D. Menning: Standesgemäße Ordnung in der Moderne

Titel
Standesgemäße Ordnung in der Moderne. Adlige Familienstrategien und Gesellschaftsentwürfe in Deutschland 1840–1945


Autor(en)
Menning, Daniel
Reihe
Ordnungssysteme 42
Erschienen
München 2014: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
469 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Raasch, Historisches Seminar, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz

Die in Tübingen entstandene Dissertation verhandelt das Kardinalproblem der unverändert florierenden Adelsforschung zur Moderne: Warum war der Adel mehr als ein bloßer sozialer Atavismus, weshalb konnte er noch lange nach Auflösung des Alten Reiches und seiner ständisch geprägten Gesellschaftsordnung als distinkte Gesellschaftsgruppe identifiziert werden? Was waren die Bedingungen für die Perseveranz des Adelstandes im vermeintlich "bürgerlichen Zeitalter"? Lineare klassentheoretische Modelle laufen hier schnell ins Leere. Zudem befriedigen die von der Adelshistoriografie vorgeschlagenen Erklärungskonzepte, etwa das der "Entkonkretisierung" der Sozialformation Adel (Josef Matzerath), nur bedingt. Daniel Menning wirft daher einen prozessualen Blick auf die Adelsgeschichte der Moderne und operationalisiert ein theoretisch-methodisches Setting, das historische Wirklichkeit dreifach konstituiert sieht: Zum ersten wirken Leitideen, weshalb das Interesse zunächst den im 19. und frühen 20. Jahrhundert entstandenen Gesellschaftsentwürfen gilt, "in denen ein Adelstand vorstellbar war" (S. 21). Sie werden nach adliger Selbst- und Fremdimagination befragt. Zum zweiten kommen die adligen Strategien zum Tragen, die aus den Gesellschaftsentwürfen abgeleitet wurden beziehungsweise mit ihnen in Korrelation stehen sollten. Daniel Menning fokussiert hier die Ebene der Familien. An dritter Stelle steht die praxeologische Dimension. Mithin wird der konkrete Umgang einzelner Akteure mit den familiären Strategien in Augenschein genommen. Um eine substantielle Argumentation gewährleisten zu können, wählt Daniel Menning zwei Adelsgruppen aus: den ostelbischen Kleinadel und die ehemaligen Reichsritterfamilien Südwestdeutschlands. Quellengrundlage bilden publizierte Entwürfe, Familienzeitungen und -geschichten sowie die einschlägige archivalische Überlieferung der Familien.

Der elaborierte Ansatz zeitigt gewinnbringende Erkenntnisse, weil er Bekanntes vertieft und ausdifferenziert: Die Gesellschaftsentwürfe bezeugen – ungeachtet sich wandelnder Ausprägungen – die Fortdauer ständischer Ordnungsvisionen. Die Reformprogramme substituierten freilich die Sozialform Adel durch das Narrativ des tugendhaften, für das Gemeinwohl sich einsetzenden Vorbilds, das als solches natürliche Führerschaft beanspruchte. Die unter Tugendhaftigkeit subsummierten Werte – exemplarisch an den Themen Familie, Grundbesitz und Ehre untersucht – waren weder sozial exklusiv angelegt noch semantisch stabil, so dass die Wege zwischen Vorbildhaftigkeit und besonderer Rassereinheit, zwischen Königstreue und Führerglaube kurz sein konnten. Dabei lässt sich für die nordostdeutschen Adeligen eine stärkere Radikalisierung konstatieren. Als wesentliche familiäre Strategien im "Kampf ums Obenbleiben" können – von Daniel Menning eindrucksvoll mit selbst erstellten Statistiken veranschaulicht – genannt werden: für das Ostelbische die im Ersten Weltkrieg kulminierende Gründung von Familienverbänden, die "Wir-Identität" über Familienstiftungen, Familientage und Familiengeschichten zu konstruieren suchten, sowie für Südwestdeutschland die Stammgüter, die zusehends per Individualsukzession vererbt wurden. Beide Konzepte gerieten nach 1918 wegen der veränderten Rechtslage und der schwierigen ökonomischen Situation in eine signifikante Krise, aus welcher der Nationalsozialismus sie nicht zu holen bereit war. Auf der Ebene der Akteure zeigt sich vor allem die Kontextgebundenheit adligen Handelns. Die Relevanz adliger Ideenkonzepte, aber auch die Kluft zwischen Ideal und Praxis wird vor Augen geführt: Adlige konnten sich als vehemente Fürsprecher von Vorstellungen zu Ehre oder Besitz gerieren, sie vermochten diese interessengeleitet zu instrumentalisieren, z.B. in Sachen Fideikommissaufhebung, oder sie distanzierten sich geflissentlich von ihnen, etwa bei der Allodifizierung in den preußischen Provinzen östlich der Elbe. Nur eine Aufgabe des Leitnarrativs kam nicht in Frage, was enormes Frustrationspotenial barg und die Radikalisierung des Adels nach 1918 beförderte.

Die Studie gewinnt durch eine akribische Quellenarbeit und vor allem das konsequente Aufzeigen von Forschungskontexten. Daniel Mennings Kenntnisse der umfangreichen Literatur zur Adelsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts sind als stupend zu bezeichnen. Nicht immer ist das Buch einfach zu lesen, häufig wird der Handelnde durch das unpersönliche "man" verunklart. An manchen Stellen hätte die Darstellung gestrafft werden können. Für Irritationen sorgen Gliederung und Chronologie: Das erste Kapitel zu den Gesellschaftskonzepten ist zweigeteilt und behandelt die Mitte des 19. Jahrhunderts und dann den Zeitraum zwischen den 1860er- und den 1930er-Jahren, wobei z.B. die Gründung der „Genossenschaft katholischer Edelleute in Bayern“ (1876) im ersten Teil Erwähnung findet (S. 58). Das zweite Kapitel thematisiert familiäre Organisationsstrategien bis 1918. Das dritte Kapitel nimmt für den gleichen Zeitraum die entsprechende Praxis ins Blickfeld, enthält aber auch Ausführungen zur "Eroberungspolitik im Zweiten Weltkrieg" (S. 263). Das vierte Kapitel befasst sich für die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus sowohl mit den Strategien als auch den Akteuren.

An einigen Stellen springt die Argumentation zu kurz: Daniel Menning hat seine Untersuchungsgruppen geschickt gewählt und kann in der Folge regionale Unterschiede ebenso deutlich machen wie überregionale Gemeinsamkeiten. Anderen adligen Binnendifferenzierungen schenkt er aber zu wenig Beachtung. Insbesondere konfessionelle Aspekte werden nur partiell ausgeleuchtet. Das komplexe Verhältnis zwischen Katholizismus und Nation beispielsweise wird nicht näher reflektiert. Unerwähnt bleiben die katholische Kritik am Duell und die zeitweise Blüte einer miles-christanus-Idee insbesondere im Kontext des „Vereins katholischer Edelleute“.1 Vor allem die zweifelsohne evidenten Brücken zwischen katholischem Adel und Nationalsozialismus werden allzu schnell gezogen. Aussagen wie "[Die Familie] ist ja die Keimzelle und das Heiligtum der Menschheit" sind seit jeher Produkt eines organisch-sittlich Gesellschaftsentwurfs und kaum ein Beleg dafür, dass in den 1920er-Jahren das "christliche Familienverständnis [...] ebenfalls durch rassisch-biologische Theoreme unterhöhlt worden war" (S. 123). Die Bedeutung des christlichen Menschenbildes, das eng mit den organischen Vorstellungen des Konservativismus verbunden war, aber der nationalsozialistischen Weltsicht entgegenstand, wird nicht erörtert.

Die Absage an klassentheoretische Erklärungsmodelle sowohl als theoretisch-methodische Prämisse wie als zentrales Substrat der Arbeit zu präsentieren ("Das 19. Jahrhundert, so kann man die Ergebnisse zusammenfassen, war nicht das Jahrhundert auf dem Weg von der Stände- zur Klassengesellschaft", S. 414) bedeutet einen wenig weiterführenden Zirkelschluss. Ähnliches gilt für den Umstand, dass ausschließlich konservative Gesellschaftsmodelle als Bezugsgrundlage genommen werden und sodann gefolgert wird, dass "die Existenz eines starken Adelsliberalismus unwahrscheinlich" war (S. 409). Unter anderem an dieser Stelle wirkt sich überdies negativ aus, dass Daniel Menning zumal im ersten Kapitel zu wenig diskursanalytisch argumentiert: Es werden Ideen vorgestellt, aber Sprechsituationen (Wer spricht wo vor welchem Hintergrund? Wer schweigt?), die Vermittlungsformen und insbesondere die Ebene der Rezeption (Was lässt sich über die Veröffentlichungsweisen sagen? Wie hoch war die Auflagenstärke der einschlägigen Publikationen? Wer las überhaupt die Reformprogramme, wer las sie nicht?) bleiben weitgehend im Dunkeln. Aussagen wie "Der Adelstand existierte fort, weil es ausreichend Menschen gab, die Gesellschaft ständisch dachten und in dieser ständischen Gesellschaft nicht auf einen Adel verzichten wollten" (S. 165) besitzen vor diesem Hintergrund wohl narrative, aber nur bedingt empirische Triftigkeit. Über die wiederholt vorgetragene These, nach 1945 sei der Adel an sein Ende gekommen, wird erst dann fundiert zu urteilen sein, wenn es endlich systematische Studien für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gibt. Schließlich gerät ob des Fokus auf konservative Organisationsstrategien aus dem Blickfeld, dass die Forschung – sei es in Sachen liberal-nationaler Bewegung oder wirtschaftliches Engagement 2 – einige Mühen unternommen hat, die Vorstellung vom Adel "als Träger des retardierenden, des konservativen Prinzips schlechthin" zu revidieren.3

Im Ganzen hat Daniel Menning eine wichtige Arbeit geschrieben. Sein theoretisches Konzept überzeugt, hätte aber in der methodischen Umsetzung noch differenzierter sein können. Die Arbeit bietet wertvolle Vertiefungen und sensibilisiert in markanter Weise für das spannungsvolle Mit- und Gegeneinander von Beharrung und Anpassung im adligen Kampf ums "Obenbleiben". Die Argumentation hätte freilich noch nuancierter sein können, Begründungsobjektivität (Jörn Rüsen) wird nicht immer erreicht. Daniel Menning zeigt also der Forschung in jeder Hinsicht Wege auf, die in Zukunft beschritten werden sollten.

Anmerkungen:
1 Vgl. Markus Raasch, Die politische Ideenwelt des Adels. Das Beispiel der Zentrumspartei in der Bismarckära, in: Markus Raasch / Tobias Hirschmüller (Hrsg.), Von Freiheit, Solidarität und Subsidiarität. Staat und Gesellschaft der Moderne in Theorie und Praxis, Berlin 2013, S. 357–382.
2 Vgl. z. B. Christoph Dipper, Deutscher und italienischer Adelsliberalismus im Vergleich, in: Gabriele B. Clemens (Hrsg.), Hochkultur als Herrschaftselement. Italienischer und deutscher Adel im langen 19. Jahrhundert, S. 67–94; Ivo Cerman, Jenseits des Marxismus. Der Adel in der modernen Wirtschaftsgeschichte, in: Adel und Wirtschaft. Lebensunterhalt der Adeligen in der Moderne, München 2009, S. 9–19.
3 Marko Kreutzmann, Zwischen ständischer und bürgerlicher Lebenswelt. Adel in Sachsen-Weimar-Eisenach 1770 bis 1830, Köln 2008, S. 2.

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