M. Rohrschneider: Österreich und der Immerwährende Reichstag

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Titel
Österreich und der Immerwährende Reichstag. Studien zur Klientelpolitik und Parteibildung (1745–1763)


Autor(en)
Rohrschneider, Michael
Reihe
Schriftenreihe der Historischen Kommission bei Bayerischen Akademie der Wissenschaften 89
Erschienen
Göttingen 2014: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
395 S.
Preis
€ 69,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sébastien Schick, Universität Paris 1 Panthéon-Sorbonne

Ein Buch über die „Klientelpolitik und Parteibildung“ Österreichs am Immerwährenden Reichstag zwischen 1745 und 1763 zu schreiben, bedeutet heute immer noch, sich einem „ungewöhnlichen Thema“1 zu widmen. Durch ihre Thematik, ihre Methoden und ihre Perspektive stellt die Arbeit von Michael Rohrschneider deshalb eine Wende in der Reichsgeschichte dar: Erstens, weil der an der Universität zu Köln tätige Historiker den seit ein paar Jahren besser erforschten Immerwährenden Reichstag nicht als solchen, sondern als einen der wesentlichen Orte der Konkurrenz zwischen Preußen und der Habsburger Monarchie analysiert, an dem jede der beiden Mächte versuchte, Klienten im Reich an sich zu binden. Zweitens, weil er dabei die „informellen Strukturen, Netzwerke und Spielregeln“ (S. 18) der Reichspolitik beobachten will: Michael Rohrschneider stützt sich auf die Arbeiten Wolfgang Reinhards zu den „Verflechtungen“ und zur päpstlichen Mikropolitik, um sie auf den Rahmen der Reichsgeschichte zu übertragen und so die Frage nach der Funktionsweise des Reichsverbandes neu zu bewerten. Der dritte Grund dafür, Rohrschneiders Buch mit einer Wende in der Reichsgeschichte in Verbindung zu bringen, liegt darin, dass er diese Bewertung quasi aus österreichischer Sicht vornimmt. Dies erscheint umso wichtiger, als die Geschichtsschreibung das Reich viel seltener von Wien aus betrachtet hat. Die Frage nach der Bildung einer reichsständischen Anhängerschaft Österreichs im Reich ist deshalb besonders relevant, weil damit die Frage nach dem Einfluss und der Macht Österreichs in Zeiten des preußisch-österreichischen Dualismus untersucht werden kann. Der Autor unterscheidet dabei die „Partheyen“, die er im Anschluss an Susanne Friedrich als durch die „Übereinstimmung mehrerer Stände hinsichtlich fundamentaler Interessen“ (S. 27) formiert sieht, und die Klientel, welche sich, so Reinhard, in einer „persönlichen, dauerhaften, asymmetrischen und reziproken Tauschbeziehung“ (S. 26) zu einem Patron befanden. Beide Personengruppen wiesen folglich Schnittmengen auf, jedoch ohne völlig übereinzustimmen.

Am Ende einer sehr anregenden Einführung definiert Rohrschneider zusammenfassend als Ziel seiner Arbeit, zu untersuchen, „ob und inwiefern Klientelpolitik und Parteibildungsbemühungen Österreichs Strukturmerkmale des Geschehens auf dem Regensburger Reichstag […] waren und wie das Regensburger Parkett durch Parthey-Konstellationen und Klientelverbände geprägt wurde“, was die „generelle Frage nach der Anhängerschaft Wiens im Reich“ aufwerfe (S. 30–31). Um diese Fragen zu beantworten, stützt sich der Autor vor allem auf die Korrespondenzen zwischen den Reichstagsgesandten und der Wiener Zentrale, aber auch auf verschiedene Schriftsätze (Promemorien, Protokolle usw.) und Bestände, die es ihm ermöglichen, die Perspektive zweier Klienten, des Hauses Thurn und Taxis und des Hauses Anhalt, einzubeziehen.

Ein erstes kurzes Kapitel widmet sich der Vorstellung der Rahmenbedingungen der österreichischen Reichstagspolitik (S. 35–97). Hier betont der Autor, dass der Raum des Reiches das Ziel und die Verteidigung der mindermächtigen Reichsstände das Mittel österreichischer Machtpolitik blieb. Die Vorstellung der Reichstagsgesandtschaften Franz I. und Maria Theresias bietet die erste Gelegenheit, den Reiz der akteurszentrierten Perspektive zu zeigen, weil mit dem Prinzipalkommissar, dem Konkommissar und den verschiedenen Gesandten (für Österreich, Böhmen et cetera) mehrere Persönlichkeiten, die zum Teil unterschiedliche Beziehungen, Patrone und auch Interessen hatten, seitens der Habsburger in Regensburg tätig waren. Dies konnte zu Konkurrenzsituationen führen, wie das Beispiel des Prinzipalkommissars Alexander Ferdinand von Thurn und Taxis und des Konkommissars von Palm zeigt, der deshalb 1754 von seinem Amt zurücktreten musste.

Der zweite und wichtigste Teil der Arbeit erforscht die konkrete Klientelpolitik und Parteibildung der Österreicher am Immerwährenden Reichstag. Rohrschneider beginnt mit wichtigen Elementen zum „bipolaren Wahrnehmungsmuster“ der Akteure in Regensburg, die das Geschehen stets durch das Entschlüsselungsthema zweier sich gegenüberstehender „Partheyen“ analysierten: die der „Gutgesinnten“ auf der einen, die der „Widriggesinnten“ – je nach Zeitfenster die Anhänger Frankreichs oder Preußens – auf der anderen Seite. Hier könnte man fragen, ob die traditionelle Vorstellung eines preußisch-österreichischen Dualismus nicht auch ein Ergebnis dieser bipolaren Wahrnehmung, also einer sehr instrumentellen Sicht, sein könnte, die jeden, was auch immer seine Beziehungen und Motivationen waren, als Gegner oder Befürworter verstand, und so die beiden „Partheyen“ vergegenständlichte. Hatte nicht auch England, um nur ein Beispiel zu nennen, eine Art „Parthey“ im Reich der 1750er-Jahre, wenn man das Reich aus Londoner Perspektive betrachtet?2

Dass Preußen sowie Österreich sich aber viel Mühe gaben, in den verschiedenen Institutionen und auf den unterschiedlichen Staatsebenen einen Kreis von Klienten und Parteigängern an sich zu binden und dass Regensburg dabei eine zentrale Bedeutung zukam, wird eindringlich geschildert, bevor die Namen derjenigen, die Wien zu den „Gutgesinnten“ oder zu den „Widriggesinnten“ in Regensburg zählte, genannt werden. Die formellen wie informellen Praktiken (zum Beispiel gemeinsame Festbanketts oder Jagdausflüge) sowie die Ressourcen (Heiraten, Aufnahme in einen Orden, Standeserhöhungen…), die dazu dienten, eine getreue Anhängerschaft zu gewinnen bzw. zu mobilisieren, werden anschließend geschildert. Dem Autor gelingt es dabei, diese traditionellen und zum größten Teil bekannten Tauschpraktiken im spezifischen Kontext der reichspolitischen Debatten der 1750er-Jahre aufzugreifen und so mit viel Gewinn für seine Darstellung zu nutzen.

Die zwei letzten Kapitel ermöglichen einen Perspektivwechsel, indem die Problematik nicht mehr von Wien, sondern von den Klienten aus gesehen wird, und zwar dem Fürsten Alexander Ferdinand von Thurn und Taxis und den Fürsten von Anhalt. Im ersten Fall wird deutlich, wie vorteilhaft die Lage Wiens insofern war, als es den Habsburgern durch die Erhebung Alexander Ferdinands von Thurn und Taxis in den Reichsfürstenstand im Jahre 1754, die nur mit Mühe und unter Einsatz vieler verschiedener Ressourcentypen erlangt wurde, gelang, den Fürsten endgültig und ohne denkbare Umkehr an sich zu binden. Der zweite Fall erlaubt es, einen protestantischen Fürsten, der traditionsgemäß sehr vom preußischen König abhängig war, genauer zu studieren. Interessant ist dabei, dass Heinrich Karl von Pfau, Reichstagsgesandter des Fürsten von Anhalt, in den entscheidenden Beratungen des Reichsfürstenrats vom Januar 1757 über das Vorgehen Preußens ein nur sehr vages Votum abgab, das kaum als Unterstützung Berlins gelten konnte. Dies erklärt Rohrschneider sehr überzeugend mit der Einbindung Pfaus in der österreichischen Klientel: Der Senior des Hauses Anhalt, Fürst Victor Friedrich von Anhalt-Bernburg, musste zwar nach dem preußischen Protest, der sofort folgte, Pfau zurückberufen. Pfaus Verflechtungen hätten es dem Fürsten aber weiterhin ermöglicht, in dieser heiklen Kriegszeit zwischen Berlin und Wien zu lavieren.

Auf die zu Beginn gestellte Frage, ob Wolfgang Reinhards mikropolitisches Modell auf die Reichspolitik im 18. Jahrhundert übertragen werden kann, ist im Ergebnis mit einem klaren "Ja" zu antworten. In diesem Sinn stellt Michael Rohrschneiders Buch einen sehr bedeutsamen Beitrag für die Reichsgeschichte dar: Abseits von den Fragen über die Natur des Reiches und die verschiedenen Ebenen seiner Staatlichkeit werden durch die Analyse der Verflechtungen seiner Mitglieder die verschiedenen Staatsebenen und Akteure als eine Gesamtheit, als ein „System“ analysiert. Es stellt sich freilich die Frage, ob nicht auch die Möglichkeit besteht, das Reich über eine Erweiterung der Quellenbasis und der Korrespondenztypen auch in seinen europäischen Verflechtungen stärker in den Blick zu nehmen und es so in die europäische Geschichte zurückzubinden. Verflechtungen hatten schließlich definitionsgemäß weder staatliche noch institutionelle Grenzen. Es bleibt das große Verdienst dieses Buches, einen zum größten Teil neuen Weg zu beschreiten, von dem man noch nicht weiß, wohin er führen wird, der aber ohne Zweifel ein großes heuristisches Potenzial enthält.

Anmerkungen:
1 Volker Press, Patronat und Klientel im Heiligen Römischen Reich, in: Antoni Maczak (Hrsg.), Klientelsysteme im Europa der Frühen Neuzeit, München 1988, S. 19–46, S. 19.
2 zum Beispiel Brendan Simms, Three victories and a defeat. The rise and fall of the British Empire, 1714–1783, London 2007.

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