M. Schöning (Hrsg.): Ernst Jünger-Handbuch

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Titel
Ernst Jünger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung


Herausgeber
Schöning, Matthias
Erschienen
Stuttgart 2014: J.B. Metzler Verlag
Anzahl Seiten
VII, 439 S.
Preis
€ 69,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Forstner, Berlin

Einer ganzen Reihe von Autoren hat der Metzler-Verlag bereits Personenhandbücher gewidmet: Klassikern wie Kleist, Schiller, Hölderlin und Nietzsche, aber auch modernen Autoren wie Ingeborg Bachmann oder Elfriede Jelinek. Nun ist das 440 Seiten starke Ernst Jünger-Handbuch hinzugekommen, das sich mit Leben, Werk und Wirkung des 1998 verstorbenen Autors auseinandersetzt, dessen Schaffen von den posthum edierten Tagebüchern aus dem Ersten Weltkrieg bis zur letzten Publikation zu Lebzeiten („Siebzig Verweht V“, erschienen 1997) das gesamte „kurze 20. Jahrhundert“ umspannt. Letzteres, in Verbindung mit seiner zwischen Nähe und Distanz changierenden Haltung zu den jeweiligen Leitströmungen der Epoche, verschafft Jünger eine Ausnahmestellung unter den Autoren des 20. Jahrhunderts und lässt ihn gerade auch für Historiker interessant erscheinen.

Mehr als 50 Autorinnen und Autoren überwiegend aus Deutschland, aber auch aus Frankreich, Polen, Tschechien und den USA haben zu dem vorliegenden Kompendium beigetragen. Dabei handelt es sich nahezu ausschließlich um Vertreter universitärer Forschungseinrichtungen, woraus eine gewisse kritische Distanz zum Forschungsgegenstand resultiert – in der zeitweise stark durch engagierte Publizistik und Zeitzeugenschaft geprägten Literatur zu Jünger keine Selbstverständlichkeit. Das vorliegende Handbuch widmet sich vorrangig dem literarischen Schaffen des Autors und analysiert dessen umfangreiche Produktion in den jeweiligen Werken gewidmeten Einzelbeiträgen. Dies ist Stärke und Schwachpunkt des Handbuchs zugleich.

Nach einer knappen Einleitung bilden in dem „Leben und Werk“ überschriebenen Teil zwei ausführlichere Beiträge zu „Kriegserfahrung und politische Autorschaft“ (Matthias Schöning) und zu den „Zäsuren und Kontinuitäten des Gesamtwerks“ (Ingo Stöckmann) den Auftakt. Hier werden Themenkomplexe wie Jüngers Kriegsdarstellung, sein Nationalismus, sein Verhältnis zum Nationalsozialismus und seine Haltung hierzu nach 1945 sowie die Frage diskutiert, wie sich das Früh- zum Spätwerk verhält. Ein eigentlicher biographischer Überblick1 fehlt jedoch, hier bleibt dem Leser nur der Blick in die Zeittafel im Anhang, die aber kaum mehr als verhältnismäßig dürre Fakten liefert.

Den gut 300 Seiten umfassenden Hauptteil des Bandes nimmt die Besprechung der „Werke“ Jüngers ein. Sie folgen der Chronologie des Erscheinens, vermeiden also eine Zuordnung zu Genres wie in den von Jünger selbst verantworteten Werkausgaben. Zu bedauern ist, dass der Herausgeber offenbar darauf verzichtet hat, den Autoren Vorgaben für eine einheitliche sinnvolle Struktur der Beiträge zu machen. Während die Mehrzahl zu einer übersichtlichen und nachvollziehbaren Gliederung findet, wie etwa Volker Mergenthaler in seinem Beitrag zur Erzählung „Afrikanische Spiele“ von 1936, der in Abschnitte wie Entstehung, Rezeption und Interpretation eingeteilt ist, sind selbstverliebt anmutende Zwischenüberschriften wie „Restaurative Klangphysiognomik“ – was auch immer damit gemeint sein mag – und „Commonplace Book“ (so im Beitrag von Heiko Christians zu „Blätter und Steine“) für einen schnellen Zugriff kaum hilfreich.

Zehn Beiträge sind dem Schaffen Jüngers in der Weimarer Republik gewidmet. Die „Stahlgewitter“ in ihren verschiedenen Fassungen und die jüngst edierten Kriegstagebücher werden von Helmut Kiesel in einem Beitrag zusammengefasst. Neben den literarischen und essayistischen Eigenpublikationen Jüngers, darunter Hauptwerke wie die erste Fassung von „Das abenteuerliche Herz“ (Gregor Streim) und „Der Arbeiter“ (Jürgen Brokoff), findet sich hier auch ein Beitrag über die „Politische Publizistik“ Jüngers (Sven Olaf Berggötz) sowie über die von ihm zwischen 1926 und 1933 verantworteten Herausgeberschaften (Bernd Stiegler).

Sechs Artikel beschäftigen sich mit den zwischen 1933 und 1945 erschienenen Werken. Die eine Phase des Übergangs im Schaffen Jüngers anzeigende Textsammlung „Blätter und Steine“ von 1934 wird in einem eher unstrukturierten Beitrag abgehandelt, dessen Autor Heiko Christians Freude an ausgefallener Begrifflichkeit hat, auf eine nähere Behandlung des für Jüngers Wahrnehmungsästhetik so bedeutsamen „Sizilischen Brief an den Mann im Mond“ aber verzichtet. Offenbar ist dem Herausgeber dieser bereits 1930 erschienene Text „durchgerutscht“ (oder er erschien ihm nicht wichtig genug), da er auch an anderer Stelle im vorliegenden Band nicht behandelt wird.

Ausführliche und profunde Beiträge sind der Erzählung „Afrikanische Spiele“ (Volker Mergenthaler), der in Jüngers Schaffen eine entscheidende Wende markierenden zweiten Fassung von „Das abenteuerliche Herz“ (Georg Streim) und den zum Widerstandsbuch stilisierten „Marmorklippen“ von 1939 (Matthias Schöning, mit 14 Druckseiten der längste Beitrag zu einem einzelnen Werk im vorliegenden Band) gewidmet. Artikel zu den noch im Krieg erschienen Tagebüchern „Gärten und Straßen“ aus den Jahren 1939 und 1940 (Carola Hilmes) und zu seinem 1944/45 in vertraulichen Abschriften kursierenden Aufruf an die Jugend Europas „Der Friede“ (Michael Neumann) schließen den Teil zur NS-Zeit ab. Neumann deckt mit scharfer Analytik die zahlreichen blinden Flecken in Jüngers Friedensschrift auf und seziert die Muster der Selbstinszenierung des Autors als prophetischer Seher. Wie auch einige andere Autoren des Handbuch trägt er dadurch entschieden zur Entzauberung Jüngers bei und zeigt, dass dessen Zeitdiagnostik, gerade dort, wo er sie als Initiation in ein neues Wissen inszeniert, „an vielen Stellen auf Gemeinplätze aus dem Reservoir der Kulturkritik beschränkt bleibt“ (S. 157).

Dem über 50-jährigen Schaffen Jüngers in Nachkriegszeit und Bundesrepublik ist der dritte Abschnitt des werkanalytischen Teils gewidmet. Er umfasst einschließlich der Analyse der beiden von Jünger selbst verantworteten Werkausgaben (Barbara Hahn) sowie einem Beitrag zur von ihm zwischen 1959 und 1971 zusammen mit dem Religionswissenschaftler Mircea Eliade herausgegeben Zeitschrift „Antaios“ (Ulrich von Loyen) insgesamt 27 Beiträge, auf welche hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. Berücksichtigt wurden nicht nur alle selbstständigen Veröffentlichungen Jüngers, wie die Tagebuchsammlung „Strahlungen“ von 1949 (Ralf Klausnitzer), der Roman „Heliopolis“ (Peter-Uwe Hohendahl), der zeitdiagnostische Essay „An der Zeitmauer“ (Wojciech Kunicki) oder die „Subtilen Jagden“ (Benjamin Bühler) und für sein Schaffen wesentliche unselbständige Veröffentlichungen wie der Beitrag „Über die Linie“ (Manfred Weinberg), den Jünger in der Festschrift zu Martin Heideggers 60. Geburtstag veröffentlichte, sondern auch Sammelbeiträge zu „Kleinere[n] Essays, Aphorismen und Gelegenheitsschriften“ (Milan Horňáček) ebenso wie zu Jüngers „Dankesreden“ (Thomas Pekar). Wie sinnvoll dieses Streben nach Vollständigkeit im Hinblick auf doch sehr abgelegene Publikationen in einem Handbuch ist, das kein Kommentar zur Werkausgabe sein sollte, sei dahingestellt.

Ein letzter Abschnitt des Werkteils berücksichtigt die Nachlasspublikationen, darunter vor allem die edierten Briefwechsel mit Rudolf Schlichter (Dirk Heißerer), Carl Schmitt (Ingeborg Villinger), Gerhard Nebel (Michael Neumann) und Friedrich Hielscher (Ina Schmidt) sowie in einem Sammelbeitrag „Weitere edierte Korrespondenzen“ (Norman Ächtler) mit Zeitgenossen wie Gottfried Benn, Stefan Andres, Martin Heidegger, Dolf Sternberger, Gershom Scholem unter anderem. Wesentlich zu knapp fällt der den Werkteil abschließende fünfseitige Beitrag von Jasmin Hambsch über den Nachlass Jüngers im Deutschen Literaturarchiv Marbach aus. Umso mehr, als es sich – wie die Autorin selbst einräumt – um einen „Jahrhundertnachlass“ handelt, der aus mehr als 600 Kartons Archivalien, 4.000 Bänden der ursprünglich 13.000 Bände umfassenden Bibliothek Jüngers und weiteren Materialien besteht. Hier hätte man sich doch mehr Substanz und nicht nur eine sehr grobe Bestandsübersicht gewünscht. Methodisch hätte der Beitrag zudem besser am Beginn des Buches seinen Platz gefunden.

Jenseits der Literaturwissenschaft beginnt der Band im mit „Begriffe und Konstellationen“ überschriebenen Teil IV besonders interessant zu werden. Zunächst werden hier Leitkonzepte im Schaffen Jüngers, wie „Autorschaft“ (Steffen Martus), „Désinvolture“ (Danièle Beltran-Vidal), „Gestalt“ (Anette Simonis), „Rausch“ (Ulrich Baron) oder „Technik“ (Bernd Stiegler) unter anderem analysiert. So arbeitet beispielsweise Thomas Amos in seinem Beitrag „Lesen“ heraus, wie Jünger sich in verschiedenen Abschnitten seines Lebens anhand seiner Lektüregewohnheiten und deren Kommunikation gegenüber seinen eigenen Lesern selbst in Szene setzte und Lesen nicht nur als „quasi-therapeutisches Mittel in einen Prozess der Selbstreflexion, ja der Identitätsfindung“ integrierte (S. 336), sondern sich selbst zu einem überzeitlichen poeta doctus stilisierte, um sich schließlich in der Nachkriegszeit in unverkennbarer Analogisierung mit Goethe – wobei die Entomologie als Ausweis naturwissenschaftlicher Bildung als wichtiges Vehikel fungierte – gewissermaßen selbst zum Klassiker zu stilisieren versucht. Überdies behandelt der Abschnitt persönliche Konstellationen zu Persönlichkeiten wie dem heute vollkommen vergessenen skurrilen Philosophen Hugo Fischer (1897–1975; Heiko Christians), zu Martin Heidegger (Peter Trawny), zum Graphiker Alfred Kubin (Andreas Geyer) oder zu Jüngers Bruder Friedrich Georg (Ulrich Fröschle). Angesichts der Fülle der Freunde und Weggefährten Jüngers erscheint die Auswahl von lediglich sechs Personen jedoch arg reduziert und willkürlich (wo bleiben etwa Carl Schmidt, Hans Speidel, die Wilflinger Stauffenbergs oder die zahlreichen Entomologen unter den Korrespondenzpartnern?). Der Bedeutung der Netzwerke und Freundeskreise, auf die Jünger sich wie wohl kaum ein anderer Autor insbesondere in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg stützte, wird diese knappe Auswahl nur zum Teil gerecht.

Der letzte, mit „Rezeption und Forschung“ überschriebene Teil des Handbuchs umfasst nur rund 20 Seiten. Die hier versammelten Beiträge behandeln die intellektuelle Wahrnehmung Jüngers bis 1945 (Walter Delabar), die literarische Rezeption im Umfeld der Gruppe 47 (Norman Ächtler), Literaturpreise und öffentliche Würdigungen (Norbert Dietka) und die aktuelle Forschungssituation (Matthias Schöning). Die Beiträge zur Rezeption fallen im Verhältnis zum Umfang des gesamten Handbuchs leider zu knapp aus. So vermisst man etwa einen Beitrag zur Ernst Jüngers Lesern und zur Interaktion zwischen Autor und Leserschaft, der bei Jünger spätestens seit den 1950er-Jahren eine besondere Bedeutung zukam. Auch die oft zu beobachtende Jünger-Manie, die besondere Faszination für seine Gestalt, seine Anziehungskraft für die Neue Rechte etc. werden zu knapp behandelt.

Abgerundet wird das Handbuch durch einen umfangreichen Anhang mit Zeittafel, Publikationschronologie, Literaturverzeichnis, einem Verzeichnis der Autoren und einem Personenregister.

Insgesamt liegt mit dem Jünger-Handbuch ein in dieser Form bislang nicht verfügbares Kompendium auf sehr hohem fachlichen Niveau vor, das den aktuellen Stand der Jünger-Forschung souverän wiedergibt. Auch die ausführlichen weiterführenden Literaturangaben zu jedem Beitrag sind für jeden, der sich eingehender mit der Materie beschäftigen möchte, von hohem Nutzen. Zudem trägt der Band einerseits zur Versachlichung der Debatte um einen vielfach verfemten Autor, andererseits aber auf wohltuende Weise auch zur Entmystifizierung von Person und Werk Jüngers bei, dessen poetologische Selbstinszenierung lange Jahre auch die Rezeption prägte.

Anmerkung:
1 Wie etwa der Beitrag „Nietzsches Leben“ von Christian Niemeyer im Nietzsche-Handbuch desselben Verlags: Henning Ottmann (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2000.