M. Spoerer u.a.: Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte

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Titel
Neue deutsche Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts.


Autor(en)
Spoerer, Mark; Streb, Jochen
Erschienen
München 2013: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
IX, 306 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Friederike Sattler, Historisches Seminar, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Mit ihrer „neuen deutschen Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts“ versuchen Mark Spoerer und Jochen Streb, die „Quadratur des Kreises“ im Verhältnis zwischen Ökonomik und Historik zu leisten: Sie wollen Studierende der Wirtschaftswissenschaften an die empirische Vielfalt der Geschichte und Studierende der Geschichtswissenschaften an die strenge Systematik ökonomischer Theorien und Methoden heranführen. Diesen hohen Anspruch kann ihrer Meinung am ehesten eine Wirtschaftsgeschichtsschreibung erfüllen, die sich nicht nur auf narrative, sondern auch auf quantitative Argumentationen stützt – ein Ansatz, der so neu gar nicht ist, sondern die Standortbestimmungen der Wirtschaftsgeschichte als „Brückenfach“ zwischen zwei Disziplinen schon seit ihren Anfängen kennzeichnet. Die mit dem vorliegenden neuen Lehrbuch aufgeworfene Frage ist also eigentlich die alte Frage des immer neuen Austarierens der Gewichte beider Strömungen: Spoerer und Streb plädieren dabei für eine deutliche Verschiebung hin zu den quantitativen, auf den methodisch-rationalen Modellannahmen der modernen Wirtschaftswissenschaften beruhenden Argumentationen – und sie versuchen deshalb vor allem eins: ihren Lesern den Nutzen der ökonometrischen Analyse von Massendaten für die wirtschaftshistorische Forschung vor Augen zu führen. Ihrer Meinung nach beruht dieser Nutzen im Kern darauf, dass der Blick auf die „nackten Zahlen“ die realen Konsequenzen des ökonomischen Verhaltens von Menschen in den Mittelpunkt rückt, nicht ihre darauf bezogenen Motive, Perzeptionen und semantischen Begründungen.

Der Aufbau ihres Buches folgt einem klaren Konzept: Einem einführenden Kapitel zu den Fragestellungen und Methoden der „neuen Wirtschaftsgeschichte“ folgt eine Diskussion von Wohlstandskonzepten samt einer Vermessung der Entwicklung des deutschen Wohlstands im 20. Jahrhundert. Anschließend unternehmen die Autoren einen chronologisch angelegten Gang durch die deutsche Wirtschaftsgeschichte des „kurzen“ 20. Jahrhunderts zwischen 1918 und 1989/90, also von der Weimarer Republik über die – besonders ausführlich behandelte – kurze Zeit des Nationalsozialismus bis hin zum missverstandenen „Wirtschaftswunder“ und zur anschließenden „Normalisierung“ der wirtschaftlichen Entwicklung in der Bonner Republik.

Die Wirtschaftsgeschichte der DDR wird vollständig abgegrenzt und nicht behandelt, weil hier – so die Begründung – der freie Preismechanismus grundsätzlich außer Kraft gesetzt wurde, die auf methodisch-rationalen Modellannahmen beruhenden Theorien und Methoden der modernen Wirtschaftswissenschaften also nicht oder nur sehr schwer anwendbar sind. Damit ist bereits ein Kernproblem des Plädoyers für den verstärkten Einsatz von quantitativen Ansätzen in der Wirtschaftsgeschichte angesprochen: Können diese mehr als nur punktuelle Frage klären, etwa indem sie etablierte Forschungsthesen mit ausgefeilten statistischen Regressionsanalysen zu falsifizieren versuchen, sofern eine entsprechende Datenbasis verfügbar ist oder geschaffen werden kann? Können sie selbst auch umfassendere Erklärungen für den wirtschaftshistorischen Wandel im 20. Jahrhundert liefern, das ja maßgeblich geprägt war durch die massiv auf Deutschland zurückwirkende politische Systemauseinandersetzung zwischen überwiegend marktwirtschaftlich orientiertem Westen und planwirtschaftlich verfasstem Osten? Ein Stichwort hierfür wäre zum Beispiel der politisch verzögerte wirtschaftliche Strukturwandel in der Bundesrepublik in den 1970er- und 1980er-Jahren, der ja nicht zuletzt mit der sozialpolitischen Konkurrenz zur DDR zusammenhing.

Spoerer und Streb diskutieren zwar eingangs recht ausführlich die Chancen, Risiken und Grenzen der Cliometrie und unterstreichen dabei selbst sehr deutlich, dass sich gerade komplexe wirtschaftshistorische Phänomene der einfachen quantitativen Analyse entziehen; doch ihre eigene Darstellung der „neuen deutschen Wirtschaftsgeschichte“ im kurzen 20. Jahrhundert zieht daraus nicht wirklich überzeugende Konsequenzen: Die insgesamt eher traditionelle, an wirtschaftspolitischen Weichenstellungen orientierte Erzählung wird immer wieder punktuell ergänzt durch die – im Detail sehr aufschlussreichen! – Ergebnisse eingehender quantitativer Analysen, insbesondere zur Wirtschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, ohne jedoch eine „neue“ wirtschaftshistorische Gesamtinterpretation zu liefern. So erfährt man beispielsweise viel Interessantes über die Vertragsgestaltung zwischen Staat und Unternehmen in der Rüstungs- und Kriegswirtschaft des Dritten Reichs (das freilich auch schon an anderer Stelle publiziert wurde), aber kaum etwas über die langfristige Persistenz bestimmter – möglicherweise ja spezifisch deutscher – Muster der Corporate Governance samt der damit verknüpften Unternehmensstrukturen und Arbeitsbeziehungen über die tiefen politischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts hinweg. Auch der langfristige wirtschaftliche Strukturwandel wird nicht herausgearbeitet.

Man sollte das Buch deshalb besser nicht als eine kompakte Einführung in die deutsche Wirtschaftsgeschichte des kurzen 20. Jahrhunderts als solche lesen, sondern als das, was es tatsächlich ist: eine kompetente, didaktisch durchdachte Einführung in die quantitativen Methoden der wirtschaftshistorischen Forschung. Diese können zweifellos substanzielle Beiträge erbringen; ersetzen können sie eine integrierte, sowohl auf quantitativen als auch auf narrativen Quellen und Argumentationen beruhende Wirtschaftsgeschichtsschreibung nicht. Denn sie haben nicht nur einen Nutzen, sondern auch einen Preis: den potenziellen Verlust an Erklärungskraft für komplexe wirtschafts- und gesellschaftshistorische Gesamtzusammenhänge. Der Blick auf die „nackten Zahlen“ birgt stets auch die Gefahr, die realen Konsequenzen des ökonomischen Verhaltens von Menschen für das Ergebnis quasi naturgesetzmäßiger, mathematisch kalkulierbarer Abläufe zu halten, was sich bei näherem Hinsehen als eine komplexe Koevolution von wirtschaftlichen Institutionen, alltäglichen Praktiken und vorherrschenden Semantiken darstellt.

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