K. Bruisch: Als das Dorf noch Zukunft war

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Titel
Als das Dorf noch Zukunft war. Agrarismus und Expertise zwischen Zarenreich und Sowjetunion


Autor(en)
Bruisch, Katja
Reihe
Beiträge zur Geschichte Osteuropas 47
Erschienen
Köln 2014: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
394 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Merl, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte, Universität Bielefeld

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand im Osten Europas der Agrarismus. Er setzte in den dominant agrarisch geprägten Volkswirtschaften auf einen Dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus, indem er den Eintritt in die Moderne auf Basis bäuerlicher Familienbetriebe für möglich hielt und eine anti-urbanistische Ausrichtung verfolgte. In Russland verbreitete er sich vor allem unter Ökonomen und Agronomen. Mit dem Konjunkturforscher N. Kondratjew und dem „Theoretiker der Bauernwirtschaft“ A. Tschajanow gehörten einige noch heute vertraute Namen zu den Vertretern. Ab 1917 erlangten Experten, die Anschauungen des Agrarismus vertraten, direkten Einfluss auf die Planung und die Entwicklung von Agrarkonzepten. Mit der Zwangskollektivierung verschwand mit dem bäuerlichen Familienbetrieb ihr Bezugspunkt. Viele der in der Sowjetunion verbliebenen Experten verloren ihren Posten und fielen Stalins Terror zum Opfer.

Während der mittelosteuropäische Agrarismus der Vergessenheit anheimfiel, erlebte seine russische Variante eine Renaissance: Mit der Ernüchterung über die Modernisierungstheorie erfolgte in der Entwicklungspolitik in den 1960er-Jahren eine Rückbesinnung auf die bäuerliche Landwirtschaft. Dabei wurde das Werk von Tschajanow wiederentdeckt. In der Sowjetunion betrieben prominente Agrarwissenschaftler in den 1980er-Jahren die Rehabilitierung dieser Experten. Ihre Anschauungen erlangten während der Perestroika sogar politische Bedeutung. Für ausländische Berater unerwartet propagierten einige Radikalreformer die Neugründung von kleinen, eigentlich nicht mehr zeitgemäßen „Fermer“-Wirtschaften. An der Wende zu den 1990er-Jahren entstanden in kurzer Zeit über 240.000 Fermer mit durchschnittlich 40 Hektar.

Es ist ein großes Verdienst von Katja Bruisch, mit ihrer „Kollektivbiographie“ den Blick auf den russischen Agrarismus als den in Vergessenheit geratenen Zusammenhalt dieser bedeutenden Wissenschaftler zu werfen. „Die parteiübergreifende Debatte über das Modernisierungspotential der bäuerlichen Landwirtschaft ist (…) noch nicht als eine eigene geistige Strömung identifiziert worden“. (S. 27) Bruisch präsentiert die Ideen-, Sozial- und Politikgeschichte des russischen Agrarismus und verortet die Agrarexperten in ihrer Zeit. Sie will klären, wie seine Anhänger die Autorität von Experten erlangten und wieso sich der Oktoberumsturz 1917 nicht als Zäsur in ihrem Wirken erwies (S. 20f.).

Im ersten Kapitel zeichnet Bruisch die Stufen zur Entwicklung des russischen Agrarismus nach (S. 31–98). Dabei gelingt es ihr, gut lesbar und verständlich die einzelnen, gedanklich aufeinander aufbauenden Entwicklungsstufen des Diskurses zu präsentieren. Sie behandelt den Agrarismus als wissenschaftliches Paradigma, als Genossenschaftsdiskurs, als gesellschaftliche Bewegung und als politisches Programm. Für die beteiligten Wissenschaftler war die Beschäftigung mit den Bauern Teil einer umfassenderen Auseinandersetzung mit dem Wesen und dem Schicksal Russlands. Ihnen ging es nicht um eine idealisierte bäuerliche Welt. Vielmehr entwickelten sie die Vorstellung von einer eigenen, „ländlichen Moderne“ (S. 23), die die Landbevölkerung und ihre Traditionen in den Entwurf eines ökonomisch und technologisch fortschrittlichen Russlands einband. Bruisch betont die zentrale Rolle des Konzepts der „werktätigen Bauernwirtschaft“ (S. 65f.). Die Ansicht, die Bauern verfolgten eine „spezifisch bäuerliche, 'nichtkapitalistische' Wirtschaftsstrategie“, „entsprang der negativen Konnotation des Kapitalismusbegriffs im Diskurs der russischen intelligencija“ (S. 66). Die Gruppe erwartete eine modernisierende Wirkung des Zusammenschlusses in Genossenschaften, die ihrer Ansicht nach auf dem Individuum aufbauten und nicht profitorientiert ausgerichtet waren (S. 68f.). „Indem sie sich untereinander vernetzten und Plattformen für kollektives Handeln etablierten, gelang es ihnen, die ländliche Moderne in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit als agrarpolitisches Leitbild zu etablieren“. (S. 79) Das Gelingen ihrer agronomischen Mission hing aber letztlich davon ab, dass die Bauern einen Sinn in ihren Ratschlägen sahen (S. 75). Die politische Konjunktur nach der Stolypinschen Agrarreform begünstigte die Akademisierung des Agrarismus. Die gezielte Förderung von landwirtschaftlicher Bildung und Forschung erlaubte die Konstituierung als Berufsgruppe (S. 80–82).

Im Hauptteil nimmt Bruisch die berufliche Praxis der Vertreter des Agrarismus als Experten in den Blick. Während des Ersten Weltkriegs gewann ihre Expertise auf dem Gebiet der Lebensmittelversorgung Bedeutung. Nach der Februarrevolution fiel ihnen die Aufgabe zu, die politischen Geschicke des Landes mitzugestalten. Das zweite Kapitel erzählt zugleich die Geschichte ihres Versagens (S. 99–178). Als auf die Bauern ausgerichtete Mitglieder der Provisorischen Regierung mussten sie konstatieren, dass diese mit ihrem Verständnis von demokratischen Spielregeln nichts anfangen konnten (S. 114–119). Bruisch spricht davon, dass „das Jahr 1917 der tragische Höhepunkt in der Geschichte des russischen Agrarismus“ war. Was mit „größtem Optimismus“ begann, „endete in einem Desaster“ (S. 119). Sie belegt, dass viele Experten nach ihrer traumatischen Erfahrung von 1917 stärker auf eine vom Staat gelenkte Entwicklung setzten. Der Oktoberumsturz spaltete dann die Gruppe zwischen Exil und Verbleiben im Lande. Einig seien sie sich nur in der Kritik an der Machtübernahme der Bolschewiki gewesen. Dennoch hätten sie den Oktoberumsturz nur bedingt als Zäsur erkannt. Er entzog den Experten jedoch die gemeinschaftsstabilisierenden Kommunikationsplattformen (S. 157f.). Die Exilanten rechtfertigten die Fortsetzung ihrer Tätigkeit mit einer baldig bevorstehenden Niederlage der Bolschewiki. Die im Lande Verbleibenden oder Anfang der 1920er-Jahre Zurückkehrenden passten sich den neuen Verhältnissen an.

Bruisch behandelt das Wirken der Experten im Sowjetregime ausführlich im dritte Kapitel (S. 179–257). Zuvor fragt sie, welche Motive die parteilosen Experten bewegten, ihre Sachkenntnis den neuen Machthabern zur Verfügung zu stellen (S. 146ff.). Sie betont dabei die beidseitig pragmatischen Interessen: Die Bolschewiki waren in den 1920er-Jahren auf die Expertise dieser hochkarätigen Wissenschaftler angewiesen. Als Experten wurden sie zu unentbehrlichen Ratgebern des Volkskommissariats für Landwirtschaft und bei der volkswirtschaftlichen Planung; zudem dominierten sie die Ausbildung von Agrarwissenschaftlern. Bis Ende der 1920er-Jahre blieben sie in leitenden Positionen und stärkten mit ihrem Renommee zugleich das des jungen Sowjetrusslands im Westen. Bolschewiki und Experten trafen sich in der Überzeugung, die Umgestaltung müsse sich nach Maßgabe von Wissenschaft und Vernunft vollziehen. Die Agrarexperten sahen im Staatsapparat ein Vehikel für die Modernisierung und zur Durchsetzung ihrer Agenda.

Das vierte Kapitel lenkt den Blick auf die Einzelschicksale und beginnt mit einer Schilderung der Aktivitäten im Exil, das Prag und Berlin zu Zentren des russischen Agrar- und Genossenschaftsdiskurses machte (S. 258–285). Die Exilanten fanden hier aber kein Interesse an ihrem für Russland entwickelten Konzept der Agrarmodernisierung, sodass ihre Ideen in Vergessenheit gerieten (S. 283). Einen Abschnitt widmet Bruisch dem Schicksal der Experten, die in Sowjetrussland im Zuge der Kampagnen gegen „bürgerliche Spezialisten“ 1929–1930 repressiert wurden (S. 286–301). Viele konnten ab 1931 wieder in untergeordnete Positionen zurückkehren, bevor sie 1937–1938 erneut verhaftet wurden. Ihre Hinrichtungen blieben geheim. Einzelne überlebten, nur N. Makarow erlangte noch zu Lebzeiten wieder wissenschaftliche Anerkennung. Bruisch resümiert, dass das Schicksal der „spätzarischen Eliten“ in der Sowjetunion keineswegs determiniert gewesen sei. Zwar verloren sie zu Beginn der 1930er-Jahre ihren Status als Experten, schon Ende der 1940er-Jahre war die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe aber kein gesellschaftliches Ausschlusskriterium mehr (S. 311). „Ihre Anpassung an die herrschenden Verhaltensmaßstäbe zeigt den Wunsch nach einer formellen Bestätigung ihrer Zugehörigkeit zum sowjetischen Wissenschaftssystem (…)“. (S. 306)

Schließlich behandelt Bruisch die „Konjunkturen der in- und ausländischen Rezeption“ und die „Wiederentdeckung“ ihrer Expertise als Agrarökonomen (S. 312–333). Dabei schildert sie das bisher wenig erforschte Erbe des russischen Agrarismus in der Sowjetunion und im Ausland sowie seine Tradierung in das postsowjetische Russland. Es folgt eine Schlussbetrachtung („Unsere Dörfer – besser als eine Wüste“, S. 334–343), in der sie ein auf die Zukunft bezogenes optimistisches Resümee des Agrarismus zieht und von „zwei Russlands“ der Gegenwart spricht. Dem „zweiten Russland“, gestützt auf den Agrarismus, misst sie noch heute Bedeutung bei. Das scheint gewagt. Zu Recht verweist sie darauf, dass sich in Russland wieder eine wissenschaftliche „Bauernkunde“ etabliert hat, die einen dezidiert gegen die politischen und wirtschaftlichen Eliten des postsowjetischen Russland gerichteten Gesellschaftsentwurf vertritt (S. 330–333). Der wissenschaftliche Apparat enthält dankenswerterweise die Kurzbiographien der Experten (S. 344–354). Ein Abkürzungsverzeichnis, ein Glossar und ein Personenregister runden das Buch ab (S. 355–394).

Bruisch verzichtet auf Spekulationen über den Realitätsbezug des Agrarismus. Letztlich wurde nirgendwo der Nachweis erbracht, dass diese „bäuerliche“ Utopie, insbesondere ihre antiurbanistische Ausrichtung, eine tragfähige Alternative gewesen wäre. Wie eine von Experten geleitete Bauernrepublik hätte aussehen können, hat Tschajanow am eindrucksvollsten beschrieben.1 In den 1920er-Jahren konnten die Experten ihre Vorstellungen in die Ausarbeitung von konkreten Plänen und Konzepten einbringen. Dass ihr zumindest zeitweiliges Festhalten an bäuerlichen Betrieben alternativlos war, zeigte die von der Zwangskollektivierung bewirkte Destruktion und die Vernichtung von Produktionsressourcen.

Für eine Zuordnung der in Russland als „Organisations-Produktionsschule“ bezeichneten Richtung zum Agrarismus spricht sicherlich die internationale Vergleichbarkeit. Allerdings kann man die hervorragende Studie von Bruisch auch als klare Absetzung von dem etwa von Helga Schultz untersuchten mittelosteuropäischen Agrarismus lesen.2 Dort war er eng mit dem Kampf um die Erringung nationaler Unabhängigkeit verbunden, Träger waren vor allem Bauernpolitiker und Genossenschaftler. In Russland dominierten dagegen Wissenschaftler, zeitweilig erfasste der Agrarismus große Teile der intellektuellen Öffentlichkeit. Nur hier entstanden auf dieser Basis beachtenswerte Theorien und Schriften, die ihre Bedeutung bis heute nicht verloren haben. Bruisch legt dar, dass die russischen Vertreter des Agrarismus nicht bei ihren Überzeugungen von 1917 stehen blieben. Bereits in der Provisorischen Regierung entwickelten sie eine kritische Distanz zu den Bauern. Tschajanow zögerte 1917 mit der Auflösung der Großbetriebe, weil er bezweifelte, dass die Kleinbetriebe die Versorgungssicherheit herstellen konnten (S. 116). Als politische Berater war ihnen bewusst, dass ihr Traum von einer „werktätigen“ Landwirtschaft solange Utopie bleiben musste, wie die Leistungsfähigkeit der Bauern hinter jener der spezialisierten Agarunternehmen zurückblieb. Ihre Expertise in der Agrarökonomie beschränkte sich keineswegs auf die bäuerliche Landwirtschaft. So stellte Tschajanow Überlegungen zur optimalen Betriebsgröße an (S. 211). Bruisch beschreibt, dass die Experten in den 1930er-Jahren weiter ihre Kompetenz zur Lösung der anstehenden Probleme von Kolchosen oder Staatsgütern einbrachten.

Bruisch spricht davon, dass Ende der 1920er-Jahre auf Befehl Stalins der Agrarismus von einer „marxistischen Agrarökonomie“ abgelöst wurde (S. 230ff.). Was sich dahinter oder hinter der „Sowjetisierung der Agrarwissenschaften“ (S. 247) verbarg, erläutert sie nicht. Sicher traten einzelne Agronomen oder Agrarökonomen der Kommunistischen Partei bei. Das Jahr 1930 bedeutete für die Agrarökonomen aber allein, dass sie es nun mit neuen Betriebsformen zu tun hatten. Der Marxismus verfügte über keine spezielle Agrarökonomie. Die Abhängigkeit der Bolschewiki von den Experten verminderte sich deshalb nicht. Maßnahmen der Flurbereinigung, der Einführung wissenschaftlich begründeter Fruchtfolgen, aber auch der innerbetrieblichen Organisation von Großbetrieben verlangten Expertenwissen. Wenn die Partei zeitweilig die Feldgrastheorie von Williams oder die Vererbungslehre von Lysenko für „marxistisch“ und damit verbindlich erklärte, unterstrich das nur ihre Inkompetenz. Eigene Positionen vertraten die „Marxisten“ nur auf Randgebieten: der Agrargeschichte während der Revolution oder der sozialen Differenzierung der Bauernschaft. Die Untersuchung der Entwicklung der Agrarökonomie in den 1930er-Jahren liegt außerhalb des Fokus von Bruisch. Wie stark der Bruch in der Agrarökonomie tatsächlich war, bleibt ein Desiderat weiterer Forschung.

Die von Bruisch vorgelegte Studie verdient breite Aufmerksamkeit. Sie stützt die Ansicht, dass auch das agrarisch geprägte zarische Russland durchaus Entwicklungsperspektiven jenseits von Gewalt hatte, und dass diese im Verlauf der 1920er-Jahre zu realen Entwicklungskonzepten ausformuliert in die Wirtschaftsplanung eingingen.

Anmerkungen:
1 Alexander W. Tschajanow, Reise meines Bruders Aleksej ins Land der bäuerlichen Utopie. Aus dem Russ. Von C. Schulte und R. Sartorti, hg. v. Krisztina Mänicke-Gyöngyösi, Frankfurt am Main 1981.
2 Helga Schultz / Angelika Harre (Hrsg.), Bauerngesellschaften auf dem Weg in die Moderne. Agrarismus in Mittelosteuropa 1880 bis 1960, Wiesbaden 2010.

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