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Titel
Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert


Autor(en)
Sperber, Jonathan
Erschienen
München 2013: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
634 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christina Morina, Neuere und Neueste Geschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Sehr geehrte Leserinnen und Leser von H-Soz-Kult,
durch ein redaktionelles Versehen wurde J. Sperbers Karl Marx Biographie von H-Soz-Kult doppelt zur Rezension vergeben. Diese zweite Besprechung steht in keinem Zusammenhang zur ersten Rezension durch Karl Christian Führer (<http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-21445>).
Mit den besten Grüßen
die Redaktion von H-Soz-Kult

Es ist zwar keine historische Frage, was „uns“ Marx heute noch zu sagen hat, und dennoch sind unter diesem Rubrum in den letzten Jahren eine ganze Reihe neuer Arbeiten zum Leben und Werk von Karl Marx erschienen. Jonathan Sperbers voluminöse Biografie, die 2012 auf Englisch erschien und nun in deutscher Übersetzung vorliegt, gehört unzweifelhaft dazu. Obwohl Sperbers Prämisse in der Historisierung, ja eigentlich Relegierung dieses Mannes zurück ins 19. Jahrhundert liegt, beginnt er seine biografische Erzählung mit sehr gegenwartsbezogenen Überlegungen zur Aufgabe einer Biografie, deren Protagonist mit Leib und Seele unter den Ismen-Kämpfen ganzer Generationen von Epigonen und Kritikern verschüttet scheint. Beinahe 200 Jahre nach Marx’ Geburt bleibt dessen Werk und die darin enthaltenen Gedankengänge und Begriffe unter der Zuschreibung „marxistische“ Kapitalismuskritik bis heute relevant – gleichwohl diese Relevanz in unterschiedlichen akademischen Disziplinen und gesellschaftlichen Diskursen auf ganz unterschiedliche Weise, affirmativ oder kritisch, begründet wird.1

Wenn aus einem Namen ein Ismus wird, ist es um den Träger des Namens historisch gesehen geschehen. Sein – oder seltener auch ihr – Leben und Nachleben sind unumkehrbar mit den ideen- und politikgeschichtlichen Konsequenzen seines oder ihres Wirkens verbunden. Es kann ebenso reizvoll wie frustrierend sein, jenseits dieser Verschlagwortung eines individuellen Lebens nach dem Menschen hinter dem Schlagwort zu suchen. Sperber nähert sich seinem Protagonisten mit genau diesem wohltuenden Anspruch, ja Versprechen – wohltuend, weil dieser Ansatz die in allen (hagiografisch bis antikommunistisch angelegten) Arbeiten bis heute erörterte Frage, was Marx „uns heute noch zu sagen hat“ (S. 13), für irrig hält. Er verspricht dem Leser die Erdung Karl Marx’ in seiner Zeit und behauptet in fast historistischer Manier, dessen Leben und Wirkung mache nur im Kontext seiner Raum-Zeit-Erfahrung Sinn, könne nur „aus sich heraus“ (ebd.) verstanden werden. Biografik und Rezeptionsgeschichte sind damit aber dennoch schon in der Fragestellung eng miteinander verwoben, und sie durchziehen das gesamte Buch wie ein doppelter roter Faden. Dieser doppelte Blick ist so zentral für Sperbers Analyse, dass der Autor die Wirkungsgeschichte Marx’ unter dem Titel „Das Vermächtnis“ nicht posthum, sondern bereits mit dessen letztem Lebensdrittel beginnen lässt.

Eine derartig zur Programmatik erhobene Suche nach dem Mann hinter dem Ismus schafft dem Biografen eine formidable Ausgangsposition, denn sie verleiht seinem Sujet etwas Geheimnisvolles. Er kann dem Leser und der Leserin die Enthüllung eines „wahren“ Lebensweges ohne und gegen vielzitierte Legenden und ideologische Deutungskorsette versprechen. Diese Programmatik löst Sperber systematisch ein, indem er Marx’ Leben und Wirken bei weitem nicht nur ideen- und politikgeschichtlich, sondern vor allem auch kultur- und sittengeschichtlich erzählt. Mit großer Aufmerksamkeit für Alltäglichkeiten, Gepflogenheiten, Werte und „übliche“ Erfahrungen von Marx’ Zeitgenossen, gelingt es ihm tatsächlich, Karl Marx als eine „Gestalt des 19. Jahrhunderts“ (S. 7) darzustellen – und zwar nicht als verbitterten, doktrinären und autoritären Exildeutschen, sondern als leidenschaftlichen, lernenden, suchenden und irrenden Republikaner, Anti-Preußen und Europäer. Liest man Sperbers Arbeit parallel zu Tristam Hunts meisterhafter Biografie Friedrich Engels’2 so zeigt sich, dass die dringend nötige postideologische Historisierung dieser außerordentlichen Männerfreundschaft samt ihrer gewaltigen, ambivalenten ideengeschichtlichen Resonanz ein gutes Stück vorangekommen ist.

Sperber strukturiert seine Erzählung chronologisch und orientiert sich dabei jeweils an der Rolle, die Marx zu verschiedenen Zeitpunkten seines Lebens spielte, spielen wollte bzw. spielen musste. Die drei großen Teile „Prägung“ (1818–1847), „Kampf“ (1848–1869) und „Vermächtnis“ (1870–heute) umreißen dafür eine Art Metaebene. Diese Gliederung erlaubt einerseits einen flüssigen, linearen Gang durch die Biografie dieses Mannes, seiner engsten Familie und politischen Weggefährten, und sie entfaltet seiner Leserschaft einen wirklich langen Blick auf das 19. Jahrhundert. Marx’ Leben, Denken und Wirken werden gründlich eingebettet in die Nachwehen der Französischen Revolution und napoleonischen Herrschaft, die erdrückende Dominanz des autoritären Preußens über 1848er Revolution, Kriege und Reichsgründung hinweg und die mühsamen, von immer breiterem intellektuellen Engagement getragene (und belastete) Versuche demokratischer und sozialkritischer Organisation von unten. Andererseits entsteht durch diese diachrone Rollenteilung – Sohn, Student, Redakteur, Emigrant, Revolutionär, Umstürzler, Exil, Beobachter, Aktivist, Theoretiker, Ökonom, Privatmann, Veteran, Ikone – ein eher fragmentarisches Portrait eines Mannes, der doch mit hoher Stringenz und Zielstrebigkeit vom Jugendalter an ein außergewöhnlich intensives, ja obsessives Interesse am Zeitgeschehen sowie an philosophischen, politischen und ökonomischen Fragen verfolgte. Viele der genannten Rollen nahm Marx sein ganzes Leben lang ein. Vor allem verstand er sich stets als Revolutionär und Theoretiker zugleich, als analytischen Denker, dessen Analyse zugleich immer auch Kritik war (S. 114). Sperber bricht diese Rollenteilung auch selbst in seiner Erzählung, indem er Marx wiederholt als „Gelehrten ohne Lehrstuhl“ (S. 194) und „radikalen Gelehrten“ (S. 355) charakterisiert.

Ungeachtet dessen gelingt Sperber eine äußerst lebendige, aus bekannten wie bisher negierten Quellen (die vollständige MEGA, Erinnerungen diverser Zeitgenossen) herausgearbeitete Studie, die intellektuelle und publizistische Meilensteine, politische Aktivitäten und Privatleben stets elegant miteinander verbindet. Gelegentlich kann er sogar zeigen, wie diese sich gegenseitig beeinflussten, etwa am Beispiel der Stirner-Diskussion in „Die deutsche Ideologie“, deren bizarre Langatmigkeit als Zeugnis eines freundschaftlichen Versöhnungsakts zwischen Marx und Engels gelesen werden kann (S. 188) oder am nachhaltigen Eindruck, den die Pariser Zeit in Marx’ politischer Imagination hinterlassen hatte (S. 158). Überhaupt thematisiert Sperber durchweg die „Dialektik“ zwischen lebensweltlichen Erfahrungen, vor allem die ständige familiäre Notlage und die endlosen Konflikte mit politischen Gefolgsleuten und Gegnern und politischer Weltanschauung, deutet Marx’ oft erratisches, bissiges und ungeschicktes Argumentieren und Lavieren relativ milde als Folge seines ungeduldigen Temperaments, Wissens- und Veränderungshungers (S. 182ff., 195, 368, 566). Seinen „zwanghaften“ Hang zur Polemik bis hin zum „Selbstzweck“ (S. 172, 176, 295) und zur stets „personalisierten“ politischen Auseinandersetzung (S. 376) beurteilt Sperber recht wohlwollend als versteckte „Selbstkritik“ (S. 171ff., 182ff., 295) und notwendige Begleitmusik einer bedingungslosen Revoluzzer-Existenz. Die Abrechnungen mit den junghegelianischen Intellektuellen oder den gescheiterten demokratischen Revolutionären von 1848/49 in „Das Elend der Philosophie“ und seinem „Meisterwerk“ über den „Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“ erscheinen so nicht als Zeugnisse eines abrupten und damit erklärungsbedürftigen Umdenkens, sondern als heimliche Revisionen früherer Positionen. Überhaupt kann Sperber das Erratische in Marx’ Theorie und Politik – auch wenn er es wie am Beispiel der Kölner Ereignisse 1848/49 fulminant, atem- und absatzlos erzählt (S. 239–43) – nur begrenzt erklären. So werden die Gründe für Marx’ plötzliche Hinwendung zu Sarkasmus und Polemik in seinen journalistischen Arbeiten ab 1842 (S. 90) oder sein Umschwenken vom antipreußischen Republikaner zum Arbeiterklassenaktionismus im Frühjahr 1849 nicht wirklich nachvollziehbar (S. 242f.).

Zudem bleibt jenes epochale Zeitgeschehen, auf das Marx mit seinen Schriften und Aktivitäten jenseits des philosophischen Diskurses reagierte, eigentümlich vage. Zwar verweist Sperber ausführlich auf die gnadenlosen und grenzübergreifend wirksamen polizeistaatlichen Rahmenbedingungen, die Marx’ Existenz physisch und mental prägten. Der Kampf für eine demokratische „Emanzipation“ des „produzierenden“ Menschen als „Gattungswesen“ wird erst vor dieser Folie als Notwehr-Bewegung verständlich. Es mangelt aber an sozialgeschichtlicher Einbettung von Marx’ sozialpolitischer Kritik. Die Dringlichkeit der „Sozialen Frage“ (den Ausdruck hielt Marx freilich für eine euphemistische „Zeitungsschreiberphrase“3), blendet Sperber nur ganz selten explizit ein – noch am ehesten in seiner Analyse der Entstehung des ‚Kapital‘ (S. 437ff.). In der Folge bleiben die sozialen Folgeerscheinungen des modernen Kapitalismus, denen Marx im Rheinland, in Paris, Brüssel und London auf vielfältige Weise begegnete, recht unscharf. Interessant ist dabei gerade Sperbers Beobachtung, dass Marx’ Vorstellung von sozialer Not „selektiv“ und fast vollständig auf Bücherwissen und Statistiken basierte – zumindest in Bezug auf die entsprechenden Abschnitte im ‚Kapital‘ (S-438). Dass seine eigene Erfahrung in und mit der kapitalistischen Matrix, die er systematisch zu entschlüsseln suchte, jenseits seiner erst ab 1860 stabileren finanziellen Existenz weit darüber hinausgegangen sein muss, thematisiert Sperber leider nicht.

Es bleibt eine beeindruckende Leistung dieser maßstabsetzenden, längst überfälligen Biografie, den Mann Karl Marx in einer Art Panoramasicht für den Leser und die Leserin des frühen 21. Jahrhunderts wiederentdeckt zu haben. Vielleicht hätte sich Sperber weniger um das Aktualisierungsbedürfnis scheren sollen, das nicht erst heutzutage fast jede Referenz an Marx durchdringt, oder er hätte anerkennen können, dass dieses auch zu sehr anregenden kulturwissenschaftlichen oder sozialgeschichtlichen Fragestellungen führen kann.4 Dass er das Bild von Marx als „einem Zeitgenossen, dessen Ideen die moderne Welt prägten“, gleich am Beginn seiner Studie für „überholt“ (S. 9) erklärt und damit die Frage nach der unbestrittenen Wirkmacht seiner Gedanken und Begriffe von vornherein ausklammert, schmälert das Erklärungspotential seinen Ansatzes merklich. Denn in der Antwort auf die Frage nach der bleibenden Faszination des „marxschen“ Denkens liegt wohl auch ein Schlüssel zum Verständnis und zur Spezifik der intellektuellen Leistung eines „radikal“-kritischen Zeitgenossen, der unermüdlich auf die Evidenz und Veränderungskraft vermeintlich „wissenschaftlicher“, „objektiver“, auf die „materiale“ Wirklichkeit gerichteter Erkenntnisfähigkeit hoffte und pochte. Nicht zuletzt darin war er zugleich Adept „seines“ Jahrhunderts und Prophet eines bis heute wirkenden, folgenreichen Machbarkeitsglaubens.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu die sehr nützlichen, eher an ein breites Publikum gerichteten Überblicke: Karl Marx. Der Prophet der Krisen. ZEIT Geschichte, Nr. 3, 2009; sowie: Der Kapitalismus und seine Kritik. Neue Gesellschaft – Frankfurter Hefte, 4, 2012.
2 Tristram Hunt, Friedrich Engels. Der Mann, der den Marxismus erfand, Berlin 2012.
3 Karl Marx, Randglossen zum Programm der deutschen Arbeiterpartei [1875], hier zit. n.: Karl Marx, Friedrich Engels, Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. IV, Berlin (Ost), 1988, S. 395.
4 Vgl. z.B. Bernd Ternes, Karl Marx. Eine Einführung, Konstanz 2008, oder Marcel van der Linden (Hrsg.), Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts, Berlin 2009.

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