H. Grandits u.a. (Hrsg.): Jugoslawien in den 1960er Jahren

Cover
Titel
Jugoslawien in den 1960er Jahren. Auf dem Weg zu einem (a)normalen Staat?


Herausgeber
Grandits, Hannes; Sundhaussen, Holm
Reihe
Balkanologische Veröffentlichungen 58
Erschienen
Wiesbaden 2013: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
325 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Rutar, Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, Regensburg

Was ist ein „(a)normaler Staat“? Die im Untertitel enthaltene Frage nach Norm und Abweichung von Staatlichkeit verweist auf die forschungspraktische Stoßrichtung, die die Herausgeber, Hannes Grandits und Holm Sundhaussen, ihrem Band zu Jugoslawien in den 1960er-Jahren gegeben haben: Wider eine Geschichtsschreibung, die einen verschwundenen, zerstörten Staat von hinten aufrollt; für eine Geschichtsschreibung, die den „Weg“ eines solchen Staates – Jugoslawiens – aus der untersuchten Zeit heraus nachzeichnet. In 13 Kapiteln setzen sich die Autorinnen und Autoren mit Facetten der 1960er-Jahre auseinander, die jüngst globalhistorisch als Ende einer Epoche definiert wurden, mit 1968 als Fanal.

Die vorhandenen „buntscheckigen“ (Wolfgang Höpken, S. 40) Deutungsangebote zwischen „goldenem Zeitalter“ und „Beginn vom Ende“ kann und möchte der Band nicht auflösen. Den Herausgebern geht es um die Interpretation Jugoslawiens aus der globalen Logik der Zeit der langen 1960er-Jahre heraus, einer Zeit der Transformation also, gekennzeichnet durch Dekolonisation, Mauerbau und Kubakrise, sowie um die innere Logik dieses Staates. Insbesondere Ereignisse im Zeichen des Kalten Krieges in den jugoslawischen Nachbarländern – Ungarn 1956, Griechenland 1967, Tschechoslowakei 1968 – sowie die Schwankungen im Verhältnis zur Sowjetunion „kitteten“ (S. 8) die jugoslawische Gesellschaft zusammen. Sie verstärkten das Bestreben einer Äquidistanz zwischen den Blöcken ebenso wie jenes nach einem ökonomischen Weg zwischen Staatsozialismus und Kapitalismus.

Zwar war bei der Gründung des sozialistischen Jugoslawiens jedwedem ethnischen Verständnis von Jugoslawismus eine Absage erteilt worden. Die Aufgabe des politischen Jugoslawismus jedoch hätte die Aufgabe von Titos Lebenswerk bedeutet – und war damit undenkbar. Damit ist ein Kernmotiv jugoslawischer Widersprüchlichkeiten benannt: Partei und Staat verkörperten diesen politischen Jugoslawismus – und waren unantastbar. „Unterhalb des Machtmonopols der Partei und jenseits der Infragestellung des gemeinsamen States“ (S. 12) habe die jugoslawische Staatlichkeit indes eine beachtliche Flexibilität besessen, konstatieren die Herausgeber und stellen gleichzeitig die Frage, wann Flexibilität zu Instabilität wird. Vielfältige Prozesse waren denkbar, eben auch solche, die sie mit Begriffen wie „Unlogisches“ und „Identitätsakrobatik“ versehen. Nicht zuletzt befanden sich diejenigen, die sich als Jugoslawen identifizierten, faktisch „irgendwo im Niemandsland“ (S. 13f).

Die Kapitel des Bandes gruppieren sich in fünf Themenabschnitte, die das Jugoslawien der 1960er-Jahre zunächst außen- und innenpolitisch verorten, sich dann sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen sowie soziokulturellen und kulturpolitischen Aspekten zuwenden, um mit zwei religionspolitischen Innenansichten zu schließen. Im Ergebnis entsteht ein dichtes Bild der Verfasstheit dieses „(a)normalen Staates“ rund ein Vierteljahrhundert vor seinem gewaltsamen Zerfall. Viele der Autorinnen und Autoren machen sich Gedanken über Sinn und Unsinn eines konzeptuellen Zuschnitts auf ein Jahrzehnt, befürworten diesen aber in der Summe, auch wenn die meisten von ihnen die 1960er-Jahre faktisch nach vorn und/oder hinten verlängert denken.

Radina Vučetićs gutem einleitenden Überblick über die politische Weltbühne des jugoslawischen Marxismus „zwischen Karl und Groucho“, wie das Time Magazine 1965 sinnreich titelte, hätte man eine stilistisch sorgfältigere Übersetzung ins Deutsche gewünscht. Wolfgang Höpken stellt die Frage nach Autoritarismus und Liberalismus. In Anlehnung an die entwickeltere und hochgradig kontroverse Erforschung der DDR-Geschichte konstatiert er, eine kritische Historisierung jugoslawischer Staatlichkeit könne nur in ihrem „komplexen Geflecht von Herrschaft und Eigensinn, von diktatorischer Herrschaftsausübung, aber auch von relativer Normalität des Alltags“ (S. 43) erfolgen. Für einen nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung in den jugoslawischen Nachfolgestaaten bedeute das Leben im sozialistischen Jugoslawien eine „Epoche der Normalität“, die sich von der „Anomalität der Kriegsjahre der 1990er Jahre“ absetze (S. 42), womit die Begriffe des Buchtitels eine weitere Qualität erhalten. Höpken attestiert der jugoslawischen Gesellschaft „mehr als nur graduelle Unterschiede kommunistischer Herrschaftspraxis“ (S. 57) im Vergleich zu den anderen staatssozialistischen Gesellschaften und meint damit größere Freiräume auf vielerlei Ebenen. Nischen des Rückzugs musste man sich in weit geringerem Maße schaffen als beispielsweise in der Tschechoslowakei oder in der DDR. Die empirische Untersuchung der „tatsächlichen Durchherrschung der Gesellschaft“ sei nicht zuletzt angesichts des föderalen Staatsaufbaus und der „nach allen Indikatoren“ extremen Heterogenität des Landes eine offene Frage (S. 58f.). Und schlussendlich spielten bei einer differenzierten Beurteilung der „Herrschaftsqualität“ auch zeitliche Sequenzen eine Rolle (S. 63).

Die nachfolgenden Kapitel illustrieren Höpkens Darlegung in einsichts- und spannungsreicher Weise: Aleksandar Jakir dokumentiert, dass die Historisierung des nicht zuletzt von der westeuropäischen Linken hoffnungsvoll beobachteten Selbstverwaltungsmodells weitgehend aussteht. Sein Text wird dem Anspruch des Buches mit am wenigsten gerecht. Seiner Auswahl und Interpretation der Quellen liegt die These des „Anfangs vom Ende“ zugrunde und liest sich dadurch kaum ergebnisoffen. Interessanter ist der Ansatz von Nicole Münnich, die Belgrad als Metapher für „die Verheißung einer neuen Gesellschaft“ (S. 109) im Zeichen einer wachsenden Konsumkultur untersucht, aber auch die sozioökonomischen Disparitäten in den unterschiedlichen Regionen sowie die Rolle der „Gastarbeiter“ berücksichtigt. Nicht zuletzt verweist sie darauf, dass die Entwicklung zwanzig Jahre nach Ende des Weltkrieges in mancher Hinsicht den Vorkriegsstand noch nicht wieder erreicht hatte (S. 124).

Ein genuin in den 1960er-Jahren verankertes Thema ist das der „Gastarbeiter“. Über eine Million Menschen verließen während der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre Jugoslawien. Vladimir Ivanović zeichnet ein faszinierendes Bild nicht nur der Gastarbeiternetzwerke, sondern auch der Inklusions- bzw. (nicht selten) Ausgrenzungsstrategien der aufnehmenden Gesellschaften in Deutschland und Österreich. Allerdings verbleibt seine Analyse „in der Fremde“ und gelangt kaum zurück in die jugoslawische Gesellschaft.

Nenad Stefanov widmet sich dem Phänomen der Sommerschule auf Korčula und der darauf basierenden Zeitschrift „Praxis“. Unter anderem Herbert Marcuse, Jürgen Habermas, Lucien Goldmann, Zygmunt Bauman und Oskar Negt hatten Anteil an diesem Projekt, welches als eine von den Lehrstühlen in Zagreb und Belgrad organisierte studentische Sommerschule für Soziologie seinen Anfang nahm. Es war Ausdruck der Kritik „stalinistischer Schematisierungen“ (S. 163) der marxistischen Theorie und entwickelte sich zu einem Forum für kritische intellektuelle Debatten mit gesamteuropäischer Reichweite. Stefanov plädiert für Differenz: „Die – notwendige – Fokussierung auf die Protagonisten des Nationalismus in den letzten beiden Jahrzehnten bringt die Schwierigkeit mit sich, dass vorschnell von einer kompletten Absenz zivilgesellschaftlicher oder kritischengagierter Praxis in Jugoslawien ausgegangen wird.“ Alle relevanten Ansätze für eine friedliche und zivile Lösung seien aus den linksintellektuellen Netzwerken rund um die Praxis-Schule hervorgegangen, so im Februar 1989 die Gründung der „Vereinigung für eine Jugoslawische Demokratische Initiative“. Die „Transfers von Ideen, deren Aneignung und Modifikation“ setzten sich fort – bis heute (S. 183).

In analoger Weise plädieren auch die weiteren Kapitel zu „Intellektuellen und künstlerischen Selbstverortungen“ für eine horizonterweiterte Vernetzung der Perspektiven. Nach dem Staatszerfall sei, so Miranda Jakiša, die Bewertung jugoslawischen Filmschaffens durch die „Problematik seiner retrospektiven, an heutige Sprechstandpunkte gebundenen Historisierung“ (S. 191) gekennzeichnet gewesen. Weder sei die Konstruktion einer Dichotomie zwischen staatstragender Filmproduktion und jener, die sich dieser (im Untergrund) entgegenstellte, analytisch zielführend, noch deren nachträgliche Nationalisierung (S. 192). Insgesamt fügten sich solche Interpretationen jugoslawischer Filmgeschichte in die allgemeine „retrospektive Simplifizierung der 1960er und ihrer Werte“, die der „Re-Affirmation des von ihnen Kritisierten“ diene, nämlich „Marktwirtschaft, traditionelle Familie und staatliche Autorität“ (S. 209). All das wird indes der „Einordnung jener Generation in die Weltgeschichte […] schlicht nicht gerecht“ (S. 209).

Krunoslav Stojakovićs Aufsatz zur jugoslawischen Kunst-, Theater- und Intellektuellenszene bläst in das gleiche Horn, zeichnet sich aber durch eine eklektisch anmutende Sprunghaftigkeit aus – thematisch, aber vor allem zeitlich zwischen den 1960er- und den 1980er-Jahren – und liest sich deshalb recht unübersichtlich. Angelika Richters Überblick über literarische Texte, vor allem Romane, „alternativen Denkens und neue poetologische Ansätze“ (S. 234) beschreibt einen „in alle Richtungen durchlässigen Kulturraum“ (S. 234), „in dem Informationen über die Nachbarn (im Unterschied zu heute) ohne größere Schwierigkeiten zugänglich waren“ (S. 234f.). Auch Ksenija Cvetković-Sander richtet sich gegen eine (nachträglich) nationalisierte Interpretation und weist nach, dass die Übernahme des Standardalbanischen aus dem Nachbarland Albanien in Kosovo nicht gegen die KPJ und die Belgrader Machthaber geschah, sondern dass im Gegenteil diese von Beginn an maßgeblich beteiligt waren. Im Rahmen der allgemeinen jugoslawischen Sprach- und Nationalitätenpolitik erschien dies nur sinnvoll (und auch logisch).

Klaus Buchenau gelangt in seiner „nachdenklichen Skizze“ der Religionspolitik(en) zu einem fragmentierten, eher negativen Fazit: Die Religionspolitik regionalisierte sich seit den 1960er-Jahren ebenso wie jene gegenüber den Republiken und Nationen bzw. Nationalitäten und war ein maßgeblicher Teil des komplizierten Geflechts, das am Ende in den Staatszerfall mündete. Sie ist polyvalent, also nicht gesamtjugoslawisch zu interpretieren, da sie eben uneinheitlich gehandhabt worden sei. Armina Omerika fokussiert auf den jugoslawischen Islam. Sie zeigt einmal mehr, etwa am Beispiel eines der einflussreichsten islamischen Denker Jugoslawiens nach 1945, Husein Đozo, wie wichtig es ist, die Intentionen und Wirkungen historischer Akteure ernst zu nehmen. Es wird deutlich: Es gab Alternativen, zu allen Zeiten.

Dass der Band sich fast ausschließlich mit der Geschichte von Jugoslawiens intellektuellen und gesellschaftlichen Eliten auseinandersetzt, mag kein Zufall sein, war es doch ein Teil der nachfolgenden Elitengeneration, der maßgeblich für die Zerstörung des Staates und für den Ausbruch des Krieges verantwortlich zeichnet. Dennoch scheint ein (weiteres) Forschungsfeld brachzuliegen – die Sozialgeschichte anderer sozialer Gruppen, allen voran der „Arbeiter und Bauern“. Dass diese ideologisch einen Pfeiler sozialistischer Staatlichkeit ausmachten, braucht nicht betont zu werden. Wie sahen also Legitimationsstrategien mit Blick auf die „Massen“ aus? Welche Loyalitäten konnten die kommunistischen Staatsingenieure nutzen, welche schufen sie neu, und wie veränderten sie sich? Wo stand die jugoslawische Gesellschaft in den 1960er-Jahren mit Blick auf die soziale Kohäsion (oder deren Mangel) der „Massen“? Im vorliegenden Buch beschäftigt sich allein Vladimir Ivanović mit Arbeitern – mit „Gastarbeitern“. Diese lebten aber nun einmal nicht im jugoslawischen Staat.

Die Befunde der Autorinnen und Autoren verdichten sich zu zweierlei maßgeblichen Fazits: Die 1960er-Jahre waren globalhistorisch ein Scharnierjahrzehnt in Ost und West, Jugoslawien war ein Teil dieser Geschichte und vielleicht, wegen seiner Position zwischen den Blöcken, ein besonders interessanter. Ein besonders komplexer zweifellos, was auch andere Ursachen hat, wie die disparaten historischen Pfadabhängigen der Regionen des Landes. Aber zweitens, und vor allem: Die 1960er-Jahre waren ein Jahrzehnt des Wandels und damit der Ambivalenzen. Der weitere Gang der Dinge war keineswegs ein alternativloser, weder in Jugoslawien noch anderswo.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch