H. Hahn (Hrsg.): Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft

Titel
Beschreibungsversuche der Judenfeindschaft. Zur Geschichte der Antisemitismusforschung vor 1944


Herausgeber
Hahn, Hans-Joachim; Kistenmacher, Olaf
Reihe
Europäisch-jüdische Studien, Beiträge 20
Erschienen
Anzahl Seiten
486 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Haury, Freiburg

Eine sozialwissenschaftliche Theoriebildung zum Antisemitismus sowie eine Erforschung antisemitischer Erscheinungsformen begann, so die allgemein geteilte Auffassung, ab den 1940er-Jahren. Angesichts des staatlich betriebenen mörderischen Antisemitismus im nationalsozialistischen Deutschland formulierten Jean-Paul Sartre, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno im Jahr 1944 unabhängig voneinander die bis heute grundlegende Einsicht, dass das reale Leben und Tun der Juden für den Antisemitismus selbst wie für seine Erklärung irrelevant sind. Sartre formulierte dies am pointiertesten: „Existierte der Jude nicht, der Antisemit würde ihn erfinden”.1

Doch erste kritische Beschreibungen der Judenfeindschaft finden sich bereits ab dem Ende des 18. Jahrhunderts; parallel zum Erstarken des modernen Antisemitismus entstanden ab der Wende zum 20. Jahrhundert zunehmend mehr und auch sozialwissenschaftlich orientierte Versuche einer Erklärung des Phänomens. Wichtige dieser zu weiten Teilen heute vergessenen Anfänge und Autoren wieder präsent zu machen, ist das Anliegen des von Hans-Joachim Hahn und Olaf Kistenmacher herausgegebenen Sammelbandes zur Geschichte der Antisemitismusforschung vor 1944. Als Beitrag zu einer „Genealogie” der Antisemitismustheorie, so die Herausgeber in ihrem Vorwort, soll in drei chronologischen Schritten rekonstruiert werden, welche theoretischen Einsichten sich bereits in den Schriften früherer Autoren finden, an die neuere Forschungen hätten anknüpfen können beziehungsweise auf welche sie zum Teil implizit aufbauten.

Der erste Teil des Sammelbandes behandelt die Zeit der Aufklärung. Agnieszka Pufelska zeichnet darin nach, dass Aufklärer wie Voltaire und Immanuel Kant im Rahmen ihrer generellen Religionskritik das Judentum als besonders rückständig-dogmatische Religion identifizierten und dabei mit ähnlichen Argumenten verurteilten wie bislang die christliche Theologie. Gleichzeitig finden sich bereits bei ihnen und deutlicher noch bei Johann Gottlieb Fichte moderne Legitimierungsweisen der Judenfeindschaft: Die weiterhin behauptete Minderwertigkeit der Juden wurde nicht mehr religiös, sondern als „nationale”, „rassische” oder „völkische” Andersartigkeit begründet.

Doch die Aufklärung beförderte auch maßgeblich die Emanzipation der Juden. Jan Weyand zeigt anhand der berühmten Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden” von Christian Conrad Wilhelm von Dohm, warum die Befürwortung der Emanzipation gleichzeitig auch den Beginn einer kritischen Theorie der Judenfeindschaft bildete: Denn wer mit dem Argument der Gleichheit aller Menschen die Emanzipation der Juden forderte, dem musste die bisherige Diskriminierung als Unrecht erscheinen, als dessen Urheber dann die Christen beziehungsweise deren judenfeindliches Vorurteil in den Blick geraten konnten.

Der zweite Teil des Sammelbandes konzentriert sich auf das 19. Jahrhundert und ist bereits deutlich umfangreicher – nicht nur begann sich der moderne Antisemitismus gerade auch durch Schriften akademischer Judenhasser immer deutlicher zu artikulieren, sondern auch die publizistischen Gegenreaktionen nahmen zu.

So erschien, nachdem der Historiker Friedrich Rühs 1816 seine judenfeindliche Schrift „Über die Ansprüche der Juden an das deutsche Bürgerrecht” veröffentlicht hatte, noch im selben Jahr die Flugschrift „Germanomanie”, in der der Schriftsteller und Publizist Saul Ascher nicht nur gegen die aufkommende nationalistische Bewegung von Arndt und Jahn polemisierte, sondern auch Rühs dezidiert entgegentrat. Dies löste eine breite öffentliche Kontroverse aus, die Werner Treß nachzeichnet, wobei Aschers Sicht auf Antisemitismus und deutschen Nationalismus etwas knapp geraten ist. Auch der Aufsatz von Mirjam Thulin zur Kontroverse zwischen Paul de Lagarde und David Kaufmann fördert wenig über theoretische Reflexionen der beiden Autoren zum Antisemitismus zutage.

Bis heute bekannt ist der „Berliner Antisemitismusstreit”, den 1879 Heinrich von Treitschkes Aufsatz „Unsere Aussichten” auslöste. In seinem Vortrag „Was ist national?” (der eine wichtige Grundlage für Ernest Renans berühmten Aufsatz bilden sollte) wandte sich der Philosoph und Psychologe Moritz Lazarus als einer der ersten gegen Treitschke und dessen Vorstellung von „Nation” als homogene Abstammungsgemeinschaft: Eine „Nation” beruhe auf subjektiver Zurechnung zu dieser auf Basis von gemeinsamer Kultur, Sprache und Geschichte, „wahres Deutschtum” beinhalte somit eine „Mannigfaltigkeit”, zu der auch die Juden gehören könnten. Lazarus erkannte zwar einen Zusammenhang von Antisemitismus und Nationalismus, argumentierte aber, wie Marcel Stoetzler ausführt, selbst immer noch auf Basis der Gemeinschaftsvorstellung „Nation” und blieb daher analytisch begrenzt.

Sebastian Voigt widmet sich dem heute kaum bekannten französischen Journalisten Bernard Lazare. Dieser war 1896 nicht nur der erste publizistische Verteidiger von Alfred Dreyfus. Bereits 1894 veröffentlichte Lazare, um Éduard Drumonts antisemitischen Bestseller „La France Juive” etwas entgegenzusetzen, sein Buch „L’antisémitisme, son histoire et ses causes”. Darin zeichnete er nicht nur die Judenfeindschaft seit der Antike nach, sondern versuchte, die Spezifika und Ursachen des modernen Antisemitismus. Dabei notierte Lazare bereits den besonderen Konnex von Nationalismus und Antisemitismus, den Klaus Holz in seiner Studie „Nationaler Antisemitismus” (2001) dezidiert herausarbeitete:2 Die Nationalisten identifizierten die Juden nicht einfach als eine ihr Homogenitätsphantasma störende fremde Nation, sondern, gefährlicher noch, als Anti-Nation von anationalen Kosmopoliten, die die „Idee des Vaterlandes” selbst zerstörten.

In ihrem den zweiten Teil abschließenden Beitrag „Von der Judenfrage zur Antisemitenfrage” geben Klaus Holz und Jan Weyand einen ordnenden Überblick über die grundlegenden Entwicklungsschritte der Antisemitismustheorie. Der moderne Antisemitismus, so ihr Ausgangspunkt, zeichnet sich durch zwei grundlegende Merkmale aus: Erstens konstruiert er per Zuschreibung ein spezifisches negatives Judenbild und zweitens steht dieses kollektive Feindbild immer in Relation zum kollektiven Selbstbild und basiert damit auf einer Zuordnung zu konstruierten nationalen Kollektiven.

In ihren Anfängen wurden auch in den Beschreibungsversuchen der Judenfeindschaft (so etwa von Dohm) nicht nur die Kollektive „Deutsche“ und „Juden“, sondern auch die den Juden zugeschriebenen Eigenschaften als objektiv vorhanden akzeptiert – allerdings legte Dohm letztere nicht den Juden als deren „Eigenart” zur Last, sondern erklärte sie als Folge der jahrhundertelangen Diskriminierung und damit der christlichen Judenfeindschaft.

Doch schon Anfang des 19. Jahrhunderte erkannte etwa Saul Ascher, dass sich eine moderne Form der Judenfeindschaft herausbildete und dass deren Anschuldigungen keineswegs der Realität entsprachen. Dementsprechend versuchten im 19. Jahrhundert nahezu alle Autoren, die Antisemiten mittels Fakten und Argumenten zu überzeugen oder zumindest wissenschaftlich zu widerlegen. Doch weiterhin wurden „Juden” und „Deutsche” als gegebene kollektive Entitäten angesehen, zwischen denen es auch reale Konflikte gebe.

Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts begannen sich in der Antisemitismustheorie langsam die grundlegenden Einsichten zu etablieren, dass das Handeln der Juden für die Erklärung des Antisemitismus irrelevant und dass bereits die Zuordnung von Menschen zu bestimmten „Völkern” und „Nationen” soziale Konstruktionen sind. Damit begann die Formulierung von Antisemitismustheorien im eigentlichen Sinn: Nunmehr standen die gesellschaftlichen Bedingungen des Antisemitismus, die Psyche des Antisemiten sowie in jüngerer Zeit die semantischen Strukturen des antisemitischen Denkens im Fokus der Forschung.

Der dritte Teil zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nimmt, analog zur wachsenden Zahl der Versuche, den modernen Antisemitismus theoretisch zu erfassen, mehr als die Hälfte des Sammelbandes ein. Franziska Krah gibt einen Überblick über die Deutungen des Antisemitismus durch Julius Goldstein, Arnold Zweig, Fritz Bernstein, Constantin Brunner und weitere Autoren und arbeitet deren Gemeinsamkeiten heraus: Alle setzten sich zwar kritisch mit den Rassetheorien auseinander, nie aber wurden diese grundsätzlich verworfen. Weiterhin benutzten alle psychologische Erklärungen und Begriffe wie „Neurose” und „Psychose”, um den extremen Hass und die kruden Verschwörungsphantasien der Antisemiten zu fassen, und versuchten, diese „Pathologie” als extremen Fall einer allgemeineren sozialen Erscheinung wie Gruppen- oder Massenphänomene zu deuten.

Dies zeigen auch die Einzelbeiträge zu Fritz Bernsteins Buch „Antisemitismus als Gruppenerscheinung” von 1926 vorgestellt von Thomas Gloy) und zu Norbert Elias’ erst 1996 entdeckten Aufsatz „Zur Soziologie des deutschen Antisemitismus” von 1929 (vorgestellt von Bodo Kahmann). Beide Erklärungsversuche spiegeln in ihrer Konzentration auf Gruppenphänomene den damaligen sozialwissenschaftlichen Trend wider und versuchten, den Antisemitismus als spezielle Ausprägung einer generellen „Gruppenfeindschaft” (Bernstein) oder der Außenseiter-Etablierten-Figuration (Elias) zu erklären, konnten damit aber weder die ideologische Besonderheit des modernen Judenhasses noch seine Radikalität theoretisch fassen.

Oft waren die Deutungen des Antisemitismus deutlich geprägt vom jeweiligen Standpunkt der Autoren in den politischen, ideologischen und innerjüdischen Debatten der Zeit. Dies zeigt etwa Caspar Battegay am Werdegang des ursprünglich zionistisch orientierten Nathan Birnbaum auf. Jürgen Stenzel zeichnet die Antisemitismus-Analysen des die Assimilation verfechtenden Philosophen Constantin Brunner nach, David Jünger stellt den neo-orthodoxen Philosophen Isaac Breuer vor. Brunner wie Breuer erkannten frühzeitig die vom deutschen Nationalsozialismus ausgehende Gefahr und emigrierten nach Palästina. Olaf Kistenmacher beschreibt die Ansätze einer innerlinken Kritik des unter Stalin aufkommenden sowjetischen Antisemitismus, Ole Frahm interpretiert das Buch „Die Juden in der Karikatur” des marxistischen Kulturwissenschaftlers Eduard Fuchs. Christine Achinger präpariert heraus, dass in der antisemitisch-misogynen Schrift „Geschlecht und Charakter” (1903) von Otto Weininger, die zumeist als Paradebeispiel für den jüdischen Selbsthass aufgeführt wird, sich paradoxerweise überraschend klare Einsichten über den projektiven Charakter des Antisemitismus finden.

Insgesamt wird im vorliegenden Sammelband ein breites Spektrum an frühen Beschreibungsversuchen des Antisemitismus dargestellt, deren historische, politische und theoretische Entstehungskontexte jeweils gut konturiert werden; mitunter allerdings hätten die – gerade in den „Widerlegungsschriften” des 19. Jahrhunderts eher implizit enthaltenen – Sichtweisen auf den Antisemitismus, deren Einsichten und Beschränkungen noch klarer herausgearbeitet werden können.

Die überwiegende Zahl der Beschreibungsversuche stammt von Autoren jüdischer Herkunft – Nichtjuden widmeten diesem offensichtlich wenig Aufmerksamkeit, auch stießen die meisten der Schriften seinerzeit nur auf wenig öffentliches oder wissenschaftliches Interesse. So kommt dem Sammelband das Verdienst zu, einen anregenden und instruktiven Überblick über schon seinerzeit oft wenig rezipierte und heute meist unbekannte Anfänge einer Theorie des Antisemitismus zu bieten, in dessen Anmerkungen und dessen umfangreichen Literaturverzeichnis sich noch zahlreiche zusätzliche Verweise auf weitere interessante Autoren und Schriften finden.

Anmerkungen:
1 Jean-Paul Sartre, Überlegungen zur Judenfrage, Reinbek 1994, S. 12.
2 Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Hamburg 2001.