G. Schöllgen: Deutsche Außenpolitik. Von 1815 bis 1945

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Titel
Deutsche Außenpolitik. Von 1815 bis 1945


Autor(en)
Schöllgen, Gregor
Reihe
Beck’sche Reihe 6118
Erschienen
München 2013: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
283 S.
Preis
€ 14,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Rose, Abteilung Neuzeit, Universität Bonn

In seiner neuen, auf zwei Bände angelegten Geschichte deutscher Außenpolitik von 1815 bis zur Gegenwart widmet sich Gregor Schöllgen einmal mehr den großen Linien in der Geschichte. Bereits 2007 hat er sich dem Thema in "Jenseits von Hitler" überzeugend angenommen.1 Dieses Mal geht er noch weiter zurück und spannt in seinem ersten Band den Bogen vom Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation bis zum Untergang des Dritten Reiches.

In gewohnter Manier gelingt es ihm dabei, auch noch so komplexe und umfangreiche Sachverhalte prägnant für ein breites Publikum aufzubereiten und gut lesbar darzustellen. Allerdings sei gleich vorweggenommen, dass der Rückgriff bis zum Reichsdeputationshauptschluss bzw. zum Wiener Kongress nicht über einen Prolog hinauskommt. Schon die Gesamtanlage der beiden Bände belegt, dass vor allem die jüngere und die Zeitgeschichte das Leib- und Magenthema des Autors sind. Während der erste Band mehr als ein ganzes Jahrhundert und mit dem Heiligen Römischen Reich, dem Deutschen Bund, dem Norddeutschen Bund, dem Kaiserreich, der Weimarer Republik und dem Dritten Reich ganze sechs staatliche Organisationsformmen behandelt, den Zollverein, das Dritte Deutschland und Österreich bis 1866 noch nicht eingerechnet, so behandelt der zweite Band auf gleichem Raum lediglich ein halbes Jahrhundert und drei deutsche Staaten.

Das erscheint umso bedauerlicher, da die Positionen Schöllgens zur Außenpolitik zwischen 1871 und 1945 bereits aus vielen anderen Publikationen bekannt sind und es ihm natürlich schwerfallen muss, hier neue originelle Schneisen zu schlagen. Dabei hätten sich auch für die großen Linien im frühen 19. Jahrhundert durchaus Anknüpfungspunkte jenseits der wiederholt hervorgehobenen Mittellage bis in die jüngste Zeit hinein ergeben, etwa bei Fragen des Freihandels, der Wirtschaftsaußenpolitik oder der gemeinsamen Sicherheitspolitik im Rahmen des Deutschen Bundes bzw. der sicherheitspolitischen Funktion des Bundes im Konzert der Mächte. Gerade zu diesen Themen wären die Meinungen eines solchen Kenners durchaus von Interesse gewesen. Insgesamt erfahren wir aber gerade im ersten Kapitel leider zu wenig zur spezifischen Gemengelage innerhalb des Deutschen Bundes, zu den deutschen Mittelmächten, die zuweilen durchaus einen eigenen außenpolitischen Kurs betrieben, oder zum preußisch-österreichischen Dualismus bzw. überhaupt zur Wiener Außenpolitik, die zumindest bis 1866 auch zur deutschen Außenpolitik gehörte.

Eindeutig in seinem Element ist Schöllgen, wenn es um die Außenpolitik des Kaiserreiches geht. Dabei muss der Autor angesichts der Anlage der Bände unweigerlich Schwerpunkte setzen und Details hier und da vernachlässigen. Gewohnt souverän zeichnet er das Bild der Bismarckschen Außenpolitik von der Politik der Saturiertheit bis hin zum komplizierten Geflecht von Bündnissen und Allianzen. Auch die nachfolgende Schilderung der wilhelminischen Außenpolitik vom Neuen Kurs bis in die zunehmende Krisensituation vor 1914 steht dem in Nichts nach.

So gelungen sich Schöllgens außenpolitische Darstellung für das allgemeine Publikum darstellt, so sehr wird die fortgeschrittene Leserschaft jedoch einiges vermissen. Besonders komplizierte Fragen, wie etwa das außenpolitische Duell mit Napoleon III. während der Julikrise von 1870 oder die umstrittenen Gründe für Bismarcks Kolonialpolitik reduzieren sich allzu sehr auf die außenpolitischen Motivlagen. Dass wird dann zum Problem, wenn es um ein abschließendes Urteil geht, inwieweit Bismarck sich gerade auch in dieser Frage als Zauberlehrling hervortat, oder er nicht vielmehr längst vorhandene Tendenzen aufgegriffen und kanalisiert hatte. Zu wenig erscheint in diesem Abschnitt auch der internationale Rahmen im Blickfeld. So ist immer wieder von den deutschen Methoden der Außenpolitik die Rede, etwa bei der Nutzung der ägyptischen Frage gegenüber England (S. 55). Dass aber auch dieses geopolitische Druckmittel zu einem völlig legitimen und international gängigen außenpolitischen Spiel gehörte, welches sich Berlin nicht zuletzt von der russischen oder französischen Englandpolitik in Persien oder bei Fashoda abgeschaut hatte, bleibt leider ebenso unerwähnt wie die Frage, warum sich ausgerechnet Deutschland ein solches Spiel nicht leisten konnte.

Deutlicher wird dies am Beispiel der wilhelminischen Außenpolitik. Den „Griff nach der Weltmacht“, mit dem der Verfasser die wilhelminische Außenpolitik in Anlehnung an Fritz Fischer überschreibt, würde man zwar vor dem Hintergrund aktueller, differenzierender und ebenso internationaler wie internationalisierter Debatten um den Kriegsausbruch wohl doch eher in Anführungszeichen erwarten.2 Gleichwohl zeigt sich Schöllgen der aktuellen Differenzierungen bewusst. Sowohl Bismarck als auch seinen Nachfolgern gelang es nur mehr schlecht als recht, das neue Reich im Großmächtesystem zu integrieren. Das lag zu einem nicht geringen Maße daran, dass die Wilhelmstraße mit Bülows Worten vielfach eine „zu plumpe Diplomatie“ betrieb. Andererseits, und das räumte kein Geringerer als der britische Deutschlandexperte Thomas Sanderson 1907 in einer Replik zum berühmten Crowe-Memorandum ein, hatte es von britischer wie internationaler Seite nämlich auch nie die Bereitschaft gegeben, das Reich gleichberechtigt in das Großmächtesystem aufzunehmen. Auch Schöllgen betont bei allen diplomatischen Versäumnissen und Grobschlechtigkeiten der Wilhelmstraße letztlich die internationale Perspektive zu Beginn den neuen Jahrhunderts, wenn er hervorhebt, dass sich Großbritannien 1914 ohne Not und ausgerechnet in einer Phase deutscher Konzessionen an Russland band und sich auch die deutsche Heeresverstärkungen 1912 äußerst bescheiden ausnahmen (S. 113).

Dem Verfasser gelingt es hier auf beeindruckend knappe Weise, die wesentlichen Linien, Schwerpunktsetzungen und Dilemmata deutscher Außenpolitik vor 1914 flüssig zu präsentieren. Schöllgen kommt zu dem ausgewogenen wie aktuell gängigen Urteil: „Die Entscheidung zum Krieg [...] war eine Reaktion auf eine politisch-militärische Konstellation, zu der die deutsche Politik seit 1890 ungewollt beigetragen, die sie aber nicht gewünscht und gewiss nicht allein zu verantworten hatte.“ (S. 121) Mit diesem Urteil aber ist klar, sollte bei einer eventuellen Neuauflage besagter „Griff nach der Weltmacht“ nicht nur in Anführungszeichen, sondern auch mit einem Fragezeichen versehen werden.

Mit dem Krieg gab die politische Führung Berlins das Heft aus der Hand (S. 125), welches erst nach dem Versailler Vertrag allmählich wiedergewonnen wurde. Die Weimarer Republik war von nun an mit einer enormen Hypothek belastet. Außenpolitisch suchte Walter Rathenau sein Heil im Osten. Aber erst nachdem die Konferenz von Genua über die Reparationsfrage nicht zum Erfolg führte, näherten sich Deutschland und die Sowjetunion in Rapollo aneinander an. Zwei Grundzüge in der Zwischenkriegszeit werden immer wieder deutlich. Zum einen die wiederholt kompromisslose Haltung Raymond Poincarés, welcher mit seiner deutschfeindlichen Haltung mehrfach einen atmosphärischen Wechsel in den internationalen Beziehungen der Zwischenkriegszeit verhinderte (S. 148, S. 155f.), und die Anstrengungen Gustav Stresemanns, zu einem „Wandel durch Annäherung“ zu gelangen (S. 158f.).

Die NS-Außenpolitik sieht Schöllgen zu Recht von Beginn an unter dem „Zeichen des Angriffs“ und der Herbeiführung eines neuen Krieges, der letztlich im Untergang enden musste (S. 246). 1945 war Deutschland, wie es Fürst Metternich bereits 130 Jahre zuvor geäußert hatte, nichts weiter als ein geographischer Begriff (S. 251). Hier schließt sich der Kreis der deutschen Mittellage in Europa. Was aber die inhaltlichen Kontinuitäten deutscher Außenpolitik angeht, so sucht man diese vergebens. Jede Generation stand vor neuen Herausforderungen und gab neue Antworten. Adolf Hitler, so das klare und einleuchtende Urteil nach einem wahren Parforceritt durch 130 Jahre Außenpolitikgeschichte, stand „in keiner deutschen Tradition, am wenigsten in der protestantisch-preußischen“ (S. 258). Die ehemaligen Gegner, auch wenn sie dies vielleicht wie Margaret Thatcher nur widerstrebend zugeben wollten, wussten bei Unterzeichnung der Zwei-Plus-Vier-Verträge 1991 schließlich, dass der neue deutsche Nationalstaat nur noch wenig mit seinen Vorläufern gemeinsam haben würde (S. 259).

Mit seinem stets ausgewogen und differenziert urteilenden Blick auf die deutsche Außenpolitikgeschichte hat Gregor Schöllgen einmal mehr bewiesen, dass er nicht nur ein ausgewiesener Kenner der Materie ist, sondern auch ein großer Erzähler, der es versteht, das Wesentliche einem breiten Publikum in ansprechender Form darzubieten. Obgleich gerade für das frühe 19. Jahrhundert die Perspektive zu kurz greift und hier und da einige Verkürzungen offenbar nicht zu vermeiden waren, ist dem Buch eine breite Leserschaft zu wünschen.

Anmerkungen:
1 Gregor Schöllgen, Jenseits von Hitler. Die Deutschen in der Weltpolitik von Bismarck bis heute, Berlin 2005.
2 Vgl. etwa Andreas Rose, Sammelrezension: Ein neuer Streit um die Deutungshoheit? Neuere Literatur zu den Kriegsursachen von 1914, in: H-Soz-Kult, 30.07.2014, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-21344> (08.06.2015).

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