W. Benz: Sinti und Roma: Die unerwünschte Minderheit

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Titel
Sinti und Roma: Die unerwünschte Minderheit. Über das Vorurteil Antiziganismus


Autor(en)
Benz, Wolfgang
Erschienen
Berlin 2014: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
315 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias von Borcke, Humboldt-Universität zu Berlin

Im September 2014 wurden die ersten Ergebnisse einer großangelegten und im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes durchgeführten empirischen Untersuchung zu „Bevölkerungseinstellungen gegenüber Sinti und Roma“ der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Als Leiter dieses Forschungsprojekts fungierte neben Werner Bergmann Wolfgang Benz, der ehemalige Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin. Die Studie wurde medial relativ breit rezipiert, parallel hat Benz einige kleinere Texte und das hier besprochene Buch zum Thema veröffentlicht sowie eine Reihe öffentlicher Vorträge gehalten. Auch wenn die Kontroverse zwischen den Wissenschaftler/innen, die die Studie durchgeführt haben, und der auftraggebenden Bundesstelle bezüglich der Auslegung der Ergebnisse teilweise für Irritation gesorgt haben mag, wurde hier ganz deutlich versucht, ein Thema auf die öffentliche Agenda zu setzen, dessen breite wissenschaftliche und politische Beachtung ohne jeden Zweifel geboten ist. Welche Rolle soll nun in diesem Zusammenhang dem Buch „Sinti und Roma: Die unerwünschte Minderheit. Über das Vorurteil Antiziganismus“ zukommen?

Benz selbst möchte sein Werk als „Kompendium über Ressentiments gegenüber Sinti und Roma“ (S. 8) verstanden wissen und erhebt damit den Anspruch, ein Überblickwerk zum Themenkomplex Antiziganismus geschrieben zu haben. Aus der „Perspektive der vergleichenden Vorurteilsforschung“ (S. 12) sollen dabei vor allem die Strukturen und Funktionsweisen der Ressentiments gegenüber Sinti und Roma und nicht so sehr diese selbst in den Blick genommen werden. Damit grenzt Benz sich klar gegenüber einer quasi ethnologischen Betrachtungsweise ab, die Gefahr laufe, die „Gründe für ihr geringes Ansehen in schuldhaftem Verhalten oder negativen Charaktereigenschaften oder in der Folklore der Sinti und Roma“ (ebd.) zu suchen und schließlich auch zu finden. Grundsätzlicheren Überlegungen zu dieser Zugangsweise widmen sich gleich drei über das Buch verteile Kapitel. Im Abschnitt über „Ressentiment und Projektion“ arbeitet Benz die für seinen Standpunkt zentrale Einsicht heraus, nach der die Ressentiments gegenüber Sinti und Roma ihren Ursprung keineswegs im Verhalten oder den vermeintlichen oder tatsächlichen Eigenschaften und Merkmalen der Angehörigen der Minderheit, sondern in von der Mehrheitsgesellschaft verdrängten Regungen, Bedürfnissen und Ängsten haben, die auf die Minderheit projiziert werden. Unter der Überschrift „Tsiganologie versus Antiziganismusforschung“ stellt Benz anhand zahlreicher Beispiele heraus, dass und wie die Äußerungen vermeintlicher „Experten“ dazu beitragen, die ohnehin vielfach schon bestehenden Stereotype über Roma und Sinti eher zu festigen als zu hinterfragen. Als „Bausteine des Vorurteils“ schließlich werden im gleichnamigen Kapitel die Horrormeldungen bezeichnet, die unter anderem von den Medien über Sinti und Roma, aber auch über andere Minderheiten verbreitet werden, und die als Auslöser für verschärfte Formen der Ausgrenzung bis hin zu tödlicher Gewalt fungieren können. Eine solche Resonanz erfahren entsprechende Meldungen nur vor dem Hintergrund verbreiteter Ressentiments gegenüber Minderheiten, die durch sie aufgerufen und aktualisiert werden. Das auf Verallgemeinerungen beruhende stereotype Denken fühlt sich durch Berichte über tatsächliche oder angebliche Normverletzungen durch Angehörige von Minderheiten in seinen Vorstellungen bestätigt.

Neben diesen eher grundsätzlichen Texten finden sich Passagen, in denen einzelne thematische Aspekte im Fokus stehen. So gibt es ein kürzeres Kapitel, in welchem einige Aspekte der Geschichte und gegenwärtigen Situation der Sinti und Roma in Europa dargestellt, die Ergebnisse verschiedener empirischer Erhebungen zur Ablehnung gegenüber diesen Minderheiten referiert und kurz auf die Diskussionen rund um den Begriff des Antiziganismus eingegangen wird. Ein umfangreicheres Kapitel widmet sich dem NS-Völkermord sowie den Auseinandersetzungen um dieses Thema in der Nachkriegszeit, also dem langen und schmerzlichen Kampf von Sinti und Roma um die seitens der Mehrheitsgesellschaft lange verweigerte Anerkennung. In Fallstudien werden zudem literarische ‚Zigeuner‘-Bilder, die Situation der ungarischen Roma und die jüngste antiziganistisch geführte Debatte um „Armutszuwanderung“ behandelt. Abgerundet wird der vorliegende Band durch fünf Gespräche, die Benz im Jahr 2013 geführt hat. Zu Wort kommen mit Romani Rose als Vorsitzendem des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma sowie Jaques Delfeld als Vorsitzendem und Geschäftsführer des rheinland-pfälzischen Landesverbandes zunächst zwei Angehörige der Minderheit, die aus der Perspektive der aus der Bürgerrechtsbewegung der 1980er-Jahre hervorgegangenen Selbstorganisationen von deutschen Sinti und Roma sprechen. Die anderen Gesprächspartner/innen sind Jochen Köhnke, bei der Stadt Münster als Dezernent für Migration und Interkulturelle Angelegenheiten beschäftigt, Petra Pau als Vizepräsidentin des Bundestages sowie Ricarda Erdmann von den Integrationsfachdiensten der Arbeiterwohlfahrt in Dortmund.

Insgesamt zeichnet sich das Buch also durch eine bemerkenswerte thematische Breite sowie durch eine erfreuliche Aktualität aus. Benz Ausgangspunkt, die Analyse des Ressentiments nicht bei denen beginnen zu lassen, die unter den Auswirkungen zu leiden haben, sondern sich der Auseinandersetzung mit den Grundlagen und Wirkungsweisen der Stereotypen zu widmen, mag all jenen, die sich intensiv mit den hier zur Debatte stehenden Themen befasst haben, so selbstverständlich erscheinen, dass es fast ein bisschen banal wirkt, diesem Punkt so viel Raum zu geben. Ein Blick auf die gesellschaftlichen Debatten zum Beispiel über die „Armutszuwanderung“ macht jedoch deutlich, dass ein solcher Standpunkt gesamtgesellschaftlich keineswegs Konsens ist. Vielfach vermitteln stereotype mediale Darstellungen den Eindruck, dass als rumänische und bulgarische Roma bezeichnete Menschen – das Wort „Roma“ wird oft synonym mit „Problem“ verwendet, was die Blickrichtung deutlich machen dürfte – an ihrer schwierigen Lage selbst schuld seien. Die gesellschaftlichen und sozialen Hintergründe werden dabei in der Regel allenfalls holzschnittartig in den Blick genommen. Dem vom Benz vertretenen Ansatz ist vor diesem Hintergrund eine breite Rezeption zu wünschen. Ob die vorliegende Publikation aber tatsächlich als Einführungsschrift für ein größeres Publikum taugt, scheint fraglich. Für Laien dürften viele der Texte etwas zu unvermittelt nebeneinander stehen, zudem wiederholen sich einige Gedankenfiguren in unterschiedlichen Teilen des Buches, was auf Dauer ermüdend wirkt. Eine eher knappe und prägnant zusammenfassende Darstellung wäre hier wohl angemessener gewesen. Doch auch einem Fachpublikum ist das Buch nicht in jeder Hinsicht zu empfehlen. So äußert sich Benz zwar zweifelsohne kenntnisreich zu einem Thema, das ihn vielfach und über einen langen Zeitraum beschäftigt hat. Leider nimmt er dabei die in den letzten Jahren erschienene Forschungsliteratur nicht immer zur Kenntnis. Beispielsweise grenzt er sich im Kapitel zum NS-Völkermord von dem bereits 2001 veröffentlichten Buch von Guenter Lewy ab, in welchem der systematische und genozidale Charakter der Morde an Sinti und Roma in der NS-Zeit bestritten wurde. Das für diese Frage wichtige Gutachten von Martin Holler, das sich mit den Erschießungen von Roma in der besetzten Sowjetunion beschäftigt und sehr klar zeigt, dass ‚Zigeuner‘ unabhängig vom Lebensstil und äußeren Merkmalen aufgespürt und ermordet werden sollten, erwähnt Benz hingegen nicht.1 In einigen Fällen werden Publikationen anderer Autor/innen im Literaturverzeichnis aufgeführt, ohne dass sich im Buch selbst ein entsprechender Verweis oder eine Bezugnahme findet, auch wenn es sich teilweise thematisch angeboten hätte.

Eine Bereicherung stellen die Gespräche mit Jaques Delfeld und Romani Rose dar. Hier praktiziert Benz, und mit ihm hoffentlich seine Leser/innen, was elementarer Bestandteil der Beschäftigung mit Ressentiments sein sollte: Nämlich denen zuzuhören, die von Vorbehalten, Ausgrenzung und Verfolgung betroffen sind. Insbesondere über die Situation der Überlebenden der Völkermordes und ihrer Angehörigen sowie über die Bürgerrechtsarbeit in der BRD ist hier Interessantes zu erfahren. Schade ist, dass hier zwar die Perspektive deutscher Sinti und Roma repräsentiert wird, aber keine Selbstorganisation von Roma zu Wort kommt, die beispielsweise aus dem ehemaligen Jugoslawien oder Bulgarien stammen. In den übrigen drei Gesprächen scheint es teilweise, als würde Benz seiner ausführlich dargestellten und begründeten Fokussierung auf die Mehrheitsgesellschaft und ihre Ressentiments doch nicht bis in Letzte trauen. Etwa wenn er seine Gesprächspartnerin Ricarda Erdmann fragt, ob denn die Kinder der nach Dortmund gekommenen Bulgar/innen und Rumän/innen auch in die Schule gingen. Hier erhofft sich Benz offenbar eine empirische Widerlegung stereotyper Bilder aus der Praxis heraus statt diese Bilder selbst zum Gegenstand der Kritik zu machen.

Etwas blass bleibt die von Benz beanspruchte und eingeforderte „vergleichende Vorurteilsforschung“. An zahlreichen Stellen im Buch wird betont, dass sich verschiedene Ressentiments – zumeist führt Benz in einer Art Dreiklang neben dem Antiziganismus den Antisemitismus sowie antimuslimischen Rassismus an – darin gleichen würden, dass sich die Mehrheit ein stereotypes Bild von der jeweiligen Minderheit macht, welches eher den eigenen Angstbildern als den Lebensrealitäten der Angehörigen der Minderheiten entspringt, und das gegenüber diesen Minderheiten zu Ausgrenzung und Gewalt führen kann. So richtig diese grundlegende Einsicht ist, so wenig trägt sie in einer solch abstrakten Form des Vergleichs zu neuen Erkenntnissen bezüglich der konkreten Wirkungsweisen der Ressentiments bei. Insbesondere bleiben die ja durchaus festzustellenden Unterschiede zwischen den unterschiedlichen Feindbildern unterbelichtet. Um diese Differenzen scheint es Benz auch gar nicht zu gehen. Zur „Erkenntnis über das Sozialverhalten“ (S. 17) soll die Forschung nach seinen Vorstellungen vor allem durch das Aufzeigen von „Parallelen“ (ebd.) zwischen unterschiedlichen Ressentiments beitragen. Da kann es nicht überraschen, dass Benz die vergleichende Forschung als Königsweg darstellt, und einzelnen Wissenschaftszweigen, die sich speziell etwa mit Homophobie oder Antiziganismus befassen, Legitimität abspricht. Solche Spezialisierungen würden stets „zum Nachteil des größeren Zusammenhangs“ (ebd.) ausfallen, also den Blick auf die gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen die Ressentiments zu sehen sind, erschweren. Die Ausführungen in diesem Buch lassen demgegenüber allerdings den Eindruck entstehen, dass eine vergleichende Betrachtung zu unterschiedlichen Ressentiments auf die Überlegungen und Resultate spezialisierter Forschung angewiesen ist, will sie es nicht bei Allgemeinplätzen bewenden lassen.

Bei aller Kritik findet sich in diesem Buch viel Lesenswertes, so dass es durchaus einen wertvollen Beitrag zur Beschäftigung mit einem Thema darstellt, dessen in den letzten Jahren relativ breite Beachtung hoffentlich mehr ist als eine vorübergehende akademische und politische Mode. Insgesamt entsteht aber doch der Eindruck, dass Benz beim Verfassen oder vielleicht eher Zusammenstellen dieses Buches in erster Linie schon Bekanntes kompiliert hat, statt sich noch einmal neu auf sein Thema einzulassen. Gerade dies hätte der Veröffentlichung aber gut getan.

Anmerkung:
1 Martin Holler, Der nationalsozialistische Völkermord an den Roma in der besetzten Sowjetunion (1941–1944), Gutachten für das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma, Heidelberg 2009, online unter: <http://www.sintiundroma.de/uploads/media/GutachtenMartinHoller.pdf> (23.03.2015).

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