R. Kreis (Hrsg.): Diplomatie mit Gefühl

Cover
Titel
Diplomatie mit Gefühl. Vertrauen, Misstrauen und die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland


Herausgeber
Kreis, Reinhild
Reihe
Zeitgeschichte im Gespräch 21
Erschienen
Anzahl Seiten
109 S.
Preis
€ 16,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Hertfelder, Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, Stuttgart

„Vertrauen“, so Georg Simmel 1908 in seiner „Soziologie“, sei „als Hypothese ein mittlerer Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen um den Menschen“ und „ersichtlich eine der wichtigsten synthetischen Kräfte innerhalb der Gesellschaft“.1 Begriff und Funktion des Vertrauens haben die Soziologie seit Simmels luzider Deutung in unterschiedlichen Konjunkturen beschäftigt, bis das Interesse der Sozialwissenschaften an diesem schwer fassbaren Phänomen in den beiden letzten Jahrzehnten geradezu explosionsartig zugenommen hat. In soziologischer Perspektive – etwa bei Anthony Giddens2 – gerät Vertrauen, jene im späten 18. Jahrhundert einsetzende „Obsession der Moderne“3, zur notwendigen Bedingung für Kooperation in modernen Gesellschaften. Gilt das auch für die Kooperation zwischen Staaten?

Der von Reinhild Kreis herausgegebene Sammelband „Diplomatie mit Gefühl“ geht dieser Frage an ausgewählten Beispielen der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland nach. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet dabei weniger die kaum noch zu überblickende sozialwissenschaftliche Vertrauens-Diskussion als vielmehr der evidente Befund, dass die deutsche Außenpolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts jegliches Vertrauen auf der internationalen Bühne verspielt hatte und daher später alles daran setzte, sich als vertrauenswürdiger Akteur auf eben jener Bühne zurückzumelden. Methodisch grenzt sich Kreis in ihrer Einführung von dem instrumentellen Vertrauens-Verständnis ab, wie es Vertreter der Rational-Choice- und der Spieltheorie entwickelt hatten, und plädiert stattdessen mit Ute Frevert dafür, dem Vertrauen eine eher emotionale Qualität zuzuschreiben. Vertrauen und, komplementär dazu, Misstrauen in den internationalen Beziehungen sieht die Herausgeberin auf drei Ebenen wirksam werden: auf der Ebene der Beziehung zwischen Personen, auf der Ebene kollektiver Gefühle (etwa von Bedrohung und Zugehörigkeit) sowie schließlich als „Erwartung in die Zuverlässigkeit von Institutionen und Systemen“ (S. 11). Zudem könne man Vertrauen als ein Ziel der Politik, als Emotion, aber auch als rhetorische Strategie verstehen. Damit ist das Spektrum der in dem Band vertretenen Positionen umrissen und das Untersuchungsfeld weit geöffnet – freilich um den Preis einer gewissen methodischen und begrifflichen Unschärfe.4

Dieser Unschärfe sucht Philipp Gassert in seinem Beitrag „Überlegungen zu einem Zentralbegriff westdeutscher Außenpolitik“ zu entkommen, indem er zunächst die sprachlichen und ikonographischen Vertrauensrhetoriken von Konrad Adenauer, Willy Brandt, Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher und Helmut Kohl in ihren jeweiligen Kontexten beleuchtet und daraus die Folgerung zieht, dass „Vertrauen sehr stark als ein persönliches Verhältnis zwischen Spitzenpolitikern und persönliche Qualität inszeniert“ werde – und eben nicht als institutionalisierte Ressource (S. 29). Aus einer Position der Schwäche heraus habe die Bundesrepublik anfangs zu dem naheliegenden Mittel gegriffen, auf der Klaviatur von Moral und Recht zu spielen; als die Bundesrepublik in den 1970er- und 1980er-Jahren wieder eine Schlüsselrolle in der europäischen Politik spielen konnte, sei die Vertrauensrhetorik längst „integraler Bestandteil des außenpolitischen Stils“ geworden (S. 30). Wer, wie Gassert, Vertrauen in den internationalen Beziehungen primär als Code und Habitus begreift, wird die emotionale Qualität von Vertrauen, auf die der Titel des Bandes abhebt, jedenfalls bestreiten.

Alexander Reinfeldt folgt in seinem Beitrag über die „westdeutsche Wiederbewaffnung und das Projekt einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“ zunächst Gasserts These, indem er Adenauers Vertrauensrhetorik im Zusammenhang der Wiederbewaffnungsdebatte im Sinne einer Chiffre deutet: Durch den Begriff des Vertrauens habe der Kanzler kommunizieren wollen, dass die Bundesrepublik mit ihren westlichen Nachbarvölkern dieselben fundamentalen Werte teile und sich zudem als gleichberechtigter Partner verstehe. Ersteres hätte sich freilich einfacher und überzeugender direkt kommunizieren lassen; nur in der Verknüpfung beider Botschaften wird der Umweg über die Vertrauens-Chiffre plausibel. Jenseits der kommunikativ-strategischen Funktion bringt Reinfeldt dann aber das interpersonale Vertrauen ins Spiel. Individuelle Akteure wie Konrad Adenauer oder Jean Monnet hätten, etwa aufgrund ihrer Biografien, das besondere Vertrauen der US-Administration genossen: Ohne dieses interpersonal fundierte Vertrauen wäre etwa die anfängliche Ablehnung des Pleven-Plans durch die USA kaum zu überwinden gewesen. Deutlich wird freilich auch, dass beide Varianten des Vertrauens keine zureichenden, sondern bestenfalls notwendige Bedingungen im Prozess der zwischenstaatlichen Verständigung darstellten, der jedenfalls im Kern von Interessenkonstellationen bestimmt blieb.

Dies bestätigt der Beitrag von Peter Ulrich Weiß, der in seiner Analyse des deutsch-deutsch-rumänischen Dreiecksverhältnisses während der 1960er-Jahre „vorrangig rationale außenpolitische Motivlagen“ (S. 63) ausmacht und zeigt, dass die verschiedenen „vertrauensbildenden Maßnahmen“, die die Bundesrepublik gegenüber dem eigenwilligen Regime Nicolae Ceauşescus gewählt hat, trotz der 1967 erfolgten Aufnahme diplomatischer Beziehungen am Ende ins Leere liefen. Im Unterschied zu den meisten Beiträgern geht Weiß nicht primär semantisch, sondern praxeologisch vor und markiert damit einen methodischen Kontrapunkt zu Gassert: Nicht die kommunikative Funktion der Vertrauensrhetorik, sondern die Frage nach dem Erfolg oder Misserfolg „vertrauenspolitischer Maßnahmen“ auf den Feldern der Handels- und Kulturbeziehungen bildet den Fluchtpunkt der Überlegungen.

Der Rekurs auf den Begriff des Vertrauens als einer Ressource der Diplomatie kulminierte, wie Matthias Peter in seinem Beitrag demonstriert, im KSZE-Prozess der 1970er- und 1980er-Jahre. So forderte die Präambel der KSZE-Schlussakte von Helsinki die Teilnehmerstaaten explizit dazu auf, „ihre Bemühungen zur Überwindung des Mißtrauens und zur Vergrößerung des Vertrauens zu vereinigen“, stellte damit das gesamte Dokument unter den Imperativ der Vertrauensgenerierung und gab der Bundesrepublik in der Folgezeit ein geradezu ideales Instrument in die Hand, ihre Vertrauensrhetorik gegenüber den Ostblockstaaten unter Bezug auf den KSZE-Prozess zu forcieren. Eine kooperative, auf Vertrauensbildung abhebende Außenpolitik sei angesichts der geostrategischen Lage der Bundesrepublik an der Nahtstelle der Blockkonfrontation „zentrales Strukturmerkmal ihrer Staatsräson“ geworden (S. 68). Peter verknüpft den semantischen und den praxeologischen Ansatz, indem er nachweist, dass im Zeichen des KSZE-Prozesses bestimmte Praktiken wie etwa die Ankündigung und gegenseitige Beobachtung von Militärmanövern, die Intensivierung wissenschaftlich-technischer Zusammenarbeit und die Institutionalisierung der politischen Kooperation in den Helsinki-Folgekonferenzen ausdrücklich als vertrauensbildende Maßnahmen intendiert und interpretiert wurden. Die bundesdeutsche Rhetorik des Vertrauens war in den 1970er- und 1980er-Jahren also mehr als nur eine habitualisierte diplomatische Geste, eine Chiffre oder gar Leerformel: Sie bezog sich auf bestimmte Praktiken und war nicht zuletzt deshalb geeignet, das im Stichwort „Genscherismus“ zum Ausdruck kommende Misstrauen der westlichen Verbündeten zu erregen.

Weder semantisch noch praxeologisch, sondern biographisch-hermeneutisch – so könnte man Ulrich Lappenküpers Ansatz kennzeichnen, der sich mit François Mitterrands Haltung gegenüber Deutschland im Kontext der deutsch-französischen Beziehungen beschäftigt. Sein außenpolitisches Feindbild war dem 1916 geborenen Mitterrand gleichsam in die Wiege gelegt, sein tief eingegrabenes Misstrauen gegenüber dem westlichen Nachbarn überdauerte nach mancherlei Wendungen auch die deutsche Wiedervereinigung, die der französische Präsident am liebsten ad calendas graecas hinausgeschoben hätte. Erst mit Abschluss des Vertrags von Maastricht 1992 „mutierte Mitterrand vor der Öffentlichkeit zum Gralshüter der deutsch-französischen Freundschaft“ (S. 93) und bemühte dabei zuweilen auch den Begriff des Vertrauens. Ein stabiles Vertrauen zu Deutschland oder zu einem seiner Kanzler habe der von einer fundamentalen Ambivalenz bestimmte Mitterrand gleichwohl nie wirklich fassen können. Sein Vertrauen zu den Deutschen sei prekär geblieben, was nicht nur der historischen Belastung zwischen beiden Ländern entsprungen sei, sondern einer tief sitzenden persönlichen Disposition. Im Blick auf die Leitfrage des Bandes fördert Lappenküpers Analyse somit Ambivalentes zutage: Vertrauen ist gut, aber notfalls geht es auch ohne – zumindest auf der Ebene individueller Akteure vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen und institutionalisierten zwischenstaatlichen Kooperation.

Alle Fragen offen? Bernhard Gotto, dessen Kommentar mit klugen Differenzierungen den schmalen, aber sehr lesenswerten Band beschließt, warnt davor, der Sprache der Quellen vorschnell auf den Leim zu gehen, und mahnt Kriterien an, „um Vertrauen dingfest zu machen“ (S. 100) – etwa zu untersuchen, inwieweit historische Erfahrungen nachweisbar in die Prognose über das Verhalten eines anderen Staates einfließen. Damit wären wir wieder bei Georg Simmel: Die Kategorie des Vertrauens erscheint nur sinnvoll anwendbar als eine „Hypothese“, die zwischen Wissen (etwa über frühere, reale oder imaginierte Erfahrungen mit meinem Gegenüber) und Nichtwissen (seinem zukünftigen Verhalten, das sich nicht einfach deduzieren lässt) angesiedelt ist und die Lücke zwischen Wissen und Nichtwissen mit einer positiven Erwartung überspringt. Einen solchen Definitionsversuch mag man des Essenzialismus zeihen, aber er würde aus dem Spiegelkabinett der Sprachspiele herausführen und das nebulöse V-Wort durchsichtig machen für die Historisierung von Vertrauenspraktiken auf dem internationalen Parkett.

Anmerkungen:
1 Georg Simmel, Gesamtausgabe, Bd. 11: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung [1908], hrsg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 1992, S. 393.
2 Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt am Main 1996, S. 33–42.
3 Ute Frevert, Vertrauensfragen. Eine Obsession der Moderne, München 2013; vgl. dazu die Rezension von Manuel Schramm, in: H-Soz-Kult, 03.06.2013, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22103> (12.05.2015).
4 Eine systematische wie historische Entfaltung des Vertrauensbegriffs bietet Martin Hartmann, Die Praxis des Vertrauens, Berlin 2011, der, im Unterschied zu Frevert, dem Vertrauen die Qualität einer Emotion abspricht.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension