C. Conrad u.a. (Hrsg.): Wohnen und die Ökonomie des Raums

Cover
Titel
Wohnen und die Ökonomie des Raums – L’habitat et l’économie de l’espace.


Herausgeber
Conrad, Christoph; Eibach, Joachim; Studer, Brigitte; Teuscher, Simon
Reihe
Schweizerisches Jahrbuch für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 28
Erschienen
Zürich 2014: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
318 S.
Preis
€ 39,50
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Claude Enderle, Institut Innenarchitektur und Szenografie, Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel

Wie soll das Thema Wohnen begrifflich gefasst, wie methodisch ergründet werden? Auf diese offene und vielschichtige Fragestellung gibt der neuste Band des Schweizerischen Jahrbuches für Wirtschafts- und Sozialgeschichte unterschiedliche Antworten. Der Band versammelt aktualisierte Beiträge der gleichnamigen Jahrestagung 2011, nicht nur um das Forschungsthema des historischen Wohnens im Kontext einer Ökonomie des Raumes grundsätzlich in Erinnerung zu rufen, sondern auch wegen seiner Aktualität angesichts zeitgenössischer Wohndebatten.

Die Einführung „Wohnen – jenseits historiografischer Turns und Trends?“ von Adelheid von Saldern stellt facettenreich dar, dass Wohnen in wissenschaftlicher Hinsicht multidisziplinär ist, das heisst kaum inhaltliche und methodische Grenzen kennt. Die vielen angeführten Beispiele aus europäischen Städten des 20. Jahrhunderts erzählen von Akteuren und lokalen Netzwerken, von Performances, Ritualen und Ikonen. Es werden Einflüsse eines „Spatial Turns“ und von „Social Engineering“ ausgemacht sowie Aneignungen und Umnutzungen von Räumen als Aspekte von Diskursen zu Begriffen wie Öffentlichkeit und Privatheit erläutert. Natürlich sind die einzelnen Aspekte auch als Verschränkung von Politik- und Kulturgeschichte denkbar. Kurz, kaum ein methodischer Ansatz des 20. Jahrhunderts bleibt unerwähnt. Und das Fazit? Die nachgezeichneten Turns und Trends, so von Salderns Résumé, zeigen sowohl eine problematische „Dispersion des Forschungsbereiches Wohnen“ (S. 56) als auch ein „methodisch interessantes Experimentierfeld“ (S. 56) als Resultat von Multiperspektivität.

Multiperspektivität charakterisiert die Themen und Methoden der versammelten 14 Beiträge wohl am treffendsten. Chronologisch geordnet erstrecken sie sich von der frühen Neuzeit bis in die 1990er-Jahre. Geografisch reichen sie von Bern bis Berlin und darüber hinaus als vergleichende Betrachtung zivilgesellschaftlicher Strategien zwischen Westdeutschland und den USA. Methodisch sind es mehrheitlich mikrohistorische Betrachtungen zu Individuen oder Institutionen, sozialen Gruppen, Dörfern oder Stadtteilen. Im Detail zeigt sich eine grosse Variationsbreite, welche von Gender-Studies bis zu Langzeitstudien mit umfassenden Datenerhebungen und Analysen (inner)urbaner Mobilität reicht. Dass bei dieser inhaltich-methodischen Vielfalt die zur Debatte stehenden Grundbegriffe --Raum, Wohnen und Ökonomie sehr unterschiedlich gedacht werden, kann nicht überraschen – bisweilen erhellen sie allerdings die zeitliche Binnenstruktur1 der betrachteten Bevölkerungsgruppen wenig.

Die Auswahl der nachfolgenden Beispiele vermag der Themenvielfalt dieses Sammelbandes nicht gerecht zu werden. Sie gibt jedoch Einblicke in unterschiedliche Untersuchungsperioden.

Die Studie von Daniel Schläppi stellt „Räumliche Dimension von Ökonomie“ als vielschichtige Relationen von Raum und Ökonomie in Berner Zunfts- und Gesellschaftshäusern der Vormoderne vor. Untersucht werden diese als Orte der Allokation – also der Zuweisung von Gütern und Ressourcen bezogen auf Personen und/oder Produktionsprozesse – und Distribution kollektiver Ressourcen. Im Sinne von Max Webers umfassender wirtschaftlicher Vergemeinschaftung sind die Ziele der hier betrachteten Gemeinschaften als eine Ressourcenwirtschaft dargestellt, welche einer möglichen Knappheit an Gütern vorzubeugen suchte. Güter werden sowohl als materielle wie auch als immaterielle Werte verstanden und der weit gefasste Begriff Ressource reicht von physischen Besitzständen bis zu (berufs)ständischen Privilegien. Bei den immateriellen Werten sind auch repräsentative Symbole wie etwa Vertrauen oder Armenfürsorge miteinbezogen. Die Motive für Investitionen in die meist repräsentative Architektur von Zunfts- und Gesellschaftshäusern erscheinen in dieser Betrachtungsweise sehr vielschichtig, denn „[…] das Haus rahmte die ökonomisch-politische Handlungsgemeinschaft semantisch und funktional“(S. 77). Obwohl als „ständisch exklusive Sphäre“ (S. 78) mit Ressourcenkreisläufen für die eigenen Leute gedacht, wird der Bau als Mehrzweckgebäude charakterisiert, der auch Außenstehenden offen stand – sofern sie „interessante Kontakte“ versprachen. Rituale wie Festessen, Feiern, Armenspeisungen einerseits und Zugangs- oder Hausverbote anderseits weisen auf eine oftmals ökonomisch begründete räumlich-soziale Ausdifferenzierung hin, um den inneren Zusammenhalt der Gemeinschaft zu stärken, nicht zuletzt durch Abgrenzung nach außen. Eher implizit wird das Wohnen thematisiert.

Aus architektonischer Sicht interessiert besonders der Beitrag von Katharina Baumann „Ein Dorf in Bewegung“ als Studie zu Hausversetzungen in der Periode des 17. bis 19. Jahrhunderts. Die mehrheitlich sozialen und ökonomischen Motive infolge veränderter Dorfstrukturen werden – mit Blick auf ungefähr 30 Beispiele in Speicher, Kanton Appenzell Ausserrhoden – rekonstruiert und erörtert. Häufiger Grund für eine Gebäudeversetzung war der Wunsch der Dorfelite nach einem Neubau an attraktiven Orten im Dorfkern, wobei die Hausversetzung zur Kostendeckung der Neubauten wesentlich beitragen sollte (S. 156). Gleichzeitig befriedigten solche Gebäudeversetzungen an weniger attraktive Orte eine Nachfrage nach günstigeren Kauf- oder Mietpreisen, was als Ressourcenbewusstsein für eine Art frühneuzeitlichen Gebrauchtgütermarkt gedeutet werden kann.

Baumann rekonstruiert mittels Oral-History-Methode, das heißt im Gespräch mit Fachleuten der seit Generationen ortsansässigen Firma Naef AG, zwei grundsätzlich verschiedene Techniken der Gebäudeversetzung: einerseits die Demontage des Baues in seine Einzelteile und seine Remontage und anderseits die Dislozierung des vollständigen Hauses samt Mobiliar. Dabei wurde das Gebäude mit einem Hebegeschirr auf Wellen, also Rundhölzern aus Buchenholz, platziert und mit Seilwinden gezogen. Bemerkenswert ist die Erkenntnis, dass Hausverschiebungen auch im hügeligen Gelände möglich waren, das heißt viel weniger topografische Einschränkungen kannten als bisher angenommen. Im Detail betrachtet finden sich viele Einzelmotive für Hausversetzungen – aber keine modernen wie Straßenbau oder Denkmalpflege. Wichtig im Auge zu behalten ist, dass Hausversetzungen hier mit einem Besitzwechsel gleichzustellen sind und nicht etwa auf eine bestimmte Mobilitätsform des Wohnens hinweisen.

Ein thematisch und methodisch ganz anderes Forschungsfeld breiten die beiden Langzeitstudien zu den Städten Lausanne und Genf aus. Die Fallstudie von Reto Schumacher und Luigi Lorenzetti „Mobilité urbaine et formes résidentielles“ zu Lausanne wartet mit umfassenden Daten zur Mobilität der Bewohner zweier Straßenzüge zwischen 1835 und 1844 auf. Die Studie hält eine hohe Mobilität fest, wie man vor allem aus den Daten der ersten Jahre der Untersuchungsperiode ersehen kann, in der lediglich die Hälfte der Mieter an Ort verblieb. Diese Mobilität wird zudem in Abhängigkeit von gruppenspezifischen Profilen gezeigt, das heißt als signifikant höhere Mobilität von Hausangestellten und Untermietern gegenüber Mitgliedern von Kernfamilien. Die Studie zeigt also eine Umkehrrelation zwischen sozialer Hierarchie und Umzugshäufigkeit sowie eine erhöhte Sesshaftigkeit von Frauen. In diesem Zusammenhang wird auf die Studie von Adrien Reumund zu Genf hingewiesen, in der die stabilisierenden Funktionen sozialer Netzwerke untersucht werden. Die Sesshaftigkeit von Kernfamilien anderseits ist nicht zuletzt durch Liegenschaftsbesitz begründet.

Obwohl die Datensätze zu Lausanne nicht erlauben, konkrete Gründe weder für eine allgemeine noch eine individuelle Mobilität zu eruieren, gelingt es den Autoren nebst ökonomischen eine ganze Reihe weiterer Motive plausibel zu machen. In der Gegenüberstellung zu einer Mobilitätsstudie zum Mailand des 17. Jahrhunderts, welche eine ausgeprägte Sesshaftigkeit von Mietern und Untermietern zeigt, unterscheiden sich die Resultate der vorliegende Studie durch eine relativ hohe Mobilität grundsätzlich. Sie korrespondieren hingegen weitgehend mit Studienresultaten zu Amsterdam, Montreal und Riverside.

Trotz explizitem Bezug der Lausanner zur Genfer Studie bilden die beiden keine Einheit. Denn die Studie „Des toupies et des enracinés“ zur innerstädtischen Mobilität von Immigranten im Genf des 19. Jahrhunderts hat zwar auch die urbane Mobilität zum Thema, weitet aber die Untersuchungsperiode über das ganze Jahrhundert aus und, viel wichtiger noch, fokussiert auf die Population der Zuwanderer. Ausgegangen wird von der These, dass sich die Unstetigkeit ökonomischer Lebensumstände von Zuwanderern in ausgeprägter Berufs- und damit eng verbundener Wohnungsmobilität niederschlägt.

Die Studie zeigt die große Bedeutung sozioökonomischer Faktoren im Sinne von sozio-professionellen Netzwerken bei der Etablierung von Immigranten in Genf auf. Als Beispiele für gut strukturierte Netzwerke werden eine Art Bruderschaft der Bauarbeiter aus Savoyen und religiöse Gemeinschaften aus Frankreich detailliert beschrieben. Wesentliche Voraussetzungen für eine individuell erfolgreiche Nutzung der urbanen Möglichkeiten sind die Netzwerke des Herkunftsortes und/oder die Zughörigkeit zu einer einflussreichen Berufsgruppe. Als Gegenbeispiel wird die Gruppe deutschsprachiger Zuwanderer – meist Handwerker aus Deutschland oder der Deutschschweiz – beschrieben, welche diese Voraussetzungen nicht kannten und in der Folge den Launen des Schicksals viel stärker ausgeliefert waren. Die Studie macht so sozioökonomische Aspekte des Entwicklungsprozesses der Stadt Genf auf dem Weg zu einer modernen Stadt sichtbar.

Die Herausgebenden hatten die Intention „[…] auf den Reichtum laufender Forschung hinzuweisen“. Mit den 14 Beiträgen, die mit sehr unterschiedlichen Fragestellungen und Methoden eine ganze Reihe von Aspekten zum Wohnen und der Ökonomie des Raums zeigen, wurde dieses Ziel sicher erreicht. Weniger gut gelingt den Herausgebenden, eine Geschichte des Wohnens attraktiv zu machen. Dafür fehlen wohl nicht nur explizite Gegenwartsbezüge, sondern auch eine inhaltlich begründete – und damit weniger zufällig wirkende – Auswahl und Anordnung der Beiträge. Trotzdem präsentiert der Sammelband, zumindest für Spezialistinnen und Spezialisten, anregende Beiträge zu Raum, Ökonomie und Wohnen.

Anmerkung:
1 Jürgen Reulecke, Von der frühindustriellen Verstädterung zur Urbanisierung. Realisierung und Realität der «modernen Welt», in: ders. (Hrsg.), Geschichte des Wohnens. 1800–1918 Das bürgerliche Zeitalter, Bd. 3, Stuttgart 1997, S. 76.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/