Titel
Die Kunst gehört dem Volke?. Volkskunst in der frühen DDR zwischen politischer Lenkung und ästhetischer Praxis


Autor(en)
Kühn, Cornelia
Reihe
Zeithorizonte 14
Erschienen
Münster 2015: LIT Verlag
Anzahl Seiten
395 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Gerd Dietrich, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

„Die Heimat lieben, von der Heimat singen, die Heimat verteidigen“. Das war das Motto der Landesausscheide der Volkskunstgruppen 1952. Die Besten und die Sieger fuhren zum Endausscheid und Wettbewerb der I. Deutschen Festspiele der Volkskunst, die mit 5.506 Gruppen und 2.042 Einzelschaffenden aus ganz Deutschland vom 4. bis 6. Juli 1952 in Berlin stattfanden. Ein Fest voller nationalem Pathos in der Hochzeit des Kalten Krieges. Denn auch die Volkskunst sollte zum Einsatz kommen im Kampf gegen den „Kult des Hässlichen und Unmoralischen“, gegen die „Gangstermoral und Pornographie“ der „formalistischen“ Kunst im Westen. Deutsche Volkslieder und -tänze als Gegenmodell zur amerikanischen Kulturindustrie. Das fand in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Ost und West Unterstützung.

Cornelia Kühn geht der Rolle der Volkskunst, oder genauer: dem laienkünstlerischen Volkskunstschaffen – im Unterschied zur beruflichen Volkskunst, die es ja auch in der DDR gab –, in den fünfziger Jahren nach. Ihre Studie bewegt sich auf drei Ebenen: der kulturpolitischen Programmatik der SED, der Qualifizierung und Tätigkeit der mittleren Funktionäre und Leiter der regionalen und lokalen Kulturarbeit sowie der Praxis und Erfahrung der Volkskunstgruppen. Freilich werden diese drei Ebenen nicht gleichwertig behandelt. Der Fokus liegt auf jener mittleren Ebene, die bisher kaum untersucht worden ist. Hier können beachtliche neue Forschungsergebnisse vorgelegt werden, denn Cornelia Kühn hat die umfangreichen Archivmaterialien des Zentralhauses für Laienkunst in Leipzig systematische ausgewertet, die im Archiv der Akademie der Künste lagern. Dieses Zentralhaus wurde am 25. Januar 1952 eröffnet. Organisatorisch war es der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten und danach dem im Januar 1954 gebildeten Ministerium für Kultur unterstellt. Seine wichtigsten Aufgaben waren die Konzipierung und Anleitung der Laienkunstbewegung sowie Forschung auf dem Gebiet der Folklore und Volkskunde. Ab 1954 trug es den Namen Zentralhaus für Volkskunst, ab 1960 Zentralhaus für Kulturarbeit. Die Namensänderungen standen jeweils auch für Wandlungen in den kulturpolitischen Konzepten.

Die inhaltlichen Vorgaben für die Laienkunstgruppen und -zirkel veränderten sich danach wie folgt: Zu Beginn der fünfziger Jahre sollten sie vorrangig „bekannte Arbeiterkampflieder und Werke des sozialistischen Realismus“ aufführen und sich an der Berufskunst orientieren. Laienkunst wurde zu dieser Zeit als gleichwertig mit der Berufskunst anerkannt. Ab 1952 wurde dann auch die „echte“ und „traditionelle“ Volkskunst in das kulturpolitisch anerkannte Repertoire aufgenommen. Sie sollte nach inhaltlichen Kriterien ausgewählt und nach regionaler Herkunft weiterentwickelt werden. Man glaubte, damit Massenwirksamkeit erreichen zu können. Dabei wurde sowohl von der forciert stalinistischen Politik der Staatlichen Kunstkommission als auch von der betont liberalen des Kulturministeriums auf die traditionelle Volkskunst Wert gelegt – wenn zwar aus unterschiedlichen politischen Gründen: zum einen Volkskunst als Pflege des kulturellen Erbes, zum anderen Einsatz der Volkskunst in der aktuellen nationalen Kampagne. Allerdings schlossen sich beide Aspekte wechselseitig nicht aus. Dieses Problem hätte wohl eine eigene Betrachtung verdient. Auch würde ich die Pflege des klassischen Kulturerbes nicht als kommunistische Extremposition, sondern eher als bildungsbürgerliches Konzept interpretieren. Ab 1957 aber wurden die Volkskunsttraditionen nicht mehr als Basis für eine Weiterentwicklung der Laienkunst angesehen. „Eine sozialistische Volkskunst sollte sich, wie der sozialistische Realismus in der Kunst auch, an der Gegenwart orientieren.“ Die Neubelebung von Agitprop-Gruppen galt nun „als der einzig richtige Weg der Weiterentwicklung der Volkskunst“ (S. 273f.). Wenig später setzte die Bitterfelder Konferenz 1959 dann höhere Maßstäbe für die malenden, musizierenden, schreibenden, singenden, tanzenden, Kabarett und Theater spielenden Arbeiter und Bauern, in denen Heimatlieder und Volksbräuche keine Rolle mehr spielen sollten. Dass zur gleichen Zeit eine professionelle volkstümliche Unterhaltung aufkam, spielt in der Studie keine Rolle.

In der Praxis der lokalen Volkskunstzirkel, einmal abgesehen von den besonders geförderten großen Betriebsensembles, und vor allem bei den meisten Chören und Volkstanzgruppen sah es anders aus. Da wurde das traditionelle Repertoire gepflegt und die kulturpolitischen Einflüsse wurden zumeist abgewehrt. Das brachte den Laienkünstlern immer wieder Vorwürfe des Spießbürgertums, des Unpolitischen und der Vereinsmeierei ein. Bei allzu großem ideologischem Druck zogen sie sich auch aus der Öffentlichkeit zurück. Die Gruppen verloren an Mitgliedern, sie lehnten die einseitige Orientierung auf Spitzengruppen ab und Sängerinnen und Sänger gingen zu den Kirchenchören über. Versuche einer Pluralisierung der Volkskunstarbeit scheiterten 1956, und in Fachkreisen sprach man im gleichen Jahr von einer Stagnation der Volkskunstbewegung. Die ideologische Wende zur sozialistischen Kulturrevolution, Volkskunst als sozialistische Erziehungsarbeit ab 1957 stieß bei vielen Volkskünstlern auf Ablehnung und Unverständnis. Das alles erfahren wir mehr oder weniger nebenbei. Denn das Forschungsinteresse Cornelia Kühns liegt vor allem „in der Beschreibung der Praxen und Prozesse bei dem Versuch, die traditionelle Volkskunst als eine Form der politischen Kulturarbeit in der frühen DDR zu verwenden und dieses Konzept nicht nur institutionell sondern auch massenwirksam durchzusetzen“ (S. 12). Dabei hat sie die Vielstimmigkeit des historischen Feldes im Auge. „Mit dem Fokus auf die mittlere Ebene der Kulturfunktionäre und der in der Kulturarbeit beschäftigten Akteure und auf deren Praxis der Aushandlungen mit der kulturpolitischen Programmatik richtete sich der Blick auf den Transfer der kulturpolitischen Konzepte als kulturell orientierendem Wissen.“ (S. 15) Mit dieser Forschungsperspektive leistet sie einen wichtigen Beitrag, die Interaktion von Herrschaft und Gesellschaft wie auch die Grenzen der Diktatur auf der mittleren kulturpolitischen Ebene zu konkretisieren.

Die Arbeit ist chronologisch aufgebaut, in acht Kapitel untergliedert und auf die fünfziger Jahre eingegrenzt. Sie wurde am 13. März 2013 als Dissertation an der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin anerkannt. Das erste Kapitel „Zwischen humanistischer Tradition und sozialistischem Bestreben: Die neue Konzeption von Kultur und Gesellschaft“ behandelt das gesellschaftliche Verständnis der neu gegründeten DDR, kulturpolitische Traditionen der Arbeiterbewegung und das Konzept von Kulturarbeit. Im zweiten Kapitel „Der Aufbau einer ‚demokratischen Volkskultur’: Die Institutionalisierung der Laienkunst“ geht es um die III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Berlin 1951, die Gründung des Zentralhauses für Laienkunst und die gesamtdeutschen Festspiele der Volkskunst 1952. Das dritte Kapitel „Der ‚planmäßige Aufbau des Sozialismus’: Volkskunst als ideologische Erziehungsmaßnahme“ stellt die hierarchische Struktur der Anleitung, divergierende Konzepte der Vermittlung und die Veränderungen in der organisatorischen Anbindung der Volkskunstgruppen dar. Im vierten Kapitel „Der ‚neue Kurs’ in der Volkskunstbewegung: Überlegungen zu Gestaltung und ästhetischer Praxis in der Volkskunst“ werden die kulturpolitischen Reformen im Sommer 1953, die veränderte Methodik der Anleitung durch die Gründung der Bezirkshäuser für Volkskunst 1954 und Differenzen in der Konzeption aufgezeigt. Das fünfte Kapitel „‚Kunst ohne Zonengrenzen‘: Die Inszenierung der Volkskunst im Kalten Krieg“ beschäftigt sich mit der kulturpolitischen Propaganda, Gastspielen ostdeutscher Volkskünstler in Westdeutschland und den ab 1954 aufwändig organisierten gesamtdeutschen Treffen in der DDR, wie dem Deutschlandtreffen der FDJ in Berlin, den Sängertreffen auf der Wartburg und den Volkstanzfesten in Rudolstadt. Wobei es hier natürlich nicht um Außen-, sondern um Deutschlandpolitik ging. Im sechsten Kapitel „‚Krise und Stagnation in der Volkskunstentwicklung’: Debatten um die Konzeption der Volkskunst“ stehen die Fragen zur Weiterentwicklung bzw. Modernisierung der Volkskunst von 1955/56 zur Diskussion: Niveauerhöhung oder Breitenwirkung, Belehrung oder Bedürfnis, Tradition oder Agitprop? Das siebte Kapitel „Die ‚sozialistische Volkskunstbewegung’: Das Ende der Traditionspflege und der Beginn der sozialistischen Kulturrevolution“ gibt die Orientierungen auf Agitation und Propaganda, Parteilichkeit und ideologische Erziehung von 1957, das Volkskunstaufgebot von 1958 sowie die Versuche einer sozialistischen Umwandlung von Volkstanz und Tanzmusik (Gesellschaftstanz) wieder. Es zeigt den schwierigen Spagat der Kabinettsleiter zwischen traditioneller Volkskunst und sozialistischer Ideologie und die Probleme der Volkskunstforschung zwischen Wissenschaftlichkeit und Anwendungsorientierung. Im achten Kapitel „Eine ‚sozialistische Nationalkultur’: Die Bitterfelder Konferenz und die neue Konzeption einer sozialistischen Kulturarbeit“ werden der „bittere Feldweg“ als vorgeblich „wahrhafte Volkskultur“, die Arbeiterfestspiele, der Lipsi-Tanz und das Konzept sozialistischer Unterhaltung sowie die Umwandlung der Institutionen beschrieben.

Cornelia Kühn resümiert, dass mit dem Wechsel zu gegenwartsorientierten Themen in der Kulturarbeit seit 1957/58 das Konzept der Traditionspflege an Wirksamkeit verlor. Zugleich musste die Kulturpolitik mit der Legitimierung populärer Formen geselliger Unterhaltung dem Freizeitverhalten der Bevölkerung nachgeben. „Der Begriff ‚volkstümlich’ wurde nunmehr von der Kulturpolitik negativ besetzt und als ‚konservativ’ und ‚rückwärtsgewandt’ interpretiert [...] [und] der Rückgriff auf die Tradition beendet.“ (S. 367) Ein Kurswechsel und eine Neubewertung der Volkskunsttradition fanden danach erst wieder in den siebziger Jahren statt. Mit dem analytischen Fokus auf die Interaktionen der verschiedenen, durch das Zentralhaus für Laienkunst / Volkskunst / Kulturarbeit verbundenen Akteure konnte Cornelia Kühn die Intentionen der marxistischen Volkskunstforscher als Ideengeber wie Widersacher kulturpolitischer Orientierungen, der künstlerischen Leiter der Volkskunstzirkel als Vermittler und vor allem die Debatten zwischen den lokalen Leitern der Volkskunstkabinette und den hierarchisch übergeordneten Funktionären des Zentralhauses, des Kulturministeriums und der ZK-Kulturabteilung nachzeichnen. Damit zeigte sie nicht nur die Divergenzen zwischen den zentralen kulturpolitischen Direktiven und der Praxis der lokalen Volkskunstgruppen, sondern auch die Ambivalenzen, Einflüsse und Zwänge auf, in denen sich die verschiedenen Akteure befanden. Die wechselseitigen Abhängigkeiten ließen zugleich Freiräume entstehen und ermöglichten Aushandlungen und Umdeutungen. Mit der Darstellung dieses historischen Feldes weist Cornelia Kühn überzeugend nach, dass der angestrebte Herrschaftsanspruch der SED schon auf der mittleren Ebene der anleitenden Kulturinstitutionen zugunsten einer Vielzahl von Akteuren aufgelöst wurde.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/