J.-O. Hesse u.a. (Hrsg.): Wirtschafts- und Sozialgeschichte

Cover
Titel
Perspectives on European Economic and Social History – Perspektiven der Europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte.


Herausgeber
Hesse, Jan-Otmar; Kleinschmidt, Christian; Reckendrees, Alfred; Stokes, Ray
Reihe
Wirtschafts- und Sozialgeschichte des modernen Europa 1
Erschienen
Baden-Baden 2014: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Logemann, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Georg-August-Universität Göttingen

„Perspectives on European Economic and Social History“ will Europa wieder zu einer zentralen Analyseeinheit der Wirtschaftsgeschichte machen. Das Buch ist der erste, vorwiegend englischsprachige Band einer neuen Reihe zur „Wirtschafts- und Sozialgeschichte des modernen Europa“. Ihr Ziel ist es, neue Impulse für eine genuin europäische Untersuchungsperspektive zu geben. Zwischen Globalgeschichte und Nationalstaat sei Europa in der wirtschafts- und sozialhistorischen Geschichtsschreibung aus dem Blick geraten. Die Reihe lädt explizit zu transnationalen Perspektiven und einem Methodenpluralismus ein und will für qualitative und quantitative Studien ebenso offen sein wie für sozialhistorische Analysen oder unternehmensgeschichtliche Arbeiten. Der vorliegende Band soll dazu zunächst einen Überblick über zentrale Forschungsfelder bieten und zeigt sowohl die Potentiale als auch grundlegende Herausforderungen eines solchen Vorhabens auf.

Europäische Geschichte als Forschungslücke zu benennen und neue wirtschaftshistorische Studien zu diesem Thema anzuregen, ist sicherlich begrüßenswert. Vergleichende Arbeiten wie die des Sozialhistorikers Hartmut Kaelble haben lange dazu beigetragen, Europa als Forschungsfeld für Wirtschafts- und Sozialhistoriker präsent zu halten. Neuere, genuin transnationale Studien zur Geschichte der europäischen Wirtschaft sind dagegen noch überraschend selten. Jüngere transnational interessierte Studien behandeln vor allem globale Wirtschaftsprozesse, multinationale Unternehmen oder transkontinentale Wertschöpfungsketten seit der frühen Neuzeit. Der Sammelband setzt andere Akzente und versucht, Schlaglichter auf zentrale Strukturentwicklungen innerhalb Europas in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu werfen. Dabei bieten die Herausgeber eine breite Mischung an Beiträgen, denen es jedoch leider nur zum Teil gelingt, dem formulierten Anspruch der Reihe zu entsprechen, substantiell über die bisherige Forschung zur europäischen Geschichte hinauszugehen und dezidiert neue Wege aufzuzeigen.

Neue transnationale Forschungsperspektiven, die gesamteuropäische Phänomene in globale Zusammenhänge stellen oder grenzüberschreitende Wirtschaftsräume untersuchen, sind auch in diesem Band eher die Ausnahme. Dagegen findet sich einerseits eine Reihe solider, handbuchartiger Überblicksartikel, die zwischen historischen Sozialwissenschaften und wirtschaftsgeschichtlichen Ansätzen variieren und besonders die Zeit nach 1945 in den Blick nehmen. So fasst Stefan Berger die jüngere Forschung zu sozialen Bewegungen in Europa pointiert zusammen und weist dabei auf drei Aspekte hin, die ein Korrektiv zu traditionellen Perspektiven auf die „neuen sozialen Bewegungen“ bieten sollen. Berger verweist erstens auf Vorläufer dieser Bewegungen im ausgehenden 19. Jahrhundert, bricht zweitens eine Lanze für die bleibende Bedeutung der älteren Arbeiter- und Gewerkschaftsgeschichte und unterstreicht drittens die bedeutende Rolle von Bewegungen am „rechten Rand“ europäischer Gesellschaften. Einen ähnlich breiten Überblick bietet Jochen Oltmers Beitrag zu Arbeitsmigrationsregimen nach 1945. Die nationalstaatliche Perfektive zu durchbrechen hat in der Migrationsgeschichte eine lange Tradition, jedoch bleibt der Fokus hier, wie auch in anderen Beiträgen, stark auf Nordwesteuropa beschränkt. Mit Ausnahme Spaniens kommt Südeuropa kaum und Ostmitteleuropa fast gar nicht vor. Dies ist in Anbetracht der europäischen Bedeutung dieser Regionen für Migration im 19. und 20. Jahrhundert schade. Der starke Fokus auf Migrationspolitik, der die Migrantenperspektive weitgehend außen vor lässt, verstellt zudem ein wenig den Blick auf Europa als transnationalen Erfahrungsraum.

Der Band berücksichtig einerseits Felder die, wie die Arbeitsbeziehungen, seit Jahrzehnten zu den Kernthemen europäischer Wirtschafts- und Sozialgeschichte gehören, und bringt andererseits etwas jüngere Forschungsfelder wie die Konsumgeschichte in den Blick. Bernhard Ebbinghaus thematisiert die sozialpartnerschaftlichen Arbeitsbeziehungen nach 1945 unter besonderer Berücksichtigung ihrer Krise seit den 1980er-Jahren. Er vergleicht verschiedene europäische Modelle und die unterschiedliche Bedeutung von Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden, Tarifverträgen sowie einem mehr oder weniger interventionsfreudigem Staat in Skandinavien, Südeuropa und anderswo. Während Tarifverträge und Arbeitsbeziehungen als europäische Besonderheit in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung verloren, bildeten sich im Bereich des Konsums zum Teil neue spezifisch europäische Gemeinsamkeiten heraus. Emanuela Scarpellini synthetisiert die dynamische Forschung zur Entwicklung des europäischen Massenkonsums, die zwar den Vergleich zu den USA immer wieder sucht, aber plakative Annahmen von „Amerikanisierung“ inzwischen dezidiert ablehnt. Wohlfahrtsstaaten, koloniale Erfahrungen oder die Umweltbewegung haben europäischen Konsum auf eine sehr eigene Weise geprägt. Trotz gemeinsamem Markt bleiben regionale Unterschiede in Lebensstandard und Konsumstruktur jedoch so weit bestehen, dass Scarpellini auch heute noch nicht von einer europäischen Konsumgesellschaft sprechen mag.

Daneben bietet der Band ausgewählte Branchenstudien zu zwei sehr unterschiedlichen Feldern, der Finanz- und der Agrarwirtschaft. Youssef Cassis beschreibt die europäische Banken- und Finanzgeschichte seit 1945 und legt dabei recht klassisch den Blick auf die internationalen Finanzmärkte, ihre Institutionen und Zentren in Frankreich, Deutschland und vor allem Großbritannien. Die massive Ausweitung des Privatkundengeschäfts oder die Expansion des Hypotheken- und Verbraucherkreditwesens, die im Zusammenhang mit dem Wandel der Arbeits- und Konsumgesellschaften einen massiven Einschnitt im Europa der Nachkriegsjahrzehnte darstellten, bleiben so leider außen vor. Auch Mark Spoerers Beitrag zur Agrarpolitik, einem Herzstück gemeinsamer europäischer Wirtschaftspolitik in den vergangenen 60 Jahren, hebt stark auf die institutionelle Ebene ab und fragt nach Gründen des Erfolgs der Agrarlobby in Anbetracht der rapide schrumpfenden Bedeutung der Landwirtschaft im Europa des 20. Jahrhunderts.

Diese starke Betonung von Institutionen ist sicherlich eine Konsequenz der bisherigen Forschung zu Europa im späten 20. Jahrhundert, die den Kontinent vornehmlich als Institutionengefüge gefasst hat. So betont auch der Beitrag von Guido Thiemeyer die integrative Kraft europäischer Institutionen (schon seit dem 19. Jahrhundert) und setzt dabei wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Integration miteinander in Beziehung. Einen anderen, über den institutionellen Fokus hinausweisenden Weg bietet dagegen der abschließende Beitrag von Ben Wubs und Hein Klemann. Vorgestellt wird ein Forschungsprojekt der Universität Rotterdam, das den Rhein als europäische Wirtschaftsregion im 19. und 20. Jahrhundert untersucht. Dabei wird nicht nur auf Michael Porters regionale Clusteranalyse zurückgegriffen und nach der Rolle von Regionen als Analyseeinheit der Wirtschaftsgeschichte gefragt, sondern – genuin transnational – ebenso nach der grenzüberschreitenden wechselseitigen Bedingtheit des Aufstiegs der Ruhrindustrie und Rotterdams als dem Hafen Europas.

Neben diesem Blick auf regionale Verflechtungsräume scheint auch die von Ferry de Goey vorgestellte Untersuchung von europäischen Varieties of Capitalism (VoC) für das Programm einer neuen Wirtschafts- und Sozialgeschichte Europas vielversprechend zu sein. De Goey betont die Kontinuität unterschiedlicher regionaler Muster trotz Globalisierung, multinationaler Unternehmen und Europäischer Union. Er verbindet dies mit der Aufforderung an Historiker, das theoretische Gerüst des VoC-Ansatzes empirisch weiter auszufüllen. Der vorliegende Band kann diese Herausforderung noch nicht vollständig erfüllen. Dazu fehlen ein einheitlicher Zugriff oder ein gemeinsamer Fragenkatalog, wie sie der VoC-Ansatz hätte bieten können, und zentrale Aspekte wie etwa die Unternehmensgeschichte bleiben gänzlich unberücksichtigt.

Ein Problem des Bandes ist die recht enge zeitliche und geographische Schwerpunktsetzung, die zum Teil noch sehr stark den Kategorien des Europa vor 1989 verhaftet bleibt. So liegt der Fokus ganz eindeutig auf West- und Nordeuropa und auf den großen europäischen Staaten, während Südeuropa und andere Regionen nur am Rande in Erscheinung treten. Gerade Osteuropa aber darf kein Anhängsel moderner europäischer Wirtschaftsgeschichte sein, zumal es ein wichtiger Teil der europäischen Wirtschaft auch während des Kalten Krieges war. Gerade heute ist die Frage nach Kontinuitäten in der regionalen Wirtschaftsentwicklung vor 1989 und besonders vor 1939 spannend. Für die Reihe mag eine längerer zeitliche Perspektive bis ins 19. Jahrhundert, wie in einigen Beiträgen schon angedeutet, besonders vielversprechend sein und das Bewusstsein auch für die Reversibilität von Wirtschaftsintegration, dem freien Verkehr von Waren und Menschen sowie der Erfahrung von Transnationalität im europäischen Raum fördern. Auch mögen sich in der längeren Sicht neue Möglichkeiten einer gesamteuropäischen Periodisierung ergeben, der dem Europa der ökonomischen Institutionen ein Europa als wirtschaftlichen Erfahrungsraum gegenüberstellt.

Insgesamt bleibt dieser Band wie so viele Sammelbände doch recht disparat, liefert aber etliche Anregungen dafür, was die neue Reihe liefern könnte: Längsschnittstudien zu grenzüberschreitenden Wirtschaftsregionen, vergleichende Arbeiten zu Aspekten des VoC-Ansatzes, aber auch wahrhaft transnationale Studien zu grenzüberschreitende Arbeitsmärkten, europäisch agierenden Unternehmen oder Konsumentenprotesten. Dabei sollte auch offensiv an globalgeschichtliche Studien angeknüpft werden, wenn es etwa um die Kontinuitäten (post)kolonialer Strukturen in Europa geht. Zwei bereits erschienene Bände1 bilden einen vielsprechenden Auftakt. Es bleibt der Reihe zu wünschen, dass sie eine diverse Gruppe europäischer Autor/innen anzieht und ein genuin europäisches Publikum anspricht, das wohl vor allem englischsprachige Publikationen breit rezipieren wird.

Anmerkung:
1 Ute Engelen, Demokratisierung der betrieblichen Sozialpolitik? Das Volkswagenwerk in Wolfsburg und Automobiles Peugeot in Sochaux 1944–1980, Baden-Baden 2013; Miriam Bader-Gassner, Pipeline-Boom: Internationale Ölkonzerne im westdeutschen Wirtschaftswunder, Baden-Baden 2014.

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