C. König: Flüchtlinge und Vertriebene in der DDR-Aufbaugeneration

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Titel
Flüchtlinge und Vertriebene in der DDR-Aufbaugeneration. Sozial- und biographiegeschichtliche Studien


Autor(en)
König, Christian
Erschienen
Anzahl Seiten
459 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tilmann Siebeneichner, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Christian Königs Studie über „Flüchtlinge und Vertriebene in der DDR-Aufbaugeneration“ schreibt sich programmatisch in die Tradition einer wegweisenden Studie ein: Kurz vor dem Zusammenbruch der DDR erschlossen Lutz Niethammer, Alexander von Plato und Dorothee Wierling mittels lebensgeschichtlich angelegter Interviews von Bürgern des „Arbeiter-und-Bauern-Staates“ die „volkseigene Erfahrung“ in der mitteldeutschen Industrieprovinz1. Diese „Untersuchungen in der DDR fokussierten auf das arbeiterliche Sozialmilieu im Spiegel persönlicher Lebenserfahrungen“, so resümiert König. Seine Studie konzentriert sich demgegenüber auf „individuelle Lebenserfahrungen der ‚Umsiedler‘ innerhalb der DDR-Gesellschaft“ (S. 378) und versucht damit Integrationsversuche und -formen von Flüchtlingen und/oder Vertriebenen in der Diktatur auszuloten.

Auf den über 400 Seiten seiner an der Universität Jena angefertigten Dissertation entfaltet der Verfasser dann auch ein detailliertes und vielschichtiges Panorama einer Bevölkerungsgruppe, die 1949 mit einer Zahl von etwa 4,3 Millionen gut 24 Prozent der DDR-Bevölkerung ausmachte. Königs Studie ist dabei umso verdienstvoller, als sie sich eines historischen Forschungsgegenstandes annimmt, der in den DDR-Archiven nach 1950 im Grunde nicht mehr aufzufinden ist: Um sich, insbesondere auch in der deutsch-deutschen Konkurrenz, als fähiges und fortschrittliches System präsentieren zu können, erklärte die SED die Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen – die in der DDR mit dem Begriff des „Umsiedlers“ bezeichnet wurden – bereits Ende der 1940er-Jahre für abgeschlossen. Der Begriff selbst wurde zunächst um den Zusatz „ehemalige“ erweitert. In der Folge verschwand er aber aus der Amtssprache und den Medien, sodass sich die unter diesem Begriff erfasste Überlieferung der SED-Diktatur auf die 1940er- sowie die erste Hälfte der 1950er-Jahre beschränkt (S. 19). Eine erklärte Absicht der Studie besteht deshalb auch darin, „neues ‚Material‘ mittels lebensgeschichtlicher Befragungen zu heben“, um auf diese Weise „die zeitliche Limitierung der archivarischen Quellen“ aufzubrechen und eine „Langzeitperspektive“ auf die vielfältigen „Neuorientierungs- und Verortungsprozesse“ der Umsiedler in der DDR zu entwickeln (S. 83).

Formal folgt Königs Studie weitgehend dem Vorbild der Studie Niethammers, von Platos und Wierlings. Hauptteil – und Herzstück – seiner Untersuchung bilden rund 50 „Personenbilder“. Zugrunde liegen diesen vom Autor in Thüringen und Eisenhüttenstadt durchgeführte Interviews, ferner Interviews, die im Rahmen der Untersuchung zur „volkseigenen Erfahrung“ erhoben worden sind, sowie Interviews und (Auto-)Biographien von mehr oder weniger prominenten Angehörigen der DDR-Aufbaugeneration mit Flüchtlings- und/oder Vertriebenenhintergrund. Ihnen vorangestellt ist ein einleitender Teil, in dem König einerseits die historischen Hintergründe und Aufarbeitungsversuche von Flucht, Vertreibung und Integration in der DDR vorstellt und andererseits theoretische und methodische Grundlagen von Gedächtnisforschung, Oral History und dem Problem der Generation erörtert. Dass es ihm auch darum geht, die Jahrgänge 1925 bis 1935 als eine eigenständige Generationseinheit – im Sinne Karl Mannheims – innerhalb der DDR-Aufbaugesellschaft zu identifizieren und zu charakterisieren, wird jedoch eigentlich erst im abschließenden, der Analyse und Zusammenfassung gewidmetem Teil deutlich (S. 425).

Große Sorgfalt widmet der Autor dem Nachweis, dass „die Erfahrungen der Flucht, der Vertreibung oder zwangsweisen ‚Aussiedlung‘“ biographiebestimmende Ereignisse der um 1930 Geborenen bildeten, die sie „in gewisser Weise von ihren übrigen Altersgenossen abhoben“ (S. 388). Tatsächlich kann mit Mannheims Begriff der Erlebnisschichtung behauptet werden, dass nicht nur gewisse Ereignisse entscheidenden Einfluss auf individuelle Bewusstseinsbildung haben können. Vielmehr sind Individuen in spezifischen Lebensphasen auch empfänglicher dafür, sich von solchen Ereignissen auf bestimmende und potentiell generationsstiftende Art und Weise prägen zu lassen2. Wie insbesondere die jüngere, an Karl Mannheim anknüpfende Generationenforschung gezeigt hat, lässt sich jedoch – will man eine essentialisierende Begriffsbildung vermeiden – erst dann von Generation sprechen, wenn die unter diesem Begriff gefassten Individuen diesen Begriff auch selbst benutzten und sich affirmativ zu ihm verhielten3. König arbeitet hingegen heraus, dass über das offenbar generationenformierende Ereignis der Flucht und/oder Vertreibung in der DDR so gut wie gar nicht gesprochen wurde: in der Öffentlichkeit seit den frühen 1950er-Jahren aufgrund der politischen Vorgaben ohnehin nicht mehr, in mehr oder weniger vertrautem Kreise allerdings auch nur bedingt, wie der Verfasser etwa am Beispiel des Zeitzeugen Helmut Müller zeigt (S. 179 f.).

Dass König folglich von einer „stumme[n] Vergemeinschaftung“ spricht (S. 426), ist deshalb nur konsequent. Es wirft jedoch die Frage auf, ob diese Begriffsschöpfung äquivalent zum Begriff der „stillen Generation“ gemeint ist4. Zudem bleibt offen, wie diese Generationengemeinschaft über die vielfältigen, in den einzelnen Personenbildern geschilderten individuellen Verarbeitungs- und Selbstverortungsprozesse hinaus in der DDR wirkmächtig wurde. Zudem zeigt sich – nicht zuletzt aufgrund von Königs Systematik, die zwischen Personenbildern des öffentlichen Lebens einerseits und „Normalbürgern“ andererseits unterscheidet – ein durchaus widersprüchliches Generationenprofil: Für die in Amt und Würden gelangten um 1930 Geborenen, die einen Flüchtlings- und/oder Vertriebenenhintergrund besaßen, blieb ihre Herkunft zu Zeiten der DDR durchweg bedeutungslos. Demgegenüber hätten die „Normalbürger“ ihrer „gewaltsame[n] ,Aussiedlung‘ einen größeren Stellenwert bei[gemessen] (S. 407 f.)“. Der Stellenwert, den die Betroffenen ihrem biographischen Hintergrund zusprachen, sei im Einzelnen, so die These des Verfassers, von ihrer gesellschaftlichen Position abhängig gewesen: „Je höher die politische Stellung war, umso stärker wird ein politisch-ideologisch geprägtes Integrationsnarrativ erzählt“, in dem der eigenen Flucht- und Vertreibungserfahrung kaum Bedeutung zukommt. Die ‚Normalbürger‘ präsentierten hingegen eine „betont unideologische, stärker materiell orientierte und teilweise distanzierende Integrationserzählung“, die vergleichsweise stärker auf dieses Moment fokussiert bleibt (S. 409).

Die vorliegende Untersuchung rekonstruiert mithin eine gewissermaßen „volksfremde“ (Generationen-)Erfahrung, die nur bedingt mit jenem emphatischen Eintreten für den Aufbau des „Arbeiter-und-Bauern-Staates“ identisch war, das gemeinhin als charakteristisch für die DDR-Aufbaugeneration angeführt wird. Die Stärke dieser Arbeit liegt eindeutig in ihrer Differenzierungsleistung: Eingehend und umsichtig untersucht König intragenerationelle Dynamiken und (Selbst-)Deutungsversuche und trägt auf diese Weise zu einem vielschichtigeren Bild einer Generation bei, die bislang weitgehend undifferenziert als staatstragend wahrgenommen worden ist. Nicht zuletzt löst die Studie den selbstgesteckten Anspruch ein, Wahrnehmungen, Erfahrungen und Selbstbeschreibungen der Betroffenen zusammenzutragen und erweist sich auf diese Weise als unverzichtbares Hilfsmittel für jeden, der sich mit Flucht, Vertreibung und deren Verarbeitungsformen in der DDR-Gesellschaft auseinandersetzt.

Die Arbeit versteht sich als biographisch-sozialgeschichtliche Studie und sollte auch an diesem Anspruch gemessen werden. Gleichwohl ist es bedauerlich, dass der Verfasser kaum neuere Arbeiten zur Generationenforschung hinzugezogen hat.5 Diese hätten dazu beitragen können, Königs Befund einer „stummen Vergemeinschaftung“ in der aktuellen Diskussion zu verorten und die oben aufgezeigten Widersprüche angemessener zu konzeptualisieren als dies im fast ausschließlichen Rückgriff auf den Klassiker Mannheim möglich ist.

Anmerkungen:
1 Lutz Niethammer / Alexander von Plato / Dorothee Wierling, Die volkseigene Erfahrung. Eine Archäologie des Lebens in der Industrieprovinz der DDR, Berlin 1991.
2 Karl Mannheim, Das Problem der Generationen, in: ders., Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hrsg. von Kurt H. Wolff, Neuwied 1964 (erstmalig: 1928), S.509–565, hier: S.536.
3 Vgl. dazu: Björn Bohnenkamp / Till Manning / Eva-Maria Silies (Hrsg.), Generation als Erzählung. Neue Perspektiven auf ein kulturelles Deutungsmuster, Göttingen 2009.
4 Vgl. zum Begriff der „stillen“ bzw. „silent“ Generation: Elwood Carlson, The Lucky Few: Between the Greatest Generation and the Baby Boom, New York 2008 und Eva-Maria Silies, Liebe, Lust und Last. Die Pille als weibliche Generationserfahrung in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen 2010.
5 Vgl. etwa: Benjamin Möckel, Erfahrungsbruch und Generationsbehauptung. Die „Kriegsjugendgeneration“ in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften, Göttingen 2014 oder die Beiträge in: Kirsten Gerland / Benjamin Möckel / Daniel Ristau (Hrsg.), Generation und Erwartung. Konstruktionen zwischen Vergangenheit und Zukunft, Göttingen 2013.

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