T. Alkemeyer u.a. (Hrsg.): Selbst-Bildungen

Cover
Titel
Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung


Herausgeber
Alkemeyer, Thomas; Budde, Gunilla; Freist, Dagmar
Reihe
Praktiken der Subjektivierung 1
Anzahl Seiten
377 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Imke Schmincke, Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität München

„Subjekt-Diskurse haben Konjunktur“ – mit diesem Satz leiten Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde und Dagmar Freist in den Sammelband „Selbstbildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung“ ein, der selbst als Ausdruck dieser Konjunktur zu verstehen ist und die Beschäftigung mit dem Subjekt aus einer dezidiert praxeologischen Perspektive ins Zentrum stellt. Die Dezentrierung des Subjekts in Folge des linguistic turn hat in den Sozial- und Geisteswissenschaften die Aufmerksamkeit auf eine neue Weise auf das Subjekt gelenkt, welches nun vor allem als Effekt und Produkt, eben als Ergebnis von Prozessen der Subjektivierung, zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung und empirischer Analysen geworden ist. Ob und wie sehr diese neue Aufmerksamkeit tatsächlich zu seiner Dezentrierung beiträgt, bleibt jedoch zu diskutieren. Ein Ergebnis dieser Perspektivenverschiebung ist sicherlich, dass menschliche Körper und Praktiken, aber auch Techniken und Artefakte epistemologisch aufgewertet werden und als Entitäten in den Blick kommen, die aktiv an der Herstellung und Kommunikation des Sozialen beteiligt sind. Insbesondere die Fokussierung auf Praktiken ist als Versuch zu verstehen, soziale Prozesse jenseits von Subjekt, Handlung und Struktur zu beschreiben. Die praxeologischen Ansätze verabschieden sich von einem autonomen Subjekt, das den Praktiken eben nicht zugrunde liegt. Sie verorten sich aber auch jenseits der Dualität von Handlung und Struktur. Denn sie kritisieren, dass der Handlungsbegriff zu stark mit einem emphatischen Akteur verbunden ist, der Strukturbegriff wiederum die Perspektive der involvierten Akteure zu sehr negiere.

Diesem Versuch stellt sich der vorliegende Sammelband. Er präsentiert nicht nur den programmatischen Auftakt einer gleichnamigen Buchreihe („Praktiken der Subjektivierung“). Vor allem begründet er die Forschungsperspektive des seit Oktober 2010 an der Universität Oldenburg laufenden gleichnamigen DFG-Graduiertenkollegs, in welchem „Praktiken der Subjektivierung aus historischer und interdisziplinärer Perspektive“ untersucht werden. Die Publikation versammelt Aufsätze der beteiligten Hochschullehrer und -lehrerinnen sowie zweier Postdocs. Allen Ansätzen gemeinsam ist der Fokus auf die Entstehung eines Selbst und auf die mit dieser verbundenen Materialität von Praktiken, aber auch auf die Widersprüchlichkeit, die dem Prozess der Subjektivierung zugrunde liegt. Daher wird die programmatische Klammer des Kollegs in der Einleitung wie folgt beschrieben: „Eine kritische Perspektive auf Subjektivierungsprozesse eröffnet sich mithin allein in der Verklammerung von Gesellschafts- und Diskursanalyse auf der einen mit Rekonstruktionen alltäglicher Selbst-Bildungsprozesse auf der anderen Seite.“ (S. 15)

Der Band gliedert sich in vier disziplinäre Kapitel, zunächst drei programmatische sozialwissenschaftliche Texte, dann fünf Beiträge aus der Geschichtswissenschaft, schließlich drei Anwendungen aus den Literatur- bzw. Kulturwissenschaften und abschließend drei Perspektiven auf das Thema aus der Philosophie.

Alkemeyer eröffnet den Reigen mit einem richtunggebenden Beitrag, den er als Umrisse einer praxeologischen Analytik präsentiert, und entwirft darin die für diese Analytik zentralen Begriffe: ein performatives Subjektverständnis, welches Praktiken und Subjekte als ko-existent und einander jeweils konstituierend begreift und welches gleichzeitig den Eigensinn der Subjekte betont; ein Praxis-Konzept, welches Praktiken als geregelte, kulturell typisierte und organisierte Bündel menschlicher Aktivitäten fasst; ein Bildungsbegriff, der Bildung mikrosoziologisch begreift als einen Prozess, der im Rahmen von impliziten und expliziten Pädagogiken des Alltags an der Formung und Selbst-Formung der Subjekte teilhat. Ausführlich beschreibt Alkemeyer weitere terminologische Bausteine wie empirische Gelegenheiten und sozialwissenschaftliche Methoden, mittels derer Prozesse der Subjektivierung empirisch untersucht werden könnten. Er veranschaulicht dabei auf nachvollziehbare Weise, wie reichhaltig und anschlussfähig das skizzierte Forschungsprogramm ist. Dabei liegt dem Ganzen implizit ein eher pädagogischer Zug zugrunde: Gesellschaft als eigenständig zu analysierende Größe taucht hier nicht mehr auf, es geht stattdessen um Praktiken als selbständige Vollzüge einerseits und das Individuum mit seiner Bezogenheit und Eigenständigkeit andererseits. Norbert Rickens spezifischer Beitrag zum Thema liegt darin, den Prozess der Subjektivierung – den er Subjektivation nennt – genauer zu beschreiben und auf überzeugende Weise darlegen zu können, dass Subjektwerdung nicht einfach ‚nur‘ mit und innerhalb von Praktiken stattfindet, sondern die Subjekte darin jeweils auch von anderen als solche anerkannt und adressiert werden müssen. Mit seiner These von der Anerkennung als Adressierung betont Ricken die Notwendigkeit der intersubjektiven Dimension für Prozesse der Subjektivierung/Subjektivation. Sein Konzept von Anerkennung ermöglicht es, Subjekte als sowohl bezogen wie geworden zu konzipieren, sie also weder dem Akt der Anerkennung vorauszusetzen noch sie als deren Produkt zu reduzieren. Auch Gesa Lindemann versucht in ihrem Beitrag den Prozess der Subjektwerdung zu beschreiben und für die Forschung zu operationalisieren. Ihr Fokus gilt der für diesen Prozess konstitutiven Trennung von subjektivierenden und anderen Entitäten und den Anteil dieser Trennung an der Herstellung intelligibler und sich als Subjekt verstehender Entitäten.

Im Folgenden reflektieren verschiedene Beiträge die Potenziale einer praxeologischen Perspektive für die Geschichtswissenschaften. Nikolaus Buschmann argumentiert überzeugend für eine solche Perspektive, weil sie es ermögliche, den Begriff der Erfahrung neu zu konzeptualisieren und den historischen Blick sowohl auf kulturelle Repräsentationen des Subjekts wie auf die Praktiken dessen Herstellung zu richten. Dagmar Freist ‚erprobt‘ diesen Blick am historischen Material der Frühen Neuzeit selbst und kann plausibel zeigen, dass und wie eine solche Perspektive Stabilität und Kontingenz zugleich zu erfassen vermag. Reiche Unternehmer schmückten sich mit dem Marderfell und eigneten sich damit dem Adel vorbehaltene Insignien und Distinktionsmerkmale an. Mit diesen und anderen Praktiken überschritten sie vorgezeichnete Subjektformen und produzierten neue Positionen innerhalb der sozialen Ordnung. Thomas Etzemüller wendet den praxeologischen Blick auf die Rekonstruktion von Subjektivierungen in der zeitgenössischen Wissenschaft, das heißt die Herstellung der allseits anerkannten Position des Wissenschaftlers bzw. der Wissenschaftlerin. Gunilla Budde wiederum weist auf die Bedeutung der Gefühle für die Position des Politikers bzw. der Politikerin im 19. und vor allem 20. Jahrhundert hin und argumentiert damit ihrerseits für einen historiographischen Blick auf Prozesse der Subjektwerdung. Rudolf Holbach arbeitet an einer mittelalterlichen Quelle, dem Text eines Mönchs, heraus, wie in diesem die Anleitung von Praktiken Prozesse der Selbstbildung steuert.

Für die Literaturwissenschaften kann Sabine Kyora mit einer praxeologischen Perspektive aufzeigen, wie sich einerseits einzelne Autoren inszenierten, und andererseits wie sich das literarische Subjekt entwirft. Silke Wenk eröffnet Anschlüsse an Fragen der visuellen Kultur, Ulrike Link-Wieczorek an Fragen der Theologie.

Die abschließenden Aufsätze verdeutlichen, dass es bereits sehr viel ältere Ansätze gibt, in denen Prozesse der Subjektivierung zumindest implizit verhandelt wurden insofern, als das Subjekt dort unterschiedlich als mit dem Objekt verwoben konzipiert wurde. Johan Kreuzer bezieht sich hier auf Vico, Reinhard Schulz auf Merleau-Ponty und Maxi Berger auf Adorno. Insbesondere Bergers Ansatz ist für den Band interessant, als sie kritisch darauf verweist, dass eine praxeologische Perspektive dazu tendiert den Begriff der Praktiken zu überstrapazieren sowie die Position des praxeologisch argumentierenden Subjekts unsichtbar zu machen. Damit bleibe sie letztlich einer Dichotomisierung von Subjekt und Objekt verhaftet, deren Überwindung Berger mit Adorno zu denken vorschlägt.

Im Ganzen stellt der Band ein überzeugendes Argument für die vorgeschlagene Forschungsprogrammatik dar, für eine praxeologisch ausgerichtete Analyse und Rekonstruktion von Prozessen der Selbst-Bildung. Auch wenn der Schwerpunkt der vorgestellten Perspektiven auf der Geschichtswissenschaft liegt, ist doch deutlich geworden, dass diese Programmatik von unterschiedlichen Disziplinen aus gewinnbringend operationalisiert werden kann. Die präsentierten theoretischen Ansätzen sind erhellend und die in Ansätzen vorgestellten materialen Analysen können zeigen, dass man mit diesem Blick Neues sehen kann. Nichtsdestotrotz bleibt der Eindruck, dass die Begeisterung für das Neue – (kritische) Subjekttheorie und Praxis –, verkennt, dass auch ‚Altes‘, zum Beispiel Gesellschaftstheorie, für das Erkennen sozialer Prozesse einiges zu bieten hat. Jedenfalls wäre an dieser Stelle Berger Recht zu geben, dass ein Reflektieren auf den Zeitkern auch von Praxistheorien und Subjekt-Konjunkturen selbst wichtige Hinweise hätte geben können, die Möglichkeiten wie auch Grenzen des gewählten Ansatzes genauer zu entfalten.

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