D. Ziegler (Hrsg.): Rohstoffgewinnung im Strukturwandel

Cover
Titel
Rohstoffgewinnung im Strukturwandel. Der deutsche Bergbau im 20. Jahrhundert


Herausgeber
Ziegler, Dieter
Reihe
Geschichte des deutschen Bergbaus 4
Erschienen
Münster 2013: Aschendorff Verlag
Anzahl Seiten
688 S.
Preis
€ 89,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katrin Minner, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Lange überfällig war ein epochenübergreifender, kompakter Handbuchüberblick zur deutschen Bergbaugeschichte. Ein erstaunliches Desiderat, dem sich nun seit 2012 die Stiftung Bibliothek des Ruhrgebiets und das Bergbau-Museum Bochum gewidmet haben. Ein anspruchsvolles Ziel haben sich die Herausgeber gesetzt, diesen zentralen Wirtschaftsbereich von nicht nur nationaler Bedeutung in vier voluminösen Bänden zu beleuchten und dabei den Bogen von den Anfängen des alteuropäischen Bergbaus bis zur Gegenwart zu schlagen. Der hier zu besprechende Band 4 zeichnet vor allem die Entwicklung in den vier Hauptsparten Stein- und Braunkohle-, Erz- und Kalibergbau seit 1914 nach. Er kombiniert längere chronologische Überblicksartikel (wiederum nach Bergbausparte untergliedert) mit kürzeren thematischen Beiträgen zu Bergtechnik, bergbaulichem Bildungswesen, konkurrierenden Energierohstoffen, Umweltfragen und zur Verarbeitung des Strukturwandels.

Der Sammelband folgt einer wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Herangehensweise, mit bisweilen unternehmensgeschichtlichen Eckpunkten. Er widmet sich neben (wirtschafts-)politischen Rahmenbedingungen vor allem den Veränderungen der technologischen und arbeitsorganisatorischen Seite: der fortschreitenden Mechanisierung des Abbaus, der Rationalisierung der Arbeitsprozesse und der Konzentration der Unternehmen. Den Bogen zur jüngsten Vergangenheit schlagen diejenigen Autoren, die bundes- bzw. europaweite Vereinbarungen zu Übergangslösungen, Subventionen und Abwicklung des Bergbaus nachzeichnen. Neuere Forschungsrichtungen der Umwelt- und Kulturgeschichte kommen am Rand in den Blick.

Das 20. Jahrhundert umfasste für den Bergbau ein Auf und Ab zwischen Ausnahmesituationen und Krisen, Aufstiegsphasen, konjunkturellen Überhitzungen und Ausstiegsszenarien. Der Band, in dem wegen der wirtschaftlichen Bedeutung und der Dichte der Forschungsliteratur die Ausführungen zum Steinkohlebergbau des Ruhrgebiets dominieren, macht zugleich deutlich, dass sich die Lage der einzelnen Bergbauzweige nicht gleichförmig entwickelte: Erlebte die Steinkohle mit Ausnahme kurzer Moratorien wie der Autarkiepolitik des Nationalsozialismus und der Mangelsituation der Nachkriegszeit einen Abstieg, so erfuhren Braunkohle- und Kalibergbau erst im 20. Jahrhundert durch den Ausbau der Elektrifizierung und die industrialisierte Landwirtschaft ihren Durchbruch. Für den Erzbergbau wiederum zeichnete sich seit den 1920er-Jahren ein Niedergang ab, der häufig auch mit der Erschöpfung der Lagerstätten bzw. nicht ausreichender Rohstoffqualität einherging und sich seit den 1950er-Jahren weiter beschleunigte.

Der Überblick startet mit einem beeindruckenden Kaleidoskop von Aspekten und Perspektiven, die Dieter Ziegler in seinem Beitrag über den deutschen Bergbau „im dauernden Ausnahmezustand“, wie es im Titel heißt, der Jahre zwischen 1914 und 1945 zusammenführt: von Charakterisierungen der einzelnen Bergbaureviere, über Syndikatsbildungen, Absatzgebiete, rechtliche Regelungen und staatliche Eingriffe bis hin zu technischen Innovationen und den Bedingungen der Kriegswirtschaft inklusive dem Einsatz von Kriegsgefangenen, Fremd- und Zwangsarbeitern. Die Seite der Bergarbeiter wird mit Ausführungen zu Positionen der Gewerkschaften, Streikbewegungen und Exkursen in die Lebens- und Arbeitswelt aufgenommen. Was staatliche Einflussnahme in der NS-Zeit angeht, zeigt Ziegler auf, dass sich trotz Zwangsmaßnahmen und Disziplinierungen keine Kommando- oder Zwangswirtschaft entwickelte. Letztlich fügten sich die Unternehmen mit pragmatischen Herangehensweisen ein, um eine marktwirtschaftliche Ordnung beizubehalten.

Die Geschichte eines kurzen Wiederaufstiegs sowie ab Ende der 1950er-Jahre des Rück- und Niedergangs des Steinkohlen- und Erzbergbaus in den westlichen Besatzungszonen bzw. der Bundesrepublik skizziert versiert Michael Farrenkopf. Die Nachkriegsjahre prägte ein kurzes Zwischenspiel alliierter Organisationsstrukturen und wirtschaftlicher Neuordnung: Die alliierte Wirtschaftspolitik in der britischen bzw. später in der wirtschaftlich vereinigten Bizone setzte die Steigerung der Kohlenförderung als höchste Priorität und stellte dafür andere Pläne wie die Demontage zurück. Daneben trieben die Alliierten im Ruhrgebiet die Entflechtung großer Konzerne voran und lösten die früheren Syndikatsstrukturen auf. Mit der 1947 eingerichteten Deutschen Kohlenbergbau-Leitung (DKBL) und den Gründungen von Vereinen und Unternehmensverbänden ab 1952 gewannen traditionellere Strukturen wieder an Boden. In den Nachkriegsjahren konnten sich Sozialisierungsforderungen nicht durchsetzen, dafür sicherte aber die erreichte Montanmitbestimmung Arbeitnehmern Beteiligungsrechte in Aufsichtsräten. Die Energiekrise Anfang der 1950er-Jahre sorgte für einen Modernisierungsprozess im Steinkohlenbergbau. Spätestens ab den 1960er-Jahren führte der internationale Konkurrenzdruck zum fortschreitenden Abbau von Personal, zu Fusionen und zu Schließungen unrentabler Zechen bei gleichzeitiger Produktionssteigerung. 1970 habe, so Farrenkopf, die Etablierung der Ruhrkohle AG als Einheitsgesellschaft die vorherige Phase eines konzeptlosen Krisenmanagements abgelöst. Die Ruhrkohle AG prägte die folgenden Jahrzehnte des deutschen Steinkohlenbergbaus – und sie verantwortet seine Abwicklung bis 2018 und die Bewältigung der Ewigkeitslasten in Form einer Stiftung mit.

Die Wettbewerbsposition der westdeutschen Braunkohleförderung, die seit Beginn der 1950er-Jahre auf großflächigen Tieftagebau gesetzt hatte, verbesserte sich indes durch die Ölkrisen der 1970er-Jahre, als die Kohlepolitik der Regierung neu ausgerichtet wurde. Unter Druck geriet dieser Kohlezweig jedoch seit den 1980er-Jahren unter umweltpolitischen Gesichtspunkten und nach der deutschen Wiedervereinigung durch die starke Braunkohleförderung im Osten. Lange Zeit günstig sahen die Verhältnisse für den Kalibergbau aus. Hatte die deutsche Produktion vor dem Ersten Weltkrieg eine Monopolstellung auf dem Weltmarkt inne, so erstarkte seit den 1930er-Jahren internationale Konkurrenz. Das zwang die westdeutsche Kaliindustrie seit Ende der 1950er-Jahre, sich auf rationelle und neue technische Verfahren zu konzentrieren und mündete auch hier in einer Konzentrationsbewegung zu einer Einheitsgesellschaft.

Der Überblick zum Bergbau in der DDR von André Steiner fällt im Vergleich zu den umfassenden vorangehenden Abschnitten angesichts einer defizitären Forschungslage leider schmal aus. So bleibt die Perspektive Steiners notgedrungen auf die staatliche Sicht und Investitionspolitik beschränkt. War die DDR angesichts der Rohstoffausstattung bei Steinkohle und Eisenerz auf Importe angewiesen, verfügte sie über reichere Vorkommen an Braunkohle und Kali. Die Position als einer der weltgrößten Kaliproduzenten konnte die ostdeutsche Branche bis Ende der 1980er-Jahre halten und mit dem Export die Devisenbilanz fördern. Ansonsten erfüllte der Bergbau vor allem die Funktion, die eigene Wirtschaft mit Rohstoffen zu versorgen und damit Devisen für die Einfuhr zu sparen. Eine Ausnahme stellte der Uranbergbau (Wismut AG) dar, der ganz in den Dienst der Sowjetunion gestellt wurde. Was Bestrebungen der Leistungssteigerung anging, standen sich wirtschaftlicher Leistungsdruck und politische Legitimationsgrundlage eines Arbeiter- und Bauernstaats mit Anspruch auf Vollbeschäftigung und dem Idealbild eines „neuen Menschen“ als Widerspruch gegenüber (S. 308).

Der Beitrag von Hans-Christoph Seidel zu Arbeitsbeziehungen und Sozialpolitik im Bergbau überschneidet sich thematisch, gerade was die Frage von Sozialisierung und Montanmitbestimmung angeht, in Teilen mit dem von Michael Farrenkopf. Am Beispiel des Steinkohlenbergbaus im Ruhrgebiet arbeitet Seidel heraus, wie sich nach 1950 die frühere scharfe Konfrontation der Arbeitsmarktparteien in ein sozialpartnerschaftliches Modell wandelte. Einschneidend unterschiedliche Arbeitsbeziehungen bis hin zur „Brutalisierung“ (S. 514) bestanden in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft zwischen deutschen Stammarbeitern und ausländischen Zwangsarbeitern. Die Strukturkrise des Steinkohlenbergbaus ab den 1960er-Jahren führte beide Arbeitsmarktparteien enger zusammen, so dass – laut Seidel – großangelegte Protest- und Streikaktionen letztlich sich nicht vorrangig gegen die Unternehmen richteten, sondern gesellschaftlichen Konsens zur politischen Subventionierung des Bergbaus erzeugen sollten. Allerdings gibt der Autor zu bedenken, dass die „Erfolgsgeschichte“ sozialer Errungenschaften durch die starken Schrumpfungsprozesse immer weniger Beschäftigten zugutekam.

Raymond G. Stokes Ausführungen zu Erdöl und Erdgas verdeutlichen die defensive Situation des Kohlebergbaus, insbesondere mit der Liberalisierung des Energiemarktes, die die deutsche Wirtschaft mit mehr Kapazitäten versorgte, dafür aber von ausländischen Ressourcen abhängig machte. Frank Uekötter zeigt das Panorama verschiedenster Umweltbeeinträchtigungen durch die jeweiligen Bergbausparten auf und stellt zugleich heraus, dass lokale Widerstände gegen den deutschen Bergbau im Kontext wachsender Rohstoffimporte aus Ländern stammten, deren Umweltstandards niedriger waren. So wurden Umweltprobleme durch den hiesigen Ausstieg nicht gelöst, sondern letztlich globalisiert. Ein Gegengewicht zum wirtschaftlichen Niedergangsszenario setzt abschließend Stefan Berger mit einer Erfolgsgeschichte der Umwandlung zur „Industriekultur“. Wiederum rückt hier das Ruhrgebiet als eine Leitregion in den Blick, die durch den von Denkmalpflegern, Künstlern, Wissenschaftlern und Geschichtsinteressierten angestoßenen Umbau neue Attraktivität als Lebensraum gewonnen habe.

Dass bei einem Handbuch-Überblick Felder unbeachtet bleiben, liegt in der Natur der Sache – insbesondere wenn entsprechende Grundlagenforschungen noch fehlen, auf die dieser Band allerdings Geschmack machen könnte. Für den deutschen Bergbau im 20. Jahrhundert wären zum Beispiel Forschungsbohrungen zu den aufsichtführenden unteren und mittleren Bergbehörden spannend; diese blieben ein wichtiges Scharnier zwischen staatlichen Vorgaben und den Unternehmen. Aus sozial- und kulturgeschichtlicher Sicht bieten sich Blicke auf Identitätskonstruktionen und -veränderungen an: Häufig wird seit dem Strukturwandel an die Werbekampagne des Ruhrgebiets als „starkes Stück Deutschland“ angeknüpft. Letztlich stellte diese Konstruktion eine Basis für die Aufwertung zur „Industriekultur“ und für die Stilisierung des identitätsstiftenden „Mythos Bergbau“. Anknüpfungspunkte zu (Nach-)Nutzungen von Bergwerken und Tagebaufeldern signalisieren, dass sich eine mediengeschichtliche Herangehensweise lohnen würde: Die Diskussionen um Schacht Konrad, Asse und Garzweiler II versahen den Bergbau bzw. seine Hinterlassenschaften in den letzten Jahrzehnten mit starker medialer Aufmerksamkeit und wurden zu politisch-ökologischen „Aufreger-Themen“ – anders als zum Beispiel bei kulturellen Leuchttürmen wie der Internationalen Bauausstellung Emscher Park.

Leichtes Unwohlsein bei der Rezensentin erwecken bisweilen sprachliche Formen, die angesichts der Entwicklung des Bergbaus im 20. Jahrhundert mit seinen massenhaften Entlassungen und dem Arbeitsplatzabbau in großem Stil dem unternehmerischen Sprachduktus folgen, während die persönliche Wahrnehmung der betroffenen Arbeitnehmer und Städte sicher eine andere war, was aber nur kurz angedeutet wird. Wiederholt ist von „Freisetzungen“ von Arbeitskräften, „sozialverträgliche[n] Anpassungsmaßnahmen“ sowie „sozialverträgliche[r] Rückführung“ und Rationalisierungen als „fortschreitende[n] Ausleseprozesse[n]“ die Rede (zum Beispiel S. 184, 192). Letztlich mindern solche Lesestolpersteine aber den Wert des Werkes nicht.

Detailreich, gut lesbar und bis in die Gegenwart reichend leistet Band 4 der Reihe einen wichtigen Beitrag für Einsteiger in Bergbaugeschichte und Interessierte, zeigt zum Teil auch Forschungsdesiderate auf. Gerade vor der gegenwärtigen Diskussion um Energiemix, Kohle- und Atomausstieg, Alternativstrom, Energieeinsparung sowie der Zulassung von Fracking einerseits und der europäischen Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen wie russischem Erdgas andererseits gibt der Band einen guten Einblick, welche politischen Weichenstellungen die letzten Jahrzehnte geprägt haben, und macht neugierig, welcher Kurs nach dem Ende des Kohleabbaus in Deutschland in Zukunft eingeschlagen wird.

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