S. Wein: Antisemitismus im Reichstag

Cover
Titel
Antisemitismus im Reichstag. Judenfeindliche Sprache in Politik und Gesellschaft der Weimarer Republik


Autor(en)
Wein, Susanne
Reihe
Zivilisationen & Geschichte 30
Erschienen
Frankfurt am Main 2014: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
524 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Haas, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Die vorliegende Arbeit unternimmt den spannenden Versuch, offenen und latenten Antisemitismus in der Weimarer Republik mit einem neuen Forschungsdesign zu untersuchen. Sie wählt als Gegenstand die Plenardebatten des Reichstags und betritt damit weitgehend Neuland. Der Reichstag steht zwischen der politischen Entscheidungsebene von Regierung und Kabinett auf der einen und der Bevölkerung auf der anderen Seite. Damit hat das dort Gesagte neben der politische Entscheidungen vorbereitenden Funktion immer auch eine symbolische Bedeutung der Selbstpositionierung des sich Äußernden bzw. der Gruppe, zu der er/sie gehört. Dieses Argument wird von Susanne Wein überzeugend eingesetzt, um die besondere Relevanz des Reichstags als einer Untersuchungsebene für die Geschichte der politischen Sprache und besonders der Judenfeindlichkeit in der Weimarer Republik herauszustellen. Im Fokus der Untersuchungen stehen dabei die vier ersten Wahlperioden des Reichstages von 1920 bis 1930. Die Zeit der Präsidialkabinette wird nur peripher betrachtet. Das ist überzeugend, weil die Bedeutung der Arbeit nicht darin liegen soll, Antisemitismus als ein Sprachmuster in einer Zeit der politischen Radikalisierung zu untersuchen, sondern als ein konstant in der Weimarer Republik präsentes Phänomen herauszustellen.

Methodisch positioniert sich die vorliegende Arbeit in der politischen Kulturforschung einerseits, in der kritischen Diskursanalyse andererseits. Antisemitismus wird dabei in einer reflektiert kritischen Anlehnung an Shulamit Volkov als ein kultureller Code begriffen. Dabei geht es der Autorin nicht nur um die offensichtlichen antisemitischen Äußerungen, sondern auch um die latenten und kaschierten Formen. Die Untersuchung wird dabei kategorisiert entlang der im Reichstag präsenten politischen Parteien. Dieses Vorgehen ermöglicht es, von externen Forschungskontexten leicht auf die Arbeit zuzugreifen. Es hätte aber auch sinnvoll sein können nach anderen, versteckteren Gruppierungsmöglichkeiten der Befunde zu suchen, die beispielsweise sozialpsychologisch oder sozialisationstechnisch taxonormiert werden. Unterstützend wird eine chronologische Differenzierung vorgenommen, die erwartungsgemäß einen Anstieg der relevanten Befunde zum Ende der Weimarer Republik hin feststellt. Allerdings macht es einen Unterschied, ob ein solcher Befund nur hypothetisch erwartet wird, oder dieser in der vorliegenden Arbeit durch intensive Analyse des Quellenkorpus tatsächlich nachgewiesen wird. Entscheidend ist auch nicht so sehr, dass es diesen Anstieg gibt, sondern dass das Thema judenfeindlicher Sprache im Reichstag konstant über den Untersuchungszeitraum hinweg auftaucht. Susanne Wein kann daher überzeugend feststellen, „dass der Antisemitismus in der politischen Kultur der Weimarer Republik eine feste Größe und relevantes Deutungsmuster darstellte“ (S. 423).

Um einige Ergebnisse – verkürzend – zusammenzufassen: Für die deutschnationale Volkspartei arbeitet das vorliegende Buch eine deutliche Kontinuitätslinie des Antisemitismus über den gesamten Zeitraum heraus. Die Reichstagsfraktion der Zentrumspartei hat hingegen mit einigen auffallenden Ausnahmen keine antisemitische Sprache verwendet. Allerdings kann die Autorin auch feststellen, dass das Zentrum sich auch mit der Zurückweisung judenfeindlicher Äußerungen zurückgehalten hat. Zurückgeführt wird dies auf die Einbindung in die Kabinette und die damit verbundene notwendige Kompromissbereitschaft. Anders dagegen haben die Abgeordneten der Deutschen Demokratischen Partei, ohnehin selbst häufig als „Judenpartei“ beschimpft, den Antisemitismus explizit zurückgewiesen. Noch deutlicher bezogen die Sozialdemokraten Stellung gegen den Antisemitismus deutschvölkischer und nationalsozialistischer Abgeordneten. Das Ergebnis für Vertreter der kommunistischen Partei fällt differenziert aus, einerseits lassen sich dort explizite Ablehnungen des rechten sogenannten „Radauantisemitismus“ finden, andererseits stand für sie die Klassenthematik deutlich im Vordergrund.

Zentraler noch als diese durch intensive Quellenanalyse herausgearbeiteten Befunde, sind die Untersuchungen von spezifischen Sprachfiguren und Signalwörtern, in denen sich judenfeindliche Haltungen äußern. Dabei sind besonders die Analysen zu einer „kaschiert-“ und einer „codiert-antisemitischen Sprache“ von Bedeutung. Darunter werden sprachliche Äußerungen und Lexeme verstanden, die entweder eine judenfeindliche Haltung verstecken, oder eine solche durch Andeutungen, von denen ausgegangen wird, dass die Zuhörer diese verstehen, verschleiert. Gerade in diesen Analysen entfaltet die Arbeit ein sehr hohes Potenzial. Es gelingt ihr hier neben der denotativen Bedeutung von Wörtern, auch die konnotativen Sinngehalte zu erfassen, die im Sprachhandeln der Reichstagsabgeordneten aktiviert werden. Gerade dadurch, dass sich ein judenfeindlicher Sprachgebrauch einschleicht, der mit zunehmend festgelegten Kodierungen verfährt, wird die Alltäglichkeit antisemitischen Sprachgeschehens in der politischen Kultur aufgezeigt. An diesem Punkt wird die spannende Doppelpositionierung der Arbeit deutlich, einerseits die Vorgeschichte des Antisemitismus im Nationalsozialismus zu thematisieren, andererseits aber auch die politische Kultur der Weimarer Republik in ihrer Ambivalenz quellentechnisch dicht heraus zu arbeiten.

Auch wenn die Arbeit nachvollziehbarerweise auf quantifizierende Ansätze in der historischen Sprachforschung verzichtet, so ist es zumindest ein kleines Manko, dass nicht Methoden der digital gestützten qualitativen Textanalyse hinzugezogen worden sind. Auch spielt die Reflexion über die Differenz von gesprochener Rede und geschriebenem Text keine entscheidende Rolle. Doch diese Hinweise dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass mit der vorliegenden Untersuchung eine wichtige und sehr lesenswerte Studie über den alltäglichen Sprachgebrauch in politischen Kontexten der Weimarer Republik vorgelegt worden ist, die breit anschlussfähig ist und in einer Fülle von Forschungskontexten gewinnbringend rezipiert werden kann. Dem Buch ist es daher zu wünschen, dass es viele Leser und Leserinnen finden.

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