V. Bopp-Filimonov: Erinnerungen an die "Nicht-Zeit"

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Titel
Erinnerungen an die "Nicht-Zeit". Das sozialistische Rumänien im biographisch-zeitgeschichtlichen Gedächtnis der Nachwendezeit (1989–2007)


Autor(en)
Bopp-Filimonov, Valeska
Reihe
Balkanologische Veröffentlichungen 61
Erschienen
Wiesbaden 2014: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
350 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marketa Spiritova, Ludwig-Maximilians-Universität München

Rumänien gehört zu den Ländern des postkommunistischen Europas, dem in der geschichts- und kulturwissenschaftlichen Forschung vergleichsweise wenig Beachtung geschenkt wird. Das gilt auch für die Gedächtnisforschung, was insofern erstaunt als Erinnerung und Gedächtnis nach wie vor die Diskurs prägenden Leitkonzepte der kulturwissenschaftlich orientierten Geschichtswissenschaften sind. Umso begrüßenswerter ist die an der Universität Leipzig 2011 abgeschlossene Dissertation von Valeska Bopp-Filimonov zu den, wie sie in Anlehnung an den rumänischen Historiker Sorin Antohi schreibt, „Erinnerungen an die ‚Nicht-Zeit‘“ im „biographisch-zeitgeschichtlichen Gedächtnis“ Rumäniens. Ausgehend vom fehlenden politischen wie gesellschaftlichen Konsens über die dramatischen Revolutionsereignisse im Dezember 1989 sowie einem anhaltenden Kampf um Deutungshoheit in Bezug auf die Zeit zwischen 1944 und 1989 rekonstruiert Bopp-Filimonov auf der Grundlage von Oral History Interviews die Lebensentwürfe von Zeitzeug/innen vor dem Hintergrund der medialen und wissenschaftlichen Erinnerungsdiskurse. Bopp-Filimonovs zentrale Frage lautet: Wie stehen offizielle Erinnerungskultur und kommunikatives Gedächtnis zueinander, wie wirken sich erinnerungskulturelle Diskursmotive auf subjektive Erinnerungsnarrative aus und umgekehrt? Es geht also um die in den bisherigen Arbeiten vernachlässigte Verzahnung von Biografie und Diskurs, um „die Frage nach der parallel verlaufenden und sich dabei zugleich wechselseitig beeinflussenden ‚Identitätsarbeit‘1 von Individuen und Gesellschaft nach dem politischen Systemumbruch 1989“ (S. 9).

Das Buch ist in fünf Kapitel gegliedert: Auf die Einführung, in der die Fragestellung formuliert, der Forschungsstand aufgearbeitet, die gängigen Konzepte zum kollektiven Gedächtnis kritisch erörtert und die methodischen Zugänge sowie mögliche Lesarten der Arbeit vorgestellt werden (jedes Hauptkapitel kann für sich gelesen werden), folgen ein diskursanalytisches Kapitel über die „Sagbarkeitsregeln und Sprachspiele“ (Kap. 2) sowie ein auf narrativ-biografischen Interviews basierendes Kapitel über die „Erinnerungen in drei Bukarester Familien“ (Kap. 3). In Kapitel 4 werden die synchrone mit der diachronen Ebene zusammengeführt, übergreifende Erinnerungsmuster herausgearbeitet und grundsätzliche Überlegungen zum kommunikativen Gedächtnis angestellt. Kapitel 5 beschließt die Monografie mit einem Resümee und einem Literaturverzeichnis, im Anhang finden sich neben den verwendeten Quellen die (leider sehr lästigen) Transkriptionsregeln sowie eine lesenswerte Übersicht über alle interviewten Familien.

Da es Valeska Bopp-Filimonov zum einen um die Rekonstruktion der Sagbarkeitsregeln zur sozialistischen Vergangenheit geht und zum anderen um die diskursanalytische „Rückkoppelung zum privaten Erinnerungsnarrativ“ (S. 49), entscheidet sie sich im Rückgriff auf Siegfried Jäger und Jürgen Link zunächst für eine sprachlich-diskursive Auswertung der (nicht-wissenschaftlichen) Mediendiskurse (Kap. 2). In diesem ersten Hauptkapitel, das auch dazu dienen soll, den/die Leser/in in das Forschungsfeld einzuführen, zeichnet Bopp-Filimonov die politische Parteienlandschaft nach 1989 nach und arbeitet chronologisch die verschiedenen – postkommunistischen, neonationalistischen und antikommunistischen – Diskurspositionen heraus, auf die im zweiten Hauptkapitel auch ihre Gesprächspartner/innen immer wieder Bezug nehmen. In den ausgewählten Berichten und politischen Verlautbarungen aus Presse und Fernsehen interessieren Bopp-Filimonov vor allem vier „Schlüsselereignisse“ in der Geschichte Rumäniens nach 1989: 1. Die unmittelbare postkommunistische Zeit nach der Revolution im Dezember 1989, in der der Kommunismus aufgrund seiner „Bedeutungsverschmelzung“ mit Nicolae Ceauşescu (S. 72) „in der politischen Sprache zu einem diffamierenden Begriff mit delegitimierendem Charakter“ (S. 59) wurde. 2. Die vom Neonationalismus und bisweilen Antisemitismus geprägten frühen 1990er-Jahre, in denen das faschistische Rumänien der 1940er-Jahre vor allem durch die Rehabilitierung von Ion Antonescu eine Aufwertung erfuhr. 3. Die Regierungsperiode des Parteienbündnisses CDR, der Demokratischen Konvention Rumäniens zwischen 1996 und 2000, die einen Wendepunkt in der Geschichtspolitik Rumäniens einleitete, indem sie unter anderem den Nationalen Rat für das Studium der Archive der Securitate (CNSAS) gründete und eine Überarbeitung historischer Narrative in den Schulbüchern anregte. Allerdings, wie Bopp-Filimonov anhand eines öffentlichen Skandals um ein neues Schulbuch zeigt, das als „anti-national“, als eine „Beleidigung für das rumänische Volk“ kritisiert (und 2001 verboten) wurde, konnte sich das Bündnis nicht länger als eine Wahlperiode halten (S. 80). 4. Die Regierungsjahre 2004–2006, in denen das Thema Kommunismus – rechtzeitig vor dem Beitritt zur EU, ebenso wie die Aufarbeitung von Rumäniens Verstrickung in den Holocaust – wieder auf die politische Bühne gehoben und in Medien eine antikommunistische Diskursposition eingenommen wurde. Abschließend zieht Bopp-Filimonov für ihren Untersuchungszeitraum 1989–2006 das Fazit, dass der Kommunismus, von der als „goldenen Epoche“ erinnerten 1960er- und 1970er-Jahre abgesehen (S. 92), als ein Fremdimplantat gedeutet und die Revolution von 1989 zwar als ein wichtiger, zugleich aber ein umstrittener Erinnerungsort verhandelt wird, der nicht zur nationalen Meistererzählung tauge. Hier wäre es wünschenswert gewesen, zumindest kursorisch die Diskurse nach 2006, gerade vor dem Hintergrund des EU-Beitritts 2007, einzubeziehen.

Das zweite Hauptkapitel widmet sich der Darstellung der Fallrekonstruktionen. Es gilt, das Herzstück der Arbeit, und das sind immerhin 45 lebensgeschichtlich-narrative Interviews in 18 Familien in den Städten Bukarest, Alexandria und Temeswar, nach der familialen Tradierung von Wissen, Erfahrung und Erinnerung zu befragen. Die Interviews wurden zwischen 2005 und 2007 in rumänischer oder deutscher Sprache geführt, die Befragten gehör(t)en den Generationen der in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren Geborenen an. Bopp-Filimonov unterzieht die Interviews einer gründlichen Quellenkritik und thematisiert aufgetretene Probleme im Feld (einige der Befragten wollten nicht aufgezeichnet werden, andere verweigerten die Publikation ihrer Aussagen). Sie hält gleich zu Beginn fest, dass „insgesamt wenig über das konkrete Erleben der Zeit vor 1989 in Familien gesprochen“ wurde (S. 37) und analysiert ihre Fälle in der Tradition der soziologischen Biografieforschung mit den Methoden der Objektiven Hermeneutik. Um die Erlebnis-, Erfahrungs-, Erinnerungs- und Deutungsschichten freizulegen und die Sinn(re)konstruktionen der Biograf/innen zu erschließen, kontextualisiert Bopp-Filimonov die Interviews innerhalb des historischen Kontextes, der Generation, der Familienerfahrung sowie des öffentliches Diskurses der zuvor dargestellten historischen Phasen. Eine streng nach den Prinzipien der Qualitativen Sozialforschung eingehaltene Fallrekonstruktion birgt sowohl Vor- als auch Nachteile. Einerseits gelingt durch eine zahlreiche Aspekte umfassende Kontextualisierung des Textmaterials und seine Kontrastierung mit den Erinnerungstexten der anderen Familienmitglieder an manchen Stellen ein tiefer Einblick in die Identitätsentwürfe der befragten Zeitzeug/innen. Andererseits erscheint es schade, aus der immensen Fülle des erhobenen Materials lediglich vier Interviews auszuwählen und sie ‚nur‘ zu den medialen Diskursen in Beziehung zu setzen. Weitere Interviews werden erst im vierten Kapitel „Erinnerungstextur(en)“ hinzugezogen, um andere „Analyseperspektiven“ (S. 261) skizzenhaft aufzuzeigen. Eine frühere Einbindung hätte, zumal so unterschiedliche wie außergewöhnliche Lebensgeschichten für die Publikation ausgewählt wurden, die verschiedenen Milieugedächtnisse bzw. Ausblickspunkte auf das kollektive Gedächtnis nachvollziehbarer gemacht. Etwa im Falle der ersten Fallrekonstruktion des Intellektuellen Dan (zur Zeit der Befragung 66 Jahre alt), der im Gespräch immer wieder auf die Wir-Gruppe des intellektuellen Milieus verwies, die eine „utopische [Überzeugungs]gemeinschaft“ gewesen sei (S. 114). Dan stammte aus einer politisierten Familie, die großen Einfluss auf seine Biografie gehabt habe. 1968 trat er (wie so viele andere) der Kommunistischen Partei bei, er identifizierte sich mit dem sozialistischen Rumänien und stilisierte sich gleichzeitig als intellektueller Rebell (S. 117). Schließlich, nach der Revolution, stellte er seine Lebensentscheidungen in Frage, suchte nach einer neuen Positionierung, nach einem Platz „in der neuen Gesellschaft“ (S. 161). Dies missglückte, seine politischen Aktivitäten nach 1989 scheiterten. In diesem Interview zeigen sich beispielhaft die Brüche und Widersprüche, Verallgemeinerungen, Interpretationen, Sinngebungen und Rechtfertigungen, die lebensgeschichtlichen Erzählungen zu eigen sind. Hier wird das Austarieren zwischen Opfer und Akteur, zwischen Systemkritik und Anpassung besonders deutlich. Diese „systemkritische Haltung als leere Worthülse“ (S. 121) zu entlarven, erscheint aus wissenschaftsethischen Gründen allerdings problematisch, erkenntnisbringender sind hingegen Bopp-Filimonovs Thesen von der „Kontinuität des verschleiernden Erzählens“ (S. 131) und der „Biografiemächtigkeit“, dem „Gefangensein in geschichtlichen Fängen der Familientradition“ (S. 158), die politisches Engagement einfordert.

Nach einer weiteren Fallanalyse folgt ein Kapitel über die Grenzen und Fallstricke der Oral History in einem hoch sensiblen, von Misstrauen und Tabus geprägten Forschungskontext. So werden hier die Erinnerungsnarrative einer Familie, die der kommunistischen Elite angehörte und ihre Aussagen nicht veröffentlichen wollte, nicht aus der lebensweltlichen Perspektive sondern auf einer Metaebene vor dem Hintergrund der Forscherinnenrolle im Feld problematisiert. Vor allem in diesem Kapitel zu „Lebensgeschichten, die nicht einem vorhandenen positiv besetzten Teilnarrativ der gegenwärtigen Geschichtsnarration entsprechen“ (S. 244), wird die „(Nicht-)Erzählbarkeit sozialistischer Lebenswege und Erfahrung“ (S. 55), etwa durch „mitteilsames Schweigen, Erinnerungs- bzw. Sprachverweigerung und zwanghafte Verhaltensweisen“ (S. 258), die in den Familien tradiert werden, besonders deutlich. Es lässt sich nur erahnen und darüber spekulieren, welche Rolle das schwierige Thema Securitate in den Selbstbeschreibungen der Befragten heute spielt. Es lässt sich, soviel ist sicher, (noch) nicht in die biografischen Lebensentwürfe integrieren, weil es, wie Bopp-Filimonov zu Recht schlussfolgert, „zum Interviewzeitpunkt noch kein Forum [gab]“ und die „Erzählmuster [fehlten], an denen sich die Menschen orientieren konnten, wenn sie aus ihrer Vergangenheit berichten“ (S. 258). Reinhart Kossellecks Konzept des „negativen Gedächtnisses“, sein „grauenerregende[r] Inhalt“ und die „Weigerung ihn aus dem Gedächtnis in die Erinnerung zu überführen“2, finden hier sichtbarsten Ausdruck.

In der Kombination von Diskursanalyse und Oral History und hier vor allem im Aufzeigen der methodischen Grenzen, liegt zum einen der Gewinn von Valeska Bopp-Filimonovs Untersuchung. Zum anderen liefert die Studie einen längst überfälligen Beitrag zur Erinnerungskulturforschung in Rumänien. Trotz der erwähnten Kritik stellt sie eine empfehlenswerte Lektüre für alle dar, die am Umgang Rumäniens mit seiner sozialistischen Vergangenheit interessiert sind.

Anmerkungen:
1 Ulrike Jureit, Identitätsarbeit. Ein Kommentar zu biographischen Erinnerungen in (post)sozialistischen Gesellschaften, in: Julia Obertreis / Anke Stephan (Hrsg.), Erinnerungen nach der Wende. Oral History und (post)sozialistische Gesellschaften, Essen 2009, S. 85–90.
2 Reinhart Koselleck, Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses, in: Volkhart Knigge / Norbert Frei (Hrsg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, Bonn 2005, S. 21–33, hier S. 21.

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