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Titel
Jugenddelinquenz. Die Produktivität eines Problems in den USA der späten 1940er bis 1960er Jahre


Autor(en)
Mackert, Nina
Reihe
Konflikt und Kultur – Historische Perspektiven 30
Erschienen
Konstanz 2014: UVK Verlag
Anzahl Seiten
337 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bodo Mrozek, Freie Universität Berlin / Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Wir kennen sie als zornige junge Männer in Blue Jeans oder als skeptische junge Frauen mit selbstbewusstem Blick unter getuschten Wimpern, die Hände trotzig in die Hüfte gestemmt oder wütend zur Faust geballt. In der amerikanischen Popkultur ist der bzw. die juvenile delinquent eine emblematische Figur. Marlon Brando und Gloria Castillo haben sie in „JD-Movies“ wie The Wild One oder Reformschool Girl verkörpert. Als der 15-jährige Sänger Frankie Lymon mit dem Stück I‘m Not A Juvenile Delinquent 1957 einen Hit landete, ließ sich sein Refrain auch als Protest gegen diese zum Klischee geronnene Figur hören – und damit als Beitrag zu einer gesellschaftlichen Debatte, die gerade ihren Zenit erreichte.

Nicht nur die noch junge Popkultur orchestrierte in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre die Angst vor Jugenddelinquenz. Sondern auch Massenmedien, Expertendiskurse und die Politik – seit den öffentlichen Hearings eines Untersuchungsausschusses des US-Senats zum Thema auch auf nationaler Ebene. Nina Mackert analysiert nun, wie diese „delinquency scare“ in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen hervorgebracht wurde und diese dadurch nachhaltig veränderte. Wie sie in der Einleitung ihrer Dissertationsschrift klarstellt, geht es ihr dabei dezidiert nicht darum, zu ermitteln „wie viele und welche Jugendliche warum ‚tatsächlich‘ von gesellschaftlichen Normen abgewichen sind“, da diese Fragen „Teil der Konstruktion von Jugenddelinquenz als Problem“ sind (S. 8).

Vielmehr interessiert sich die Erfurter Historikerin dafür, warum sich Jugenddelinquenz zu einer bestimmten Zeit als „eines der drängendsten gesellschaftlichen Probleme darstellte – drängender noch als Atomtests, Korruption und Segregation“ (S. 7). Dafür untersucht sie vier zentrale Felder, auf denen Delinquenz verhandelt wurde: Jugendstrafsystem/Polizei, Sozialarbeit, Schule sowie Familie. Der Delinquenz-Diskurs ist „produktiv“, weil er nicht nur das Problem selbst hervorbringt, sondern auch, weil er seinen Akteuren ermöglicht, sich anhand des Differenzbegriffes selbst neu zu konstituieren. Mit diesem Zugriff setzt sich Mackert von bisherigen Deutungen „repressiver Reaktionen“ von Erwachsenen ebenso ab wie von dem Protest-Begriff einer jugendlichen „Rebellion“ (S. 12).1

In ihren Hypothesen zeichnet sie schon den Begriff selbst als hochgradig konstruiert. Delinquenz war kein Synonym für die in den Paragraphen von Gesetzestexten definierte Kriminalität, sondern – mit Foucault gesprochen – ein Dispositiv, das „Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen“ umfasst (S. 49). Konkret wurden ganz unterschiedliche Handlungen vom Tabak- und Alkoholkonsum und Verstößen gegen nächtliche Ausgangssperren über Raub und Körperverletzungen bis hin zu Tötungsdelikten unter dem unscharfen Sammelbegriff der Delinquenz verallgemeinert.

Ein breit debattierter Fall war die brutale Tötung eines Obdachlosen durch vier Jugendliche im New York des Jahres 1954, die das zum Filmtitel gewordene Motiv von Kriminalität „without a cause“ zu illustrieren schien. Anhand der „Brooklyn Thrill Killers“ wurden unterschiedliche Begründungen von Delinquenz und mögliche Gegenmaßnahmen von der Prävention bis zur Strafverschärfung diskutiert. Typologien jugendlicher Täter unterschieden zwischen „natürlicher“ jugendlicher Instabilität und der als „true type delinquency“ charakterisierten problematischen Delinquenz.

Wie sehr solchen Entlastungs- bzw. Kriminalisierungslogiken rassistische Diskurse eingeschrieben waren, zeigt Mackert am Strafvollzug der USA auf: „Nicht-weiße und sozial benachteiligte Jugendliche wurden im Allgemeinen nicht nur häufiger als andere vor Gericht gebracht, sondern erhielten auch schwerere Strafen.“ (S. 69) Diese Unterscheidungen zwischen einer letztlich akzeptierten Rebellion weißer Jugendlicher zu der als Gefährdung hegemonialer Ordnungen gedachten Delinquenz von Nichtweißen spiegelten auch die Praktiken der Polizei wider. Schon in den frühen 1960er-Jahren erregte das Vorgehen von Polizisten gegen schwarze Jugendliche eine breite Kontroverse über Rassismus und Polizeibrutalität. Nina Mackert zeichnet nach, wie auch hier das Delinquenz-Dispositiv „produktiv“ war, da an ihm neue Aufgaben von Polizei debattiert wurden. Anstatt des strafenden Polizisten – Mackert illustriert das mit der popkulturellen Figur des schlagstockschwingenden Officer Krupke aus Leonard Bernsteins Musical West Side Story – wurden Polizisten zunehmend sozialpräventive Aufgaben zugewiesen. Teil dieser Aushandlungsprozesse waren Geschlechterkonzeptionen, die in der Forderung nach mehr weiblichem Polizeipersonal deutlich werden: „Weibliche Fürsorge“ sollte als Korrektiv zu „männlicher Härte“ dienen (S. 87).

Annahmen über die Rückfallkriminalität führten auch zu Verschiebungen der Aufgaben des Jugendstrafvollzugs: Anstelle punitiver Kontrolle präferierten Richter und Psychologen nun zunehmend einen therapeutischen Zugriff auf Jugendliche (S. 62). Diese neuen Aufgabenzuschreibungen brachten auch neue Berufsbilder wie das des Streetworkers hervor, der Jugendliche in den „Problemvierteln“ direkt erreichen sollte. Am Beispiel der Operation Streetcorner und des New York Youth Board zeichnet Mackert den Streetworker als eine zumeist männliche Figur, die einerseits mit einem als authentisch ausgegebenen biographischen Wissen (etwa einer eigenen schweren Kindheit) das Vertrauen von Jugendlichen erwerben sollte, gleichzeitig aber nicht wie behauptet prinzipiell unparteiisch war, sondern Jugendliche gegebenenfalls der Strafverfolgung zuführen sollte. Mit Streetwork erhoffte man sich die Prävention von Gang-Delinquenz, die als zentrales innenpolitisches Problem galt.

Diese Debatte war eng verbunden mit derjenigen um die „Zustände“ an amerikanischen Schulen, wie sie der Kinofilm Blackboard Jungle 1955 fiktionalisiert hatte. Nachdem 1957 unter dem Schutz der Nationalgarde die Aufhebung der Rassentrennung in Little Rock durchgesetzt worden war, manifestierten sich Ängste vor einer „Gefährdung der weißen Suprematie“ in Expertisen über Delinquenz, die mit Zahlen über die Schwangerschaften junger Afroamerikanerinnen rassistische Stereotypen bedienten (S. 162). Die Kriminalisierung von Schulabbrechern, so genannter Dropouts, trug laut Mackert weiter zur Rassialisierung schulischer Delinquenz bei: Kriminalität galt als Resultat mangelnder Bildung, was zur weiteren Kriminalisierung „bildungsferner“ Jugendlicher und neuen schulischen Zwangsmaßnahmen führte.

Die „delinquency scare“ betraf aber nicht nur öffentliche Institutionen, sondern konstituierte vor dem Hintergrund zeithistorischer Bedrohungslagen wie Kaltem Krieg und Sputnik-Schock auch die Familie als interventionsbedürftiges Territorium. Die heterosexuelle Kernfamilie der weißen Mittelschicht galt vielen Experten als „gesunde“ Norm und die Abwesenheit von Vätern als hinreichende Begründung für Fehlentwicklungen Jugendlicher. Aber auch Narrative falscher Mütterlichkeit, etwa der berufstätigen „egoistischen“ Mutter oder des überfürsorglichen „mommyism“, gewannen an Bedeutung. Familie wurde so zu einem von Normalitätsvorstellungen determinierten Gebiet, in das der Staat anleitend und beratend (etwa durch Hausbesuche) eingreifen konnte. Die Einführung von „parental responsibility laws“ ermöglichte es schließlich auch, Eltern für die Delinquenz ihrer Kinder zu bestrafen, wie Mackert an Fallbeispielen illustriert.

Als Quellen ihrer Untersuchung dienen Medien- und Expertendiskurse sowie Akten von Behörden und nicht-staatlichen Organisationen. Durch den Fokus auf Schriftdokumente droht jedoch eine Gruppe vernachlässigt zu werden: die Jugendlichen selbst. Mackert wertet zwar am Schluss auch Briefe Jugendlicher an den Unterausschuss des Senats zur Jugenddelinquenz aus. Um auch weniger artikulierte Jugendliche in den Blick zu nehmen, wäre an dieser Stelle aber eine Erweiterung auch auf nichtsprachliche Diskurse etwa von Körperhaltungen oder vestimentären Zeichen hilfreich gewesen. Auch hätte sich stärker problematisieren lassen, ob Jugendliche die angebotenen Diskurse und Stereotypen von Delinquenz nicht nur in Sprechhaltungen als Subjektivierungsressourcen nutzten, sondern womöglich auch in manifestem Gewalthandeln „produktiv“ machten.

Das sind jedoch Minimaleinwände. Nina Mackert gelingt es geradezu beispielhaft, in ihrem klar strukturierten Buch mit Hilfe des diskursanalytischen Verfahrens nachträgliche Werturteile aus heutiger Sicht zu vermeiden. Stattdessen umkreist sie auf 337 Seiten den Delinquenz-Diskurs als einen „produktiven Signifikanten“, der in einem spannungsreichen Prozess von unterschiedlichen Seiten mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen wurde und die untersuchten Bereiche Justiz, Polizei, Sozialarbeit, Schule und elterliche Erziehung maßgeblich veränderte.

Ihre Arbeit reicht daher weit über das Thema der Jugendkriminalität im engeren Sinne hinaus und bietet ein weit gefächertes Panorama der US-amerikanischen Gesellschaft der 1940er- bis 1960er-Jahre. Sie überwindet die künstlichen kalendarischen Epochengrenzen zwischen den Dezennien und leistet einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung der Therapeutisierung von Gesellschaften. Man kann daher nur hoffen, dass ihre Studie weit über das Feld der historischen Jugend(kriminalitäts)forschung hinaus gelesen und so breit diskutiert werden wird, wie sie es zweifellos verdient.

Anmerkung:
1 Vgl. etwa James Gilbert, A Cycle of Outrage. America’s Reaction to the Juvenile Delinquent in the 1950s, Oxford 1986; Eric C. Schneider, Vampires, Dragons, and Egyptian Kings. Youth Gangs in Postwar New York, Princeton 1999; Sebastian Kurme, Halbstarke. Jugendprotest in den 1950er Jahren in Deutschland und den USA, Frankfurt am Main 2006.

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