Carsten Stehn u.a. (Hrsg.): Peace Diplomacy

Titel
Peace Diplomacy, Global Justice and International Agency. Rethinking Human Security and Ethics in the Spirit of Dag Hammarskjöld


Herausgeber
Stehn, Carsten; Melber, Henning
Erschienen
Anzahl Seiten
635 S.
Preis
€ 128,08
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Brzoska, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

1953 wurde der Schwede Dag Hammarskjöld als zweiter Generalsekretär der Vereinten Nationen (VN) gewählt. Zwar entstammte er der politischen Elite seines Landes und hatte eine Reihe von Posten in der schwedischen Verwaltung inne gehabt, aber international war er wenig bekannt. Wie sein Vorgänger, der Norweger Tryge Lie war er von den Großmächten als vermeintlich schwacher Kandidat gewählt worden. Lie, der Ende 1952 frustriert vom Amt zurück getreten war, begrüßte Hammarskjöld in New York mit den Worten „Sie übernehmen hier den unmöglichsten Job der Erde“ (S. 44, alle Zitate in eigener Übersetzung).

Hammarskjöld verwandelte die VN. Bis heute gilt er weithin als der prägendste Generalsekretär in der Geschichte der VN. Das betrifft seine Auslegung des Amtes als auch seine Vorstellungen von der Rolle der VN schlechthin. In beiden Bereichen setzte der Schwede bleibende Maßstäbe, hinterließ aber auch ein für seine Nachfolger schwieriges und für die VN insgesamt nicht unumstrittenes Erbe. Der vorliegende Sammelband ist eine Art posthumer Festschrift mit dem Anspruch, dieses Erbe zu würdigen aber auch kritisch zu analysieren. Ursprünglich wurde der Band anlässlich des 50. Todestages von Hammarskjöld im Herbst 2011 konzipiert. Dass er mehr als ein halbes Jahrhundert später unter Mitarbeit zahlreicher renommierter internationaler Autorinnen und Autoren erscheint, zeugt von der andauernden Bedeutung der Ideen und des Wirkens des Diplomaten.

Fünf Themenfelder stehen im Mittelpunkt des von einem Juristen (Stahn) und einem Politikwissenschaftler (Melber) herausgegebenen Werkes mit seinen 26 Beiträgen: Persönlich gefärbte Reflektionen über Hammarskjölds Vermächtnis für die VN (Teil 1), grundlegende intellektuelle Beiträge zur Bedeutung der VN (Teil 2), die Kongokrise 1960/61 (Teil 3), das Amt des Generalsekretärs und seine Ausfüllung (Teil 4) sowie Hammarskjöld als Vordenker für aktuelle Konzepte internationaler Politik, insbesondere von „menschlicher Sicherheit“ und der „Schutzverantwortung“ (Teil 5). Die Herausgeber leiten den Band mit einem die fünf Themenfelder umspannenden Beitrag ein.

Das wohl wichtigste Vermächtnis Hammarskjölds für die VN ist das Beispiel, das er mit seiner Amtsführung gab. Hammarskjöld sah sich selbst sowohl als Realisten wie als Idealisten (S. 149f.). Mit den Idealisten, die in den VN eine den Staaten übergeordnete, neutrale Instanz für die Durchsetzung der in der Charte der VN festgelegten Ziele sehen, verstand er das Sekretariat mit dem Generalsekretär an der Spitze nicht als Erfüllungsgehilfe der Mitgliedsstaaten sondern als „international executive authority“ (S. 77ff., 440ff.). In seiner berühmten letzten Rede an die Mitarbeiter des Sekretariats der VN, die ebenso wie sein letzter Bericht aus dem September 1961 an die Generalversammlung im vorliegenden Band abgedruckt sind, formulierte er den Gegensatz besonders scharf: das Sekretariat hätte die Wahl, im wesentlichen Konferenzorganisator für die Mitgliedsstaaten zu sein oder „ein internationales Sekretariat, mit der vollen Unabhängigkeit“, die in Artikel 100 der Charta vorgesehen sei (S. 597). Zwar war sich Hammarskjöld der Machthierarchie in den VN sehr bewusst, insbesondere der Position der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates, aber er sah es als möglich an, auch diese Staaten davon überzeugen zu können, dass ein unabhängiges internationales Management von Krisen auch in ihrem Interesse an der Wahrung von Frieden und Sicherheit liege (S. 598).

Mit dieser Einstellung war er bis 1960 sehr erfolgreich. Schon kurz nach Amtsantritt trug er dazu bei, die Blockade des Sicherheitsrats, die durch den Auszug der Sowjetunion zu Beginn des Koreakrieges entstanden war, zu entspannen. Er scheute sich auch nicht, mit dem Nichtmitglied VR China über die Freilassung US-amerikanischer Kriegsgefangener zu verhandeln. Besonders zeichnete er sich während der Suezkrise aus. Nicht zuletzt seinem persönlichen diplomatischen Geschick ist es zu verdanken, dass die Krise nicht eskalierte. Hammarskjöld gelang es, die Zustimmung des Sicherheitsrates für die Stationierung einer internationalen Truppe von 6.000 bewaffneten Soldaten zu erhalten, dem ersten Militäreinsatz, der über eine Beobachterrolle hinausging. Die Veränderung und Stärkung der VN in der Amtszeit Hammarskjölds, und seine überragenden persönlichen Beiträge würdigen mehrere Autoren im vorliegenden Band, darunter hochverdiente, langjährige VN-Mitarbeiter wie Brian Urquhart, Hans Corell und Kofi Annan. Im Teil 4 des Bandes werden einzelne Aspekte der Arbeit Hammarskjölds als Generalsekretär vertieft. Manuel Fröhlich zeichnet in einem tiefgehenden Beitrag die „Suez-Story“ nach, den Beginn des Blauhelm-Peacekeeping im engeren Sinn. Aoife D’onoghue und Peter Wallensteen untersuchen mit vielen Details die Mediationserfolge und –misserfolge Hammarskjölds.

Die Autoren des 2. Teils verdeutlichen anhand verschiedener Themenfelder, dass Hammarskjöld nicht nur Macher, sondern auch Denker war. Insbesondere in seinem Heimatland Schweden wird er bis heute als tiefgründiger Philosoph und sprachmächtiger Poet verehrt, was vor allem auf seinem posthum veröffentlichten Tage- und Notizbuch gründet, das auf Deutsch unter dem Titel „Zeichen am Weg“ erschienen ist. Es zeigt den eher kühlen Diplomaten als tief religiösen aber auch zweifelnden Moralisten. Hammarskjöld schrieb und sprach zu vielen Themen der internationalen Politik, zu Krieg und Frieden, zum Völkerrecht, zu Wirtschaftsfragen. Immer wieder unterfütterte er dabei seine Vorstellungen mit der Vision von den Vereinten Nationen als der Organisation, die über die Staateninteressen hinaus für die in der Charta der VN niedergelegten Ziele eintritt.

Der Grundwiderspruch zwischen diesem Anspruch und der Realität einer von großen Staaten dominierten Organisation wurde Hammarskjöld in der Kongokrise 1960/61 zum Verhängnis. Sein Agieren ist bis heute umstritten. Sein Verhältnis zum ersten gewählten Präsidenten des Kongo, Patrice Lumumba, war gestört (S. 240ff.). Hammarskjöld nahm für sich und die VN in Anspruch, notfalls auch ohne die Zustimmung Lumumbas handeln zu können. So erwog er, nach einem Massaker an der ethnischen Gruppe der Baluba im Sommer 1960 die Entsendung einer internationalen Soldatentruppe, obwohl Lumumba dies, mit Hinweis auf eine Resolution des Sicherheitsrates, die die VN ausdrücklich zur Unterstützung der kongolesischen Regierung aufrief, ablehnte (S. 152f.). Andererseits weigerte sich der Generalsekretär, Lumumbas Ersuchen um militärische Hilfe gegen die katangischen Separatisten zu unterstützen. Zunehmend geriet Hammarskjöld mit seiner Haltung auch in Gegensatz zur Sowjetunion, die Lumumba unterstützte. Im Herbst 1960 forderte die Sowjetunion den Rücktritt Hammarskjölds. Der intensivierte seine persönlichen diplomatischen Bemühungen, aber ohne Erfolg. Während einer diplomatischen Mission stürzte das VN-Flugzeug, in dem er mitflog, im September 1961 ab. Offiziell wurde dem Piloten die Schuld gegeben, hartnäckig halten sich aber Gerüchte, dass das Flugzeug abgeschossen wurde. Was mehrere Autoren im vorliegenden Sammelband ansprechen, ist inzwischen erfolgt: Im Dezember 2014 entschied die VN-Generalversammlung auf Initiative der schwedischen Regierung in Resolution A/69/246 die Einsetzung einer Expertenkommission, um die Umstände des Todes von Hammarskjöld zu untersuchen.

In fast allen Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes finden sich Passagen, die auf die Situation im Kongo und die Rolle Hammarskjölds eingehen. Fünf Beiträge sind dieser Thematik ausdrücklich gewidmet, mit durchaus unterschiedlichen Perspektiven der Autorinnen und Autoren. Maria Rognoni, Anna O‘Malley und Henning Melber betonen vor allem das komplexe und schwierige Gemengelage zwischen normativen Ansprüchen der VN und den Interessen verschiedener Konfliktbeteiligter sowie die Einbettung des lokalen Konfliktes in die globale Konfrontation zwischen Ost und West. In diesem Licht erscheint Hammarskjöld als ein zwar nicht immer glücklich agierender aber doch prinzipientreuer Generalsekretär. Kritischer sind die Einschätzungen von Jean Omasombo Tshonda sowie von Helen Hintjens und Serena Cruz. Hammarskjölds Konfliktanalyse und Zielsetzung für die Lösung des Konfliktes wird in beiden Beiträgen als zu eng gesehen. Insbesondere Tshonda kritisiert Hammarskjölds Ablehnung des von Lumumba vertretenen Gegenmodells einer post-kolonialen Gesellschaft gegenüber dem westlichen Standardmodell. Alle genannten Autorinnen und Autoren reflektieren über die Folgen der Kongokrise in den frühen 1960er-Jahren für die spätere Entwicklung des Kongo oder zielen Vergleiche mit den Kriegen, die in den späten 1990er-Jahren begannen.

In diesen, wie in vielen anderen Beiträgen des Bandes, wird die Darstellung und Analyse historischer Ereignisse und Prozesse, an denen Hammarskjöld persönlich beteiligt war, mit grundlegenderen Perspektiven verbunden. Explizit sind die Beiträge des fünften Teils ausgewählten aktuellen Kontroversen um die Menschrechtspolitik der VN gewidmet.

Schwerpunkt ist dabei das kontroverse Thema der Schutzverantwortung. Allgemein wird die Schutzverantwortung auf Entwicklungen nach dem Ende des Kalten Krieges zurückgeführt – die Idee der humanitären Intervention, Konzepte von Verantwortung von H.L.A. Hart und Francis Deng und insbesondere den Bericht der International Commission on Intervention and State Sovereignty (S. 521ff.). Die Herausgeber (S. 24ff.), aber auch zahlreiche der Autoren des Sammelbandes reklamieren aber auch eine intellektuelle Vorläuferschaft für Hammerskjöld. Besonders explizit machen dies Ove Bring und J. Craig Barker in ihren Beiträgen. Hammarskjöld war Humanist und Cosmopolit. Für ihn war ein vorrangiges Ziel, für das die VN arbeiten sollten, „das Recht der Menschen auf Sicherheit und die Freiheit vor Furcht“ (S. 27). Das bereits genannte Beispiel aus dem Sommer 1960, als Hammarskjöld eine militärische Intervention zur Vermeidung eines von ihm befürchteten Völkermordes auch gegen den Willen der gewählten Regierung erwog, deutet an, dass er bereit war, nationale Souveränität für den Fall massiver Menschenrechtsverletzungen in Frage zu stellen.

In mehreren Beiträgen wird Hammarskjöld deshalb als eine Art Urvater der „responsibility to protect“ angesehen. Insbesondere J. Craig Barker und Louise Arbour analysieren in ihren Beiträgen die Möglichkeiten eines besseren Schutzes von Menschrechten durch die VN. In zwei Beiträgen wird aber auch explizit auf die Problematik weitgehender internationaler Interventionen im Namen des „globalen Guten“ eingegangen. Vijayahri Sripati hinterfragt, auf der Grundlage des „Third World Approch to International Law“ die weitreichenden Aktivitäten der VN bei der Abfassung von nationalen Verfassungen in Nachkriegsländern. Francis Kofi Abiew und Noemi Gal-Or kritisieren die Bombardierung Libyens im Namen der Schutzverantwortung.

Mit diesen und anderen Beiträgen wird der vorliegende Band seinem Anspruch einer kritischen Würdigung des zweiten gewählten Generalsekretärs der VN gerecht. Hammarskjöld hat in seiner Zeit bei den VN viele Ideen propagiert und vieles richtig gemacht. Der Band macht deutlich, dass das Erbe Hammarskjölds, intellektuell und operativ, beeindruckend und aktuell ist. In schwierigen Situationen während seiner Amtszeit, so schreibt Kofi Annan, habe er sich gefragt: „Wie wäre Hammarskjöld damit umgegangen“ (S. 35).

Der Band ist dadurch eine Fundgrube auch für aktuelle Debatten zu den Aufgaben und Möglichkeiten der VN, aber auch einer visionären humanitären internationalen Politik. Damit stellt der Band eine würdige Ergänzung der bereits vorhandenen umfangreichen Literatur zu Hammarskjöld dar – genannt sei hier nur die Biographie Brian Urquharts1.

Der Band ist in Koproduktion zwischen dem Grotius Centre for International Legal Studies, der Hague Academic Coalition und der Dag Hammarskjöld Stiftung erschienen. Das Vorwort schrieb der gegenwärtige Untergeneralsekretär der VN, der schwedische Diplomat Jan Eliasson. Dieser Entstehungskontext könnte hagiographische Züge in der Veröffentlichung vermuten lassen. Diese aber gibt es nicht. Die Verehrung Hammarskjölds scheint zwar in vielen Beiträgen durch, aber es ist den Herausgebern durchgängig gelungen, Hammerskjölds Person, seine Ideen und Taten kritisch würdigen zu lassen. Über im Detail unterschiedliche Einordnungen und Einschätzungen der internationalen Krisenpolitik in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre hinaus bietet der Band dadurch erhellende Einsichten für heutige Debatten über die Erwartungen, Möglichkeiten und Grenzen einer kosmopolitischen internationalen Politik mit den Vereinten Nationen als wichtigstem Akteur und Garanten.

Anmerkung:
1 Brian Urquhart, Hammarskjold, New York 1972.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension