Cover
Titel
Fromm und politisch. Christliche Anti-Apartheid-Gruppen und die Transformation des westdeutschen Protestantismus 1970–1990


Autor(en)
Tripp, Sebastian
Reihe
Geschichte der Religion in der Neuzeit 6
Erschienen
Göttingen 2015: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Gerster, Centrum für Religion und Moderne, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

In den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten hat die deutsche Geschichtswissenschaft ein gesteigertes Interesse am Thema „Religion“ an den Tag gelegt. Es kam unter anderem in der Gründung zahlreicher Forschergruppen und Graduiertenkollegs sowie in einer Fülle an Publikationen zum Ausdruck. Inzwischen hat die Bereitschaft, sich mit Religion und ihren gesellschaftlichen Funktionen auseinanderzusetzen, zumindest mit Blick auf die europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts wieder an Schwung verloren. Dies mag einerseits durch die üblichen Konjunkturen wissenschaftlicher Aufmerksamkeitsspannen und Forschungsprogramme begründet sein; es scheint andererseits mit dem Gegenstand selbst zusammenzuhängen. Denn während das Interesse an der Entwicklung christlicher Religion in Europa nach 1800 in letzter Zeit merklich nachgelassen hat, sind Themen wie „Islam in Europa“ oder „Religionen in außereuropäischen Gebieten“ noch nicht aus der Mode gekommen. Die Auswahl des Mottos „Glaubensfragen“ für den 51. Deutschen Historikertag 2016 kann in diesem Zusammenhang einerseits als Versuch verstanden werden, neuen Schwung in die Forschung zu bringen. Andererseits macht es anschaulich, wie weit sich das Thema inzwischen fassen lässt. Zur Geschichte des Christentums in der Moderne indes scheint derzeit (fast) alles gesagt zu sein; die großen Wissenslücken der Geschichtswissenschaft in dieser Frage, die nicht zuletzt in Hans-Ulrich Wehlers monumentaler und in anderer Hinsicht gut informierter „Deutscher Gesellschaftsgeschichte“ evident zutage traten1, sind offenbar geschlossen. Und tatsächlich: Heute weiß jeder halbwegs informierte Historiker, dass Kirchen, religiöse Praxis und persönlicher Glaube in den letzten zwei Jahrhunderten in Europa zwar ihre vormals prädominante Stellung eingebüßt haben, dass Religion aber eben bei Weitem nicht dabei ist, vollkommen zu verschwinden, wie dies Anhänger einer vereinfachten Säkularisierungstheorie vor Jahren noch propagierten. Stattdessen geht man heute von einer Mischung aus Rückgang, Pluralisierung und vereinzelten Wachstumsphänomen aus, um die religiöse Entwicklung in Europa nach 1800 zu beschreiben.2

Wie wichtig es ist, sich trotz des inzwischen gewonnenen Wissensstandes weiterhin intensiv mit der Geschichte der christlichen Religion in Europa zu beschäftigen, dokumentiert das Buch von Sebastian Tripp. Es widmet sich dem kontroversen Verhältnis von westdeutschen Protestanten und südafrikanischem Apartheidsystem in den Umbrüchen der 1970er- bis 1990er-Jahre. Das große damalige Interesse begründete sich einerseits aus der unmittelbaren Beteiligung protestantischer Gruppen vor Ort und andererseits aus der Anschlussfähigkeit des Themas an die Debatten der westdeutschen Kirchen. Die Lektüre des Bandes eröffnet nicht nur ein sehr detailliertes Bild sich verschiebender Konfliktlinien innerhalb des Protestantismus, sondern liefert darüber hinausgehende Denkanstöße zum Phänomen von Religion in der westlichen Moderne. Tripps Dissertation ist eine späte Frucht der äußerst ergiebigen Bochumer DFG-Forschergruppe „Transformation der Religion in der Moderne“ (2006–2012). Das ist wichtig zu wissen, denn in deren Forschungsprogramm, insbesondere in die Frage nach dem Wandel religiöser Sozialformen, schreibt sich die Studie methodisch und theoretisch ein.3 Im Unterschied zu anderen Arbeiten der Forschergruppe verzichtet Tripp allerdings darauf, das theoretische und methodische Gerüst seiner Untersuchung in ganzer Länge wiederzugeben. Stattdessen beschränkt er sich in seiner Einleitung auf einige hinführende Worte zur Fragestellung, zu den untersuchten Akteuren und dem Aufbau seiner Arbeit. Diese gliedert sich im Wesentlichen in drei chronologisch angeordnete Hauptteile, denen ein Kontextkapitel vorangesetzt wird. Hier erfährt der Leser Wichtiges und Wissenswertes über die Genese der Apartheid in Südafrika und den weltweiten Protest dagegen.

Die Hauptkapitel der Arbeit setzen sich mit drei Themenkomplexen auseinander, an denen sich die wesentlichen Kontroversen der westdeutschen Protestanten um das Apartheidsystem festmachen lassen: mit dem Sonderfonds des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), den Boykottaktionen der Evangelischen Frauenarbeit in Deutschland (EFD) und den Südafrika-Veranstaltungen auf den Deutschen Evangelischen Kirchentagen (DEKT). Um sich den einzelnen Themen zu nähern, wählt der Autor jeweils eine Mischung aus chronologischem Nacherzählen und thematischen Querschnitten. Er arbeitet dabei sehr quellenfundiert, wie bereits im ersten Hauptteil deutlich wird. Dieser widmet sich der Frage, wie die westdeutschen Protestanten auf den Beschluss des ÖRK vom Herbst 1970 reagierten, mit Hilfe eines Sonderfonds auch solche Organisationen zu unterstützen, die sich in ihrem Kampf gegen den Rassismus nicht dezidiert von Gewalt distanzierten. Die Entscheidung war ohne Zweifel kontrovers. Sie fand zugleich Anschluss an andere Debatten im Protestantismus beispielsweise über den Umgang mit Kirchensteuern oder die Legitimation von Gewalt. Assoziationen zur eigenen Vergangenheit im Nationalsozialismus standen damit ebenfalls immer im Raum. Tripp nähert sich der vielschichtigen Gemengelage, indem er sie auf die Ebene der Landeskirchen herunterbricht und beispielsweise die Reaktionen der Evangelischen Landeskirche in Hessen und Nassau untersucht. Hier hätte man sich bisweilen mehr Hintergrundinformationen über die Geschichte und (konfessionelle) Besonderheit der unterschiedlichen Landeskirchen gewünscht. Durch seinen Zuschnitt verweist das Kapitel zugleich bereits auf eine grundlegende Verschiebung im religiösen Feld: die wachsende Bezugnahme lokaler Akteure auf globale (ökumenische) Identitäten, auch und gerade als Gegengewicht zu Versuchen nationaler Vereinnahmung.

Mit der Untersuchung der Aktionen der Evangelischen Frauenarbeit in Deutschland folgt das herausragendste Kapitel des Buches. Im Zentrum stehen der Dachverband EFD, der rund 40 evangelische Frauengruppen und -vereine umfasste, und seine von 1978 bis 1992 organisierten Boykottaktionen gegen südafrikanische Produkte. Ihr Ursprung lag, so berichtet es der Autor, nicht zuletzt in einem transnational-generationellen Lernprozess: Wie Konsumentenboykott funktionieren kann, hatte die damalige EFD-Generalsekretärin Hildegard Zumach von ihrem Sohn erfahren, der diese Form des Protests während seines Zivildiensts in den USA miterlebt hatte (S. 113). Die EFD lernte schnell: Ihr Früchteboykott war letztlich „die langlebigste und bedeutendste Anti-Apartheid-Kampagne in der Bundesrepublik Deutschland“ (S. 181). Tripp zeigt in seiner Analyse nicht nur die personellen und materiellen Dimensionen des Boykotts auf. Er lässt ebenfalls dessen Anschlussfähigkeit an andere zeitgenössische Phänomene erkennen, beispielsweise an die in der politischen Kultur der Bundesrepublik seit den 1970er-Jahren aufkommenden neuen Protest- und Organisationsformen. Naheliegend ist, dass der Autor in diesem Zusammenhang die enge Verknüpfung zwischen Boykottaktionen und dem Wandel von Geschlechterrollen herausarbeitet. Das gelingt ihm insbesondere durch die zwar nicht repräsentative, aber sehr eindrückliche Auswertung von 120 internen EFD-Fragebögen. Sie belegen, dass sich viele der Aktivistinnen im Boykott zum ersten Mal bewusst politisch engagierten und dadurch ein neues Selbstverständnis gewannen. Ein Grund hierfür kann im personellen Tableau der EFD gesehen werden, das sich vor allem aus bürgerlichen Kreisen und ländlichen Regionen rekrutierte; ein Faktum, das seinerseits entscheidend zum Wandel von Religion in den 1980er-Jahren beigetragen haben dürfte.

Auf eine weitere Transformationsebene von Religion hebt die Studie schließlich im dritten Hauptteil ab, der sich mit den Südafrika-Veranstaltungen auf den Deutschen Evangelischen Kirchentagen (DEKT) beschäftigt. Hier wird deutlich, dass die Veranstaltung, die alle zwei Jahre stattfindet, seit den 1980er-Jahren alternativen Basisgruppen und Initiativen immer mehr Raum bot. Konservative Gruppen wie die „Internationale Gesellschaft für Menschenrechte“ (IGFM) hatten dagegen zunehmend einen schweren Stand. Die Situation eskalierte, als sich das Präsidium des DEKT 1987 auf Druck der Anti-Apartheid-Gruppen gezwungen sah, seine Konten bei der Deutschen Bank, die das südafrikanische Regime mit Krediten unterstützte, zu schließen. Die Auseinandersetzung verweist auf die vom Autor bereits zuvor attestierte neue Konfliktlinie zwischen „progressiven“ und „konservativen“ Protestanten (S. 67). Sie verschärfte sich, so Tripp, im Untersuchungszeitraum zunehmend und stand dabei quer zu traditionellen konfessionellen Verwerfungen. Das ist – wie auch die Hinweise auf die zunehmende Ökumenisierung und den Wandel von Geschlechterrollen – sicher eine richtige und wichtige Beobachtung. In welchem Verhältnis diese neue Konfliktlinie letztlich zu „alten“ Spannungslinien wie Konfession und Nation stand, deren fortdauernde Prägekraft selbst heute nicht in Zweifel gezogen werden kann, bleibt in Sebastian Tripps gründlich recherchiertem und anregendem Buch dagegen offen – nur ein Beispiel von vielen, dass es immer noch Raum gibt für weitere Forschungen zur Geschichte von christlicher Religion im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts.

Anmerkungen:
1 Hans-Ulrich Wehler beschäftigte sich im letzten Band seiner Gesellschaftsgeschichte auf lediglich zehn Seiten mit dem Thema „Religion“; vgl. ders., Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 5: Von der Gründung der beiden deutschen Staaten bis zur Vereinigung 1949–1990, München 2008, S. 363–373.
2 Vgl. jüngst Detlef Pollack / Rosta Gergely, Religion in der Moderne. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt am Main 2015.
3 Zum Programm der DFG-Forschergruppe vgl. Wilhelm Damberg (Hrsg.), Soziale Strukturen und Semantiken des Religiösen im Wandel. Transformationen in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1989, Essen 2011, S. 7–35, <http://www.zeithistorische-forschungen.de/sites/default/files/medien/material/2010-3/Damberg2011.pdf> (10.06.2015). Siehe auch <http://www.fg-religion.de> (10.06.2015).