Titel
Sport im Abseits. Die Geschichte der jüdischen Sportbewegung im nationalsozialistischen Deutschland


Autor(en)
Wahlig, Henry
Erschienen
Göttingen 2015: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
264 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörn Esch, Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Die Zeiten, in denen Auseinandersetzungen mit der Geschichte des Sports ein eher randständiges Dasein in der Geschichtswissenschaft fristeten, sind vorbei. Wenngleich er wohl noch nicht im geschichtswissenschaftlichen ‚Mainstream‘ angekommen ist, so lässt sich spätestens für die 1990er-Jahre eine deutliche Konjunktur historiographischer Studien zum Sport verzeichnen. Das heißt allerdings noch lange nicht, dass die Geschichte(n) des Sports nunmehr erschöpfend untersucht und erzählt worden wären. Eine solche Geschichte untersucht Henry Wahlig in seiner zu besprechenden Studie, die als Dissertation am Lehrstuhl für Sportwissenschaft der Leibniz Universität Hannover entstanden ist.

Bisher seien zwar, so konstatiert Wahlig einleitend, nahezu unzählige Arbeiten zum jüdischen Leben im Nazi-Deutschland erschienen, jedoch hätten der Sport und seine „Bedeutung im Alltagsleben der Juden in der NS-Zeit“ (S. 9) kaum Berücksichtigung gefunden. Um diese Lücke zumindest ansatzweise zu schließen, widmet er sich den Bedingungen unter denen jüdisches Sportleben in diesem Zeitraum möglich war. Allerdings, darin liegt ein Gewinn dieser Studie, beschränkt sich Wahlig nicht auf die Rekonstruktion von Organisationsstrukturen und ihrer Umbildungen, sondern will diesen die Perspektive jüdischer Sportler/innen gleichberechtigt zur Seite stellen. Entsprechend dieser doppelten Blickrichtung stützt er sich auf das organisationshistorische Instrumentarium Martin Gierls. Wahlig fragt also nicht danach, „was“ organisiert wurde, sondern „wie“ (S. 17). Während in dieser Hinsicht der Blick vor allem auf die Binnenstruktur jüdischen Sportlebens gerichtet wird, will Wahlig zudem auf „Erkenntnisse der jüngeren historischen Raumsoziologie“ (S. 19) zurückgreifen, um die räumlich sichtbare und konkret erfahrbare Ausgrenzung jüdischen Sportlebens zu erfassen. Im Unterschied zum organisationshistorischen Ansatz, der die Arbeit deutlich strukturiert, bilden die raumsoziologisch argumentierenden Überlegungen eher punktuelle Elemente der Analyse.

Wahlig greift für seine Studie auf ein beeindruckend breites Quellenkorpus zurück. Neben zahlreichen Dokumenten aus deutschen Archiven, die vorwiegend eine Außensicht auf die Organisationen bieten, hat er für die Binnensicht auf Archivalien aus verschiedenen ausländischen Archiven (unter anderen Jerusalem, London und New York) zurückgegriffen. Einen zweiten Eckpfeiler bilden jüdische Zeitungen. Wahlig hat sechs überregionale Zeitungen hinsichtlich ihrer Sportberichterstattung ausgewertet. Das Spektrum der Periodika erstreckt sich von zionistischen Positionen bis hin zu solchen, die eher dem patriotisch-nationalistischen Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) zuzurechnen sind. Die Perspektive der jüdischen Sportler/innen rekonstruiert Wahlig vornehmlich anhand von Zeugnissen aus dem Bereich Oral History. In diesem Zusammenhang greift er auf verschiedene gedruckte Quellen, bereits anderweitig publizierte Interviews sowie auf eigene Gespräche mit Zeitzeug/innen zurück. Analytisch werden diese Zeugnisse allerdings nicht weiter problematisiert, sondern fungieren als beweishafte Rückblenden.

Die Studie ist mit insgesamt zehn Kapiteln sehr fein gegliedert, worunter die argumentative Kohärenz an manchen Stellen leidet. Nach dem einleitenden Kapitel schildert Wahlig zunächst die Geschichte der „Juden im Sport vor 1933“ (S. 31). Dabei nennt er unter anderem antisemitische Strömungen in der Turnbewegung, verschiedene jüdische ‚Sportpioniere‘ oder den jüdischen Sport als Teil sportiver Massenkultur in der Weimarer Republik. Einen ersten Schritt in Richtung seines Untersuchungszeitraums unternimmt er im folgenden Kapitel. Hier skizziert er knapp, dass und wie jüdische Mitglieder nach der nationalsozialistischen Machtübernahme und ohne behördliche Weisung aus den Vereinen der bürgerlichen Turn- und Sportbewegung ausgeschlossen wurden. Während dieser ‚vorauseilende Gehorsam‘ in der sporthistorischen Forschung schon lange bekannt ist, bietet Wahlig im letzten Abschnitt über die „Auslöschung jüdischer Sportler aus der deutschen Sportgeschichte“ (S. 66) eine interessante erinnerungskulturelle Facette. Anhand von zwei Fotografien aus Festschriften des TV Lemgo zeigt er, wie jüdische Mitglieder aus dem „visuellen Gedächtnis der Vereine“ (S. 67) getilgt wurden. So nutzten die Produzenten der Festschrift von 1937 zwar eine Fotografie von 1932, die die damaligen Vereinsmitglieder zeigte, entfernten in einer raffinierten Retusche jedoch den jüdischen Schatzmeister aus dem Original von 1932. Ob der Schatzmeister auch aktiver Sportler war oder Wahlig Funktionäre prinzipiell zur Gruppe der Sportler/innen zählt, bleibt unklar. Konkret auf Sportler bezogen schildert er ähnliche bildpolitische Vorgänge auch für die Fotografien jüdischer Fußballnationalspieler, die noch 1988 im Sammelalbum des Sportmagazins ‚Der Kicker‘ fehlten.

In den folgenden sechs Kapiteln setzt sich Wahlig intensiv mit dem jüdischen Sport während des Nationalsozialismus auseinander. Von diesen Kapiteln sind je drei vor beziehungsweise nach den Olympischen Spielen von 1936 situiert. Kapitel 4 ist mit knapp siebzig Seiten das mit Abstand längste Kapitel der gesamten Studie und beinhaltet vor allem die organisationshistorische Entwicklung des jüdischen Sports zwischen 1933 und 1936. In einem ersten Schritt erläutert Wahlig die rechtliche Dimension, um dann in zwei weiteren Abschnitten auf die beiden wichtigsten Organisationen des jüdischen Sports zu sprechen zu kommen: den deutschen Makkabikreis und den Sportbund Schild. Im Kontext der rechtlichen Diskriminierung zeichnet er ein beeindruckend breites Panorama, welches von der verwaltungsrechtlichen kommunalen Ebene über die konkrete sportliche Interaktion bis hin zum Verbot der Teilnahme am Deutschen Sportabzeichen reicht. Anregend erweist sich in diesem Kontext auch Wahligs Auseinandersetzung mit der „Verdrängung jüdischer Besucher aus Badeanstalten“ (S. 91), die er in eine enge Beziehung zum sehr viel älteren Topos des ‚brunnenvergiftenden Juden‘ setzt. In den beiden folgenden Abschnitten zum Makkabikreis und zum Schild zeigt er, wie diese beiden vor 1933 nahezu bedeutungslosen Sportverbände nach der nationalsozialistischen Machtübernahme zu organisatorischen Sammelbecken für fast alle jüdischen Sportler/innen wurden. Hier liegt eine Stärke der Studie, die zeigt, wie der Sport seitens der Verbände auf ganz unterschiedliche Weise eingesetzt wurde. Sollte er im Makkabi, vor allem in Form der äußeren Aufmachung von Sportfesten, dezidiert zu einem „zionistische[n] Gemeinschaftserlebnis“ (S. 106) beitragen, so galt er im Schild als eine Möglichkeit zur „Wiederannäherung des Verbandes [d.h. des gesamten RjF] an die deutsche Mehrheitsgesellschaft“ (S. 130).

Während Kapitel 4 vorwiegend die divergierenden Orientierungen der Verbände nach ‚Außen‘ ausweist, so konturiert Wahlig anschließend das Verhältnis der Verbände zueinander und situiert dieses „im Spiegel innerjüdischer Gegensätze“ (S. 140). Bis zu den Olympischen Spielen war das Verhältnis vor allem durch schroffe Gegensätze geprägt, wie Wahlig etwa anhand der unterschiedlichen Positionen zu den so genannten „Ostjuden“ (S. 143) andeutet. Auf den insgesamt neun Seiten des Kapitels verbleibt er jedoch bei solchen Andeutungen, weshalb die Verortung des Sports innerhalb ‚innerjüdischer Gegensätze‘ daher eher kursorischen Charakter hat. Auch das sechste Kapitel, in welchem er die Verhältnisse zwischen jüdischem Sport und Olympischen Spielen untersucht, ist sehr knapp. Unklar bleibt, warum er die zahlreichen Schriften, die zu einem weltweiten Boykott der Olympischen Spiele aufriefen, unberücksichtigt lässt. In einer Fußnote zu diesem Quellenmaterial führt Wahlig die wenig überzeugende Erklärung an, dass sich in diesen Texten zwar „teils hoch interessante Zeugnisse über die Ausgrenzung jüdischer Sportler“ fänden, er diese aber deshalb nicht berücksichtigen könne, da sie keinerlei „Belege oder Zitationen“ enthielten (Fußnote 1, S. 150). Inhaltlich bietet Kapitel 6 sowohl einen Überblick zu den verschiedenen Barrieren, denen sich jüdische Sportler/innen im Rahmen der Qualifikationen für die Spiele gegenübersahen, als auch Rezeptionen des Ereignisses ‚Olympia 1936‘ in der zionistischen und assimilationsorientierten jüdischen Presse. Abschließend konturiert Wahlig die formale Zensur jüdischer Presseorgane sowie die „Schlupflöcher“ (S. 161), derer sich die Zeitungsmacher/innen bedienten.

Der jüdische Sport nach den Olympischen Spielen von 1936 steht im Zentrum der folgenden drei Kapitel. Zunächst erläutert Wahlig im siebten Kapitel wiederum die Diskriminierungen jüdischer Sportler/innen auf rechtlicher Ebene, um dann auf die gemeinsamen Probleme des Schild und des Makkabikreises zu sprechen zu kommen. Zum Abschluss dieses Kapitels zeigt Wahlig, dass sich zwar die Probleme ähnelten, der Umgang mit diesen jedoch deutlich divergierte. Orientierte sich nämlich der Schild nach wie vor an der bürgerlichen Sportbewegung, so wandte sich der Makkabi Zielen zu, die bereits vor 1933 formuliert worden waren. Anders als in den ersten Jahren der NS-Diktatur verschrieben sich die Mitglieder des Makkabi nämlich nicht mehr dem eher wettkampforientierten Sport, sondern zielten verstärkt auf kollektivistischen „‚Volkssport‘ oder ‚Massensport‘“ (S. 174) – nicht zuletzt, um die Mitglieder auf die Auswanderung nach Erez Israel vorzubereiten.

Das achte Kapitel gilt den „Funktionen des Sports im jüdischen Alltagsleben“ (S. 189), denen sich Wahlig zunächst über organisationshistorische Aspekte, wie den Mitgliederzahlen sowie der strukturellen und finanziellen Unterstützung der Sportverbände durch jüdische Gemeinden nähert. Dabei schlägt er zum Teil den Bogen zurück in die Weimarer Republik oder sogar bis ins 19. Jahrhundert, um auf diese Weise die Brüche und Kontinuitäten der Debatten über den Sport in den jüdischen Gemeinden aufzuzeigen. Das wiederum sehr kurze neunte Kapitel enthält kursorische Notizen über den jüdischen Sport „nach dem 9. November 1938“ (S. 211). Interessant sind Wahligs Befunde, dass der Sport weiterhin einen integralen Bestandteil jüdischen Lebens bilden konnte, obwohl Vereine und Verbände im Winter 1938/39 aufgelöst wurden. So waren sportliche Aktivitäten integraler Bestandteil der Lehrpläne jüdischer Schulen und von Hachschara-Zentren, in denen Menschen für die Auswanderung nach Erez Israel vorbereitet werden sollten.

Wahlig wird dem selbst gestellten Anspruch seiner Studie nur zum Teil gerecht. Während sowohl in der Einleitung als auch im Klappentext deutlich hervorgehoben wird, dass mit Sport im Abseits erstmals ein Blick auf die Bedeutung des Sports für das jüdische Alltagsleben geworfen würde, widmet sich der Verfasser überwiegend organisationshistorischen Themen. Obgleich der Fokus auf das ‚Wie‘ des Organisierens von Sport durchaus zu überzeugen vermag, bleibt die Bedeutung des Sports im Alltagsleben unklar. Diese Unklarheit rührt nicht zuletzt daher, dass Wahlig eine genaue Erläuterung dessen, wie das Verhältnis zwischen Alltagsleben und Sport analytisch zu fassen wäre, schuldig bleibt. Verstärkt wird der Eindruck, dass es sich vorwiegend um eine organisationshistorische Studie handelt, durch die bereits monierte, sehr unterschiedliche Gewichtung einzelner Aspekte. Alltagshistorisch interessanten Aspekten, wie etwa dem „Verhältnis von Makkabi- und Schild-Sportlern an der Vereinsbasis“ (S. 149), weist Wahlig zwar ein eigenes Unterkapitel (5.5) zu – dieses umfasst jedoch nicht mehr als eine halbe Druckseite. Die kleinteilige Gliederung trägt nicht nur dazu bei, dass die Gewichtung der einzelnen Aspekte in ihrem Verhältnis zueinander unklar bleibt, sondern sie schmälert auch den Gesamteindruck: es bleibt unklar, was Wahligs zentrales Anliegen jenseits einer Organisationsgeschichte ist.

Ungeachtet dieser Kritik, ist die Lektüre von Wahligs Studie durchaus zu empfehlen. Zum einen bietet sie einen hervorragend recherchierten und zugleich gut lesbaren Überblick über die Geschichte des Organisierens jüdischen Sports im NS-Deutschland. Zum anderen kann die Studie, dank des mehr als zehnseitigen und kommentierten Personenregisters als Ausgangspunkt für biographische oder prosopographische Studien dienen. Entsprechend kann, bei aller Kritik, Wahligs Schlussbemerkung, dass nämlich die Untersuchung jüdischen Sportlebens mit dem Ende seiner Studie noch inmitten ihrer Anfänge stecke, durchaus als Empfehlung gelten. „Sport im Abseits“ steckt gewissermaßen das Terrain ab, innerhalb dessen weitere Studien zur Geschichte jüdischen Sportlebens angesiedelt werden können.

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