K. Petrovszky: Geschichte schreiben im osmanischen Südosteuropa

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Titel
Geschichte schreiben im osmanischen Südosteuropa. Eine Kulturgeschichte orthodoxer Historiographie des 16. und 17. Jahrhunderts


Autor(en)
Petrovszky, Konrad
Reihe
Balkanologische Veröffentlichungen 60
Erschienen
Wiesbaden 2014: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Rohdewald, Justus-Liebig-Universität Gießen

Konrad Petrovszky untersucht in seiner Promotion mit beeindruckenden philologischen Kenntnissen griechische, serbische, bulgarische und rumänische bzw. kirchenslavische Texte verschiedener Redaktionen und aller Gattungen mit der Ausnahme von Heiligenviten, die im Osmanischen Reich zwischen 1500 und 1700 von orthodoxen Autoren oder Kompilatoren erstellt wurden. In einer dichten Lektüre deutet er publizierte, aber auch zahlreiche nicht edierte Texte, die bisher kaum im Einzelnen analysiert und in der älteren Forschung unter dem Generalverdacht der narrativen Unveränderlichkeit standen, als ein eingeschränktes, in sich aber überaus vielfältiges Feld der kulturellen Adaption und Produktivität.

Ausgehend von der ganzen Breite der Schriftlichkeit der wichtigsten der für die Orthodoxie relevanten Sprachen der Region rekonstruiert Petrovszky einen historischen osmanisch-europäischen Kommunikationsraum der Frühneuzeit. Er überwindet durch den regionalen Zugang insbesondere die nationale Zergliederung des fragmentierten und, mit wenigen Ausnahmen, dünnen Forschungsstandes. Übergreifend hält er fest, dass eine festere Konturierung orthodoxer konfessioneller Identität unter der Geistlichkeit sowohl angesichts mangelnder religiöser Kenntnisse der Bevölkerung, als auch als Ergebnis der lokalen und überregionalen Kommunikation mit anderen Konfessionen zu verstehen ist.

Einer grundlegenden Darstellung des osmanischen Südosteuropa als zusammenhängender sozial- und kulturgeschichtlicher Kommunikationsraum folgt eine Skizze von Wegen der Wissenszirkulation. Bildungserwerb und Tradierung von Wissen werden gekonnt sozialgeschichtlich verortet und in einen regionalen Zusammenhang gebracht.

Anknüpfend unter anderem an Überlegungen der Mediävistik über pragmatische Schriftlichkeit und mündliche Gesellschaften entwickelt Petrovszky für die osmanisch-europäische Frühneuzeit wesentliche Charakteristika der sozialen Herstellungssituationen von Schrift- und Buchkultur. Im Rahmen der Konzentrierung auf die Vervielfältigung religiöser Schriften erkennt er in der Frühneuzeit und unter osmanischer Herrschaft einen deutlichen Aufschwung der Schriftkultur, der sich nicht zuletzt in der wachsende Bedeutung der verschiedenen Vernakularsprachen zeigte.

Vor dem Hintergrund der im Spätmittelalter bekannten byzantinischen Gattungskonventionen und Beschreibungsmuster von universaler orthodoxer Herrschaft führt er aus, unter welchen Voraussetzungen orthodoxe Geschichtsschreibung unter osmanischer Oberhoheit fortgeführt wurde. Historiographie blieb gewissermaßen eine theologische Hilfswissenschaft, die zur Einordnung aktueller Geschehnisse in die Heilsgeschichte diente. In der Reflexion der durch die Textgattungen gegebenen diskursiven Beschränkungen und in der Zusammenschau vergleichbarer Texte aus dem ganzen osmanisch-europäischen Raum gelingt es ihm, mit mikrohistorischen Beispielen Einblicke in wesentliche Entwicklungen herauszuarbeiten und zu vermitteln. Diese führen im Ergebnis tendenziell weg von einer heilsgeschichtlichen Ausrichtung hin zur weltlichen Beschreibung des Reichs. Das osmanische Reich war stets Bestandteil dieser Reichsgeschichten und wurde nach 1650 öfter versöhnlich oder bekräftigend beschrieben: Der Sultan konnte als „Vollstrecker des göttlichen Ratschlusses“ erscheinen, trotz zahlreicher Konflikte mit Muslimen vor Ort (S. 186f.).

An drei Fallbeispielen aus der griechischen, der serbischen und der moldauischen Schrifttradition zeichnet der Verfasser nach, wie in der Fortführung und Bereicherung traditioneller Schreibweisen Strategien verfolgt wurden, die zur zeitlosen Legitimierung des Handelns der Akteure in der krisenhaften Gegenwart dienten. In Auseinandersetzung mit dem allgemeinhistorischen Forschungsstand zu Selbstzeugnissen beobachtet Petrovszky, wie auch orthodoxe Autoren im Osmanischen Reich durch „verstärkte Selbstpositionierung“ (S. 174) in Erscheinung traten. Neue Darstellungsmöglichkeiten wurden in den untersuchten Texten nicht als Erneuerungen hervorgehoben, sondern werden als nicht weniger gewichtige Umschichtungen innerhalb der überlieferten diskursiven Formationen erkennbar. Sehr ergiebig ist etwa im Bereich der Heiligenkulte der serbischen Dynastie die Bemühung, mit Aleida Assmann „Strategien der Dauer“ unter osmanischer Herrschaft zu analysieren (S. 195). Am Beispiel der moldauischen Chronistik gelingt es dem Verfasser eindrücklich, im Rahmen der Krisenerfahrung des 17. Jahrhunderts eine neue Herstellung „historischer Tiefe“ herauszuarbeiten (S. 208). Schließlich kann Petrovszky die von der Forschung vielfach festgehaltene „Beharrlichkeit des annalistisch-chronographischen Modells“ oder die vor dem 18. Jahrhundert kaum säkularisierten oder veränderlichen „konfessionellen Geographie“ überwinden: Mit den drei ausgeführten Beispielen kann für das 17. Jahrhundert von einer verstärkten Rolle lokaler, religiöser, sozialer und subjektiver Bezüge gesprochen werden (S. 230f.), ohne dass die Autoren selbst dies als Neuerungen bezeichnet hätten. Mit dieser Wahrnehmung eines vielschichtigen Wandels ist gleichwohl die frühere Vorstellung einer lediglich das byzantinische Modell adaptierenden „postbyzantinischen“ Zeit revidiert.

Die durchwegs eindrückliche, quellenkritisch vorbildliche und methodisch wegweisende Arbeit eröffnet zahlreiche neue Perspektiven auf mehrere Jahrhunderte orthodoxer Schriftlichkeit im osmanischen Europa und leistet einen wesentlichen Beitrag zu einer überregional angelegten frühneuzeitlichen Sozial- und Kulturgeschichte, dem eine breite Rezeption sowohl in den Historiographien der Region als auch in der allgemeinen Frühneuzeitforschung gewünscht wird.

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