des deutschen Machtimperiums mobilisieren zu können und gleichzeitig die Ernährungsbilanz zugunsten der Deutschen zu verändern.3 Zu diesem Zweck ließ man auch, wie der Beitrag von Philipp Rauh deutlich macht, Psychiatriepatienten in Deutschland massenhaft verhungern, nahmen sie doch, so Viktor Brack, einer der Organisatoren der NS-Euthanasie im April 1940, „nur anderen Menschen die Nahrung weg“ (S. 33). Das Scheitern des „Unternehmens Barbarossa“ innerhalb weniger Monate führte dazu, so David Stahels Analyse, dass sich die militärstrategischen Bedingungen grundsätzlich änderten und schon ab Ende August 1941 bei Hitler und der NS-Führung Überlegungen im Vordergrund standen, irgendwie eine akzeptable Ausgangsposition für 1942 zu erreichen. Damit konnten auch die ursprünglichen Planungen, nach dem binnen weniger Monate erwarteten Zusammenbruch des sowjetischen Staates und der Ermordung von dessen Führungsschicht viele Millionen Menschen der UdSSR als Nahrungskonkurrenten von Wehrmachtssoldaten und deutscher Bevölkerung dem Hungertod zu überlassen, nicht mehr voll umfänglich realisiert werden. Die territoriale Abriegelungspolitik zwischen sogenannten Überschuss- und Zuschussgebieten musste, wie Christoph Dieckmann differenziert darstellt, aufgegeben werden und ging in eine selektive Hungerpolitik gegenüber den Schwächsten, vor allem der jüdischen Bevölkerung und den sowjetischen Kriegsgefangenen, über. Die Zahl der Hungertoten lässt sich nicht genau bestimmen, lag aber „bei weit über vier Millionen“ (S. 119).

In seinem Beitrag zur Behandlung der ins Deutsche Reich verbrachten sowjetischen Kriegsgefangenen vertritt Rolf Keller die These, deren Massensterben sei nicht in erster Linie dem Zusammenspiel von Vernichtungsideologie und ökonomischen Sachzwängen geschuldet, sondern das Ergebnis einer Gemengelage von rassistischer Ernährungspolitik einerseits und rassistischer Arbeitskräftepolitik andererseits. Man habe die Kriegsgefangenen als Zwangsarbeiter einsetzen, aber die Ernährungsbilanz der Einheimischen nicht belasten wollen. Vor Ort hätten sich Kreisbauernführer, Landräte und Ernährungsämter im Interesse einer ausreichenden Arbeitsleistung durchaus für eine Erhöhung der Lebensmittelrationen eingesetzt, die aber derart schleppend verlief, dass „etwa die Hälfte der potentiellen Arbeitskräfte binnen weniger Monate ums Leben [kam], weil OKW, RAM und RMEL es nicht vermochten, eine ausreichende Versorgung sicherzustellen“ (S. 153).

Nicholas Terry gelingt es, in seinem Beitrag zu den Rückzugsverbrechen der Wehrmacht 1943/44 aufzuzeigen, wie sehr auch im Raum der Heeresgruppe Mitte die rassistische Selektion und Segregation nach Arbeitsfähigen und „nutzlosen Essern“ das Grundmuster deutschen Handelns im Besatzungsgebiet darstellte. Von rund zwei Millionen Zivilisten wurden 400.000 zur Zwangsarbeit eingesetzt. Landwirtschaftliche Arbeitskräfte wurden abgezogen. Als Folge lag ein Viertel aller landwirtschaftlichen Flächen in den Operationsräumen brach. Für die Ernährung der nicht arbeitenden Bevölkerung fühlte man sich nicht zuständig. Dies bildete den Hintergrund für die Massenverbrechen der Wehrmacht bei Osaritschi im März 1944 und Vitebsk im Juni 1944.

Joachim Hendel beleuchtet in seiner Dissertation die Wechselwirkungen zwischen der seit der Machtübernahme forcierten, auf Krieg orientierten Aufrüstung und dem Versuch der Ernährungssicherung an der sogenannten Heimatfront. Von Beginn an hätten alle ernährungspolitischen Maßnahmen den Widerspruch auszuhalten gehabt, dass die landwirtschaftliche Produktion zwar als wichtig für den zu führenden Krieg galt, aber eben nicht den Status als „kriegswichtiger Betriebszweig“ im Sinne einer mit der Rüstungsindustrie vergleichbaren Zuteilung von Ressourcen besaß (S. 380). Letztere genoss immer Priorität. So hatten die seit 1933/34 eingeleiteten Maßnahmen zur Steigerung der Agrarproduktion eher propagandistischen Charakter. Der Selbstversorgungsgrad mit Lebensmitteln konnte vor Kriegsbeginn lediglich von 80 auf 83 Prozent erhöht werden. Hitlers Denkschrift zum Vierjahresplan 1936 forderte darum als Ausweg die „Erweiterung des Lebensraumes bzw. der Rohstoff- und Ernährungsbasis unseres Volkes“ (S. 16). Im Krieg selbst wurden die als ehemalige Wahlkämpfer und Propagandisten aktiven Landesbauernführer zu Leitern der Landesernährungsämter, welche die Nahrungsmittelzuteilung in ihren Bereichen organisierten. Da die für Hendels Untersuchung ausgewählten sechs Landes- und Provinzialernährungsämter alle auch Hauptausbauzonen der Rüstungswirtschaft waren, kam es immer wieder zu erheblichen Konflikten mit anderen Behörden bei der Zuteilung von Zwangsarbeitern. So befahl etwa das Rüstungskommando der Wehrmacht in Mecklenburg im Dezember 1943, dass ein Drittel der von der Landwirtschaft kommenden Aushilfskräfte in der Rüstungsindustrie zu verbleiben hätten.

Hendel bringt in seiner mit knapp 1.500 Anmerkungen fast schon überladenen Studie eine Fülle von Belegen, wie die Landesernährungsämter und die ihnen untergeordneten lokalen Ernährungsämter trotz zentral gesteuerter Rationsvorgaben die reale Versorgung in den Arbeitslagern bestimmten. Offiziell hatten die Ernährungsämter vor Ort Kontrollen zur Aufdeckung von Missständen bei der Versorgung in den Arbeitslagern durchzuführen und diese dann an die Landesernährungsämter zu melden, die zusammen mit dem Gewerbeaufsichtsamt für die Behebung der Mängel zuständig waren. Die dabei getroffenen Entscheidungen waren oft willkürlich, auch von Rassismus geprägt. In Schmalkalden etwa wurde moniert, die Ostarbeiter seien in den Genuss zu „hochwertige[r] Fleischkonserven“ gekommen (S. 297), während demgegenüber das Ernährungsamt Arnstadt im März 1944 eine bessere Versorgung für unterernährte sowjetische Zwangsarbeiter initiierte, aber nur für den Zeitraum der kurzfristigen Errichtung eines Barackenlagers für die Verlagerung des Reichsbahn-Reparaturwerkes Erfurt.

Alles in allem betrachtet, so Hendels Resümee, hätten die Landesernährungsämter eine „Schlüsselfunktion“ bei der konkreten Ausgestaltung der „Agrar- und Ernährungspolitik, die auf Zwangsbewirtschaftung, Rationierung, Leistungsernährung, Ausplünderung, Ausbeutung und Terror basierte“, innegehabt. Diese habe es möglich gemacht, dass die deutsche Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg „sowohl im Vergleich zu anderen kriegführenden Ländern, als auch im Vergleich zum Ersten Weltkrieg am besten versorgt wurde“ (S. 397). Schade nur, dass diese nun gedruckt vorliegende Dissertation gut sechsmal so teuer ist wie der ebenso fundierte Sammelband von Dieckmann und Quinkert. Die Perspektiven beider Bände ergänzen sich hervorragend.

Anmerkungen:
1 Gustavo Corni / Horst Gies, Brot – Butter – Kanonen. Die Ernährungswirtschaft in Deutschland unter der Diktatur Hitlers, Berlin 1997; Adam Tooze, The Wages of Destruction. The Making and Breaking of the Nazi Economy, London 2006.
2 Christian Gerlach, Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert, München 2011.
3 Tooze, Wages, S. 513–551.

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