M. Kohlrausch u.a.: Building Europe on Expertise

Cover
Titel
Building Europe on Expertise. Innovators, Organizers, Networkers


Autor(en)
Kohlrausch, Martin; Trischler, Helmuth
Reihe
Making Europe. Technology and Transformation, 1850–2000
Erschienen
Basingstoke 2014: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Salm, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum

„Making Europe: Technology and Transformation, 1850–2000“ nennt sich eine von Johan Schot (University of Sussex) und Philip Scranton (Rutgers University) auf sechs Bände angelegte neue Buchserie zur europäischen Zeitgeschichte. Diese soll aus der Sicht von Technologie erzählt werden und einen alternativen Ansatz zur üblichen zeitgenössischen Geschichtsforschung bieten. Statt Kriege als Eckpunkte für Untersuchungszeiträume zu setzen und historische Brüche zu rekonstruieren, wollen die Herausgeber am Beispiel von Technologie Kontinuitäten bei der Entstehung des modernen Europas herausarbeiten. Ihren Untersuchungszeitraum nennen sie das lange 20. Jahrhundert – angefangen mit dem Start der Globalisierung durch neue Transport- und Kommunikationstechnologien um 1850 bis hin zur von der digitalen Revolution gekennzeichneten Dekade 1990–2000. Das Hauptnarrativ ihrer Serie handelt von der Herstellung grenzüberschreitender Verbindungen ausgelöst durch das Wirkungsvermögen neuer Technologien zur Ausgestaltung unterschiedlichster internationaler Beziehungen. Um diese transnationale Perspektive einfangen zu können, sind die Herausgeber einen etwas unkonventionellen Weg gegangen. Um den nationalstaatlichen Fokus vieler Monographien und die Einbettung von Sammelbandbeiträgen in ein abgeschlossenes Europabild zu vermeiden, sind fünf der Bände von zwei Autoren und ein Band von drei Autoren verfasst worden. Auf diese Weise sollen mehrere Narrative zur Rolle von Technologie für die Ausformung Europas dargeboten werden, so das Ziel der Herausgeber.

Der von Martin Kohlrausch und Helmuth Trischler verfasste Band setzt sich mit dem Beitrag von Experten aus Technologie und Wissenschaft bei der Entwicklung des modernen Europas auseinander.1 Angepasst an den Untersuchungszeitraum der Herausgeber beginnen die Verfasser ihre Analyse mit der ersten Weltausstellung technischer Errungenschaften in London im Jahr 1851. In dieser sehen sie die Grundsteinlegung für den internationalen Wissensaustausch unter Experten zu aktuellen Themen mit transnationaler Bedeutung. Mit dem im Jahr 2000 gefassten Vorhaben der Europäischen Union, nationale Ressourcen in Forschung und Technologie weiter zu bündeln, um der Stagnation des europäischen Integrationsprozesses entgegenzuwirken, schließen sie ihre Analyse ab. Auch wenn dabei multiple weltweite Verbindungen europäischer Expertise zur Sprache kommen, ist das von ihnen diskutierte Europa doch auf den europäischen Kontinent fokussiert.

Ähnlich zu aus der Berufssoziologie bekannten Theoremen zielt Kohlrauschs und Trischlers Begriffsdefinition des „Experten“ nicht ausschließlich auf Wissenschaftler sondern auch auf ausgebildete Fachkräfte.2 Damit meinen sie etwa Ingenieure, Architekten, Agrar-Ökonomen und Stadtplaner, deren Arbeit und besonderes Fachwissen auf wissenschaftlichen Prinzipien beruhte und als relevantes Wissen anerkannt wurde. Ins Zentrum ihrer Analyse stellen sie also jene Experten, die ihr Fachwissen aus der Kombination von Wissenschaft und Technologie bezogen. Des Weiteren richtet sich ihr Interesse vor allem auf Ingenieure mit dem Willen gesellschaftliche Organisationsformen zu überdenken und auf Wissenschaftler mit dem Mut ihre abgeschotteten Elfenbeintürme zu verlassen. Genau diese seien aufgrund der Motivation, europäische Zentren für den Wissensaustauch zu bilden, Hauptakteure der europäischen Integration geworden.

Verbunden mit dieser Begriffsdefinition ist die Hauptthese des Buchs. Kohlrausch und Trischler bringen vor, dass Nationalismus und Transnationalismus keine gegensätzlichen Kräfte sondern verstrickte Prozesse waren – eine mittlerweile schon öfters vorgebrachte Ansicht3 –, in denen Experten sowohl zur Entwicklung der einzelnen europäischen Nationalstaaten als auch zur europäischen Integration durch transnationale Zusammenarbeit beitrugen. Dabei ordnen sie die Zirkulation von Wissen durch transnationale Kooperationsformen und Netzwerke dem Konzept verdeckter Integration („hidden integration“) zu. Die mit diesem Konzept verbundene Idee, dass unsichtbare und als selbstverständlich erachtete Verbindungen zwischen Individuen, Organisationen, Regionen und Nationen existieren, zieht sich durch alle drei Hauptkapitel des Buchs. Demnach bot verdeckte Integration eine Plattform zum stetigen Erschaffen und Teilen von Expertise in Technologie und Wissenschaft mit sozialen und politischen Auswirkungen auf das entstehende moderne Europa.

Die drei Hauptkapitel sind drei Zeiträumen mit jeweils besonderen Merkmalen zur Rolle von Experten bei der Ausgestaltung Europas während des langen 20. Jahrhunderts zugedacht. Der erste Zeitraum ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu den frühen 1930er-Jahren ist für Kohlrausch und Trischler vor allem durch drei Aspekte gekennzeichnet: der Entwicklung eines Ausbildungssystems (vor allem für Ingenieure), den sozialen Aufstieg von Experten zu neuen nationalen Eliten und das Bemühen einzelner herausragender Persönlichkeiten Wissen durch technologische Errungenschaften zur Schaffung europäischer Friedensordnungen neu zu organisieren. Sowohl die Entwicklung des Ausbildungssystems als auch der soziale Aufstieg von Experten sei dabei stark von den modernen Nationalstaaten und deren politischen Zielen abhängig gewesen. So hätten Experten die Forderungen der Staaten nach technologischem Fortschritt für nationale Zwecke erfüllt und zugleich jedoch auf transnationalen Ebenen kooperiert. Insgesamt sei in diesem Zeitraum eine zunehmende Politisierung von Expertise erfolgt.

Charakterisiert durch die zwei Rollen von Experten als Krisenmanager sozialer Probleme und Wegbereiter für die totalitären Regime Europas stecken die Autoren den zweiten Zeitraum mit der Zwischenkriegszeit und dem Zweiten Weltkrieg ab. Während Technologie in den 1920er-Jahren immer mehr mit Macht, Gesundheit und sozialer Wohlfahrt gleichgesetzt worden wäre, hätten sich etwa Architekten und Stadtplaner zunehmend als Experten für die Entwicklung neuer sozialer Ordnungssysteme verstanden. Doch der Glaube vieler Experten, dass demokratische Systeme sie an der Lösung sozialer Krisen hindere, hätte auch zum Aufstieg der totalitären Regierungen Europas in den 1930er-Jahren beigetragen. Mit Beispielen aus Deutschland, Italien und Russland zeigen Kohlrausch und Trischler, wie sich Expertenkulturen den neuen politischen Umständen anpassten und die totalitären Regime mit Expertise unterstützten. Zugleich machen sie aber auch mit Verweis auf bekannte und unbekannte Fälle deutlich, dass die Vertreibung vieler Experten zur transnationalen Zirkulation von Wissen in Technologie und Wissenschaft massiv beitrug.

Der dritte Zeitraum umfasst schließlich das Nachkriegseuropa. Er weist für Kohlrausch und Trischler als besondere Merkmale die Vertiefung der transnationalen Zusammenarbeit unter Experten sowie die Gründung europäischer technowissenschaftlicher Institutionen auf. Am deutlichsten hätte sich die Bereitschaft der europäischen Nationen zu neuen transnationalen Kooperationsformen in den beiden Bereichen Atomenergie und Raumfahrt gezeigt. Die Einsicht, dass nationale Kapazitäten und Programme nur wenige Erfolgsaussichten hätten, sei für europäische Regierungen und Experten Antrieb zur Gründung von Einrichtungen wie der Europäischen Organisation für Kernforschung (CERN), der Europäischen Atomgemeinschaft (EURATOM) oder der Europäischen Organisation zur Zusammenarbeit in der Weltraumforschung (ESRO) gewesen. Allerdings hätten die an diesen Institutionen beteiligten europäischen Länder auch versucht, möglichst viel Wissen und Ressourcen aus der transnationalen Zusammenarbeit abzuziehen, um ihre wirtschaftliche Position auf den internationalen Märkten zu stärken.

Tatsächlich ist die Darstellung, wie der Beitrag von Experten bei der Entstehung des modernen Europas auf einer engen Verknüpfung transnationaler und nationaler Dimensionen basierte, die große Stärke des Buchs. An vielen gut ausgewählten Beispielen machen Kohlrausch und Trischler immer wieder deutlich, wie Experten durch das gesamte lange 20. Jahrhundert hindurch in einem Spannungsverhältnis zwischen stetig zunehmender transnationaler Zusammenarbeit und nationalstaatlichen Interessen agierten und daraus Vor- sowie Nachteile für ihre Arbeit entstanden. Hingegen bleibt die Erläuterung wie Experten zur verdeckten Integration des heutigen Europas durch Initiativen in Wissenschaft und Technologie beitrugen undeutlich. Hierzu hätten die Verfasser ihre Untersuchung stärker auf Quellenarbeit stützen müssen, um die Netzwerkstrukturen und Kulturen der transnationalen Zusammenarbeit von Experten noch tiefergehender zu rekonstruieren, anstatt ausschließlich auf Sekundärliteratur zu bauen.

Insgesamt ist Kohlrausch und Trischler ein über Fachgrenzen hinaus interessantes Buch zur europäischen Zeitgeschichte gelungen. Für Vertreter der Geschichtswissenschaft dürfte es allerdings etwas zu generell geschrieben sein. Den Leser wird sicherlich stören, dass ein Abkürzungsverzeichnis fehlt. Dies ist vor allem insofern verwunderlich, da die beiden Autoren die Abkürzungen der in Technologie und Wissenschaft entstandenen europäischen Institutionen selbst so beschreiben: „many of them refered to by hard-to-memorize acronyms“ (S. 296).

Anmerkungen:
1 Informationen zu den anderen fünf Bänden sind abrufbar auf unter: <http://www.makingeurope.eu/www/en/bookseries> (16.03.2015).
2 Bspw. Ronald Hitzler, Wissen und Wesen des Experten. Ein Annäherungsversuch – zur Einleitung, in: ders. / Anne Honer / Christoph Maeder (Hrsg.), Expertenwissen. Die institutionalisierte Kompetenz zur Konstruktion von Wirklichkeit, Opladen 1994, S. 13–30.
3 Bspw. von Akira Iriye, Die Entstehung einer transnationalen Welt, in: ders. / Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Geschichte der Welt. 1945 bis Heute. Die globalisierte Welt, München 2013, S. 671–826, bspw. insbesondere S. 772.

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