Cover
Titel
Bahnhof der Tränen. Die Grenzübergangsstelle Berlin-Friedrichstraße


Autor(en)
Springer, Philipp
Erschienen
Anzahl Seiten
224 S., 184 schw.-w. Abb.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hanno Hochmuth, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Der Bahnhof Friedrichstraße war der ungewöhnlichste Grenzübergang im geteilten Berlin. Er lag gut anderthalb Kilometer innerhalb des Ostteils und war doch sowohl vom Osten als auch vom Westen aus erreichbar. Als einzige Grenzübergangsstelle Berlins wurden hier sämtliche Personengruppen abgefertigt, sofern sie über eine entsprechende Reisegenehmigung verfügten. Damit markierte der Bahnhof Friedrichstraße eine zentrale Schnittstelle zwischen Ost und West. Hier war der Alltag der deutschen Teilung auf besondere Weise erfahrbar. Daran erinnert seit 2011 eine Ausstellung des Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (HdG), die in der ehemaligen Ausreisehalle des Bahnhofs untergebracht ist.1 Zu den Kuratoren dieser Ausstellung gehörte der Berliner Historiker Philipp Springer. Nun hat er die Ergebnisse seiner Recherchen zur Grenzübergangsstelle Berlin-Friedrichstraße als Buch veröffentlicht.

Der schön gestaltete Band richtet sich an eine breitere Öffentlichkeit, worauf wohl auch der etwas reißerische Titel „Bahnhof der Tränen“ zurückzuführen ist. Dabei wird dieses Pathos dem eigentlich eher sachlichen Buch gleich in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht. Zum einen zeigt Philipp Springer, dass sich die Bezeichnung „Tränenpalast“ für die gläserne Ausreisehalle erst nach 1990 durchsetzte, als das Gebäude zu der gleichnamigen Kultureinrichtung umgewandelt wurde. Zum anderen besaß der Bahnhof Friedrichstraße weitaus mehr Dimensionen, die sich nicht allein in tränenreichen Abschiedsszenen erschöpften. So war der Bahnhof gleichermaßen ein Ort der Stasi und der Spionage, ein Ort der Begegnung und des Handels, ein Ort von Flucht und Ausreise, ein Tor nach Westen und nach Osten und nicht zuletzt ein wichtiger Verkehrsknoten. Es ist das Verdienst von Philipp Springer, dass er diese vielfältigen Nutzungs- und Bedeutungsschichten des Bahnhofs Friedrichstraße sorgfältig herausgearbeitet und erstmals einer detaillierten Darstellung zugeführt hat.

Knapp und chronologisch schildert Springer zunächst die Vorgeschichte des Bahnhofs. 1882 eröffnet, entwickelte er sich zur Kaiserzeit rasch zu einem pulsierenden Ort der aufstrebenden Metropole. 1933 wurde er zum Abschiedsort für zahlreiche Emigranten, darunter auch für jüdische Kinder auf dem Weg ins britische Exil, woran heute ein Denkmal vor dem Gebäude erinnert. 1945 wurde der Bahnhof Friedrichstraße ein Zentrum des Schwarzmarkts und bald darauf ein Schaufenster des Ostens im Wettbewerb der Systeme. Bis zum Bau der Berliner Mauer war er schließlich der wichtigste Fluchtweg aus der DDR.

Das Hauptinteresse von Springer gilt jedoch der Zeit von 1961 bis 1990, in der das Gebäude als Grenzübergangsstelle (GÜSt) Berlin-Friedrichstraße genutzt wurde. Unmittelbar nach dem Bau der Mauer wurden die U- und S-Bahnlinien, die den Bahnhof weiterhin mit West-Berlin verbanden, komplett vom östlichen Liniennetz getrennt und das gläserne Abfertigungsgebäude errichtet, in dessen lichter Gestaltung sich ein „scharfer Gegensatz von Architektur und Funktion“ (S. 44) abbildete. Zunächst war der Bahnhof für die meisten Reisenden aus Ost und West Endstation. Erst die Passierscheinabkommen seit 1963 führten zu mehr Durchlässigkeit, aber, wie Springer zeigt, auch zu mehr Überwachung. 1964 übernahm das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) die Hauptverantwortlichkeit für den Grenzbahnhof. Das MfS beaufsichtigte und überwachte de facto alle Organe am Bahnhof Friedrichstraße, denen Springer jeweils einen eigenen Abschnitt widmet: die Grenztruppen, den Zoll, die Transportpolizei, die Reichsbahn, die Mitropa und das Rote Kreuz. Sämtliche Mitarbeiter der Passkontrolleinheiten (PKE) waren Angehörige des MfS, auch wenn dies aus Gründen der Konspiration für die Reisenden nicht erkennbar war. „Für die Reisenden“, konstatiert Springer, „überwogen Furcht und Abscheu“ (S. 67). Bei der Passkontrolle waren Diskriminierungen und Zurückweisungen an der Tagesordnung. Dies betraf auch prominente Westdeutsche, wie Springer herausgefunden hat. Wer hätte gedacht, dass selbst Helmut Kohl 1978 am Bahnhof Friedrichstraße einmal die Einreise in die DDR verweigert wurde?

Trotz aller Einschränkungen schwoll der Durchreiseverkehr in den 1970er- und 1980er-Jahren immer mehr an. Die Spitze wurde 1988 mit 10,3 Mio. Reisenden erreicht. Dies führte zu einer chronischen Überlastung des Bahnhofs, der für solche Zahlen nicht ausgelegt war. Zahlreiche Provisorien sollten helfen, den Ansturm der Reisenden auf streng getrennten und überwachten Wegesystem zu bewältigen. Aus der Not entstand ein Labyrinth von Gängen und Treppen, dem keineswegs ein Masterplan zur Verwirrung zu Grunde gelegen habe, wie Springer betont. Über Jahrzehnte hinweg habe es Pläne gegeben, südlich des Bahnhofs ein weiteres modernes Abfertigungsgebäude mit ziviler Teilnutzung zu errichten, das aus finanziellen Gründen jedoch nie realisiert wurde. Dagegen wurden die Grenzsicherungsanlagen systematisch ausgebaut. Trotzdem gab es am Bahnhof Friedrichstraße viele Fluchtversuche, denen Springer große Aufmerksamkeit widmet. Einige der detailliert geschilderten Geschichten glückten, viele endeten erfolglos. An der Grenzübergangsstelle Berlin-Friedrichstraße kam es auch zu über 200 Todesfällen, wobei Springer einschränkt, dass diese nur bedingt zu den Todesopfern an der Berliner Mauer zu zählen seien.2 Zumeist habe es sich um ältere Menschen gehandelt, da rund 80-90 Prozent der Ausreisenden aus der DDR Rentner waren. Allerdings dürften einige Todesfälle auf die besondere Anspannung bei den strengen Pass- und Zollkontrollen zurückzuführen sein.

Neben den zahlreichen Rentnern und den Ausreiseantragstellern, die die DDR über die Grenzübergangsstelle dauerhaft verließen, beschreibt Springer die ganze Vielfalt des Reiseverkehrs am Bahnhof Friedrichstraße. So nutzte das MfS den Bahnhof als Agentenschleuse und bezeichnete ihn intern als „unseren Ho-Chi-Minh-Pfad“ in den Westen, auf dem in umgekehrter Richtung einige RAF-Terroristen in den Osten geschleust wurden, um in der DDR Unterschlupf zu finden. Asylbewerber konnten hier nach West-Berlin einreisen, ohne eine Grenzkontrolle zu durchlaufen. West-Berliner Gastarbeiter fuhren zum Bahnhof Friedrichstraße, um dort gezielt ostdeutsche Frauen kennenzulernen. Vor allem aber lockten die Intershops auf den westlichen Bahnsteigen zahllose West-Berliner an, die sich hier steuerfrei mit günstigen Zigaretten, Spirituosen und anderen Waren versorgten. Für die DDR waren die Verkaufsstellen im so genannten „Kaufhaus Friedrichstraße“ eine wahre Goldgrube.3 1977 machten sie einen Umsatz von 80 Mio. DM, von denen die DDR etwa die Hälfte als Devisengewinn verbuchen konnte. Von großer Bedeutung war schließlich auch die Buchhandlung, in der viele der westlichen Reisenden Bücher kauften, um wie bei der „letzten Tankstelle vor der Grenze“ (S. 188) ihre restlichen DDR-Mark aus dem Zwangsumtausch loszuwerden. Heute ist der Großteil dieser teilungsbedingten Nutzungen längst verschwunden. In einem recht knappen Ausblick auf die Zeit seit dem Mauerfall schildert Springer, wie der Bahnhof Friedrichstraße „wieder ein ganz normaler Bahnhof“ wurde.

Philipp Springer hat für sein Buch eine unglaubliche Fülle an Material zusammengetragen. Dies ist sowohl die große Stärke als auch eine Schwäche des Bandes: Die Darstellung ist extrem quellengesättigt. Dies führt aber bisweilen zu einer Aneinanderreihung von Zitaten, die hauptsächlich illustrativ verwendet werden und zwischen den Jahrzehnten hin und her springen. Die Hauptquelle bilden interne Berichte des MfS, die „stellvertretend für Millionen“ durch 19 Interviews ergänzt werden, die Springer mit Zeitzeugen geführt hat (S. 11). Diese Verbindung von Akten und Erinnerungen erscheint durchaus sinnvoll, um die hoheitliche Überlieferung um eine erfahrungsgeschichtliche Perspektive zu erweitern. Allerdings wird die Auswahl der Gesprächspartner, die sowohl Reisende als auch das Personal der Grenzübergangsstelle umfasst, nicht näher erläutert. Zudem werden die Interviews größtenteils in Paraphrase mit einzelnen Zitaten wiedergegeben, so dass sich der Unterschied der eingestreuten Zeitzeugenfenster zum Haupttext nicht immer erschließt. Die geschilderten Erfahrungen der Zeitzeugen sind insgesamt aber eine große Bereicherung der ansonsten eher trockenen Lektüre. Den eigentlichen Schatz des Bandes bilden jedoch die zahlreichen Fotos, die oft ganzseitig abgebildet und sorgfältig beschrieben werden. Dabei handelt es sich hauptsächlich um Aufnahmen aus dem Dienstgebrauch des MfS. Der Band enthält aber auch heimlich entstandene Fotos wie jene, die Jürgen Gebhardt von den Wartenden in der Empfangshalle des Bahnhofs gemacht hat. In ihrer Trostlosigkeit entsprechen die Bilder den Erinnerungen vieler Reisenden.

Der Bahnhof Friedrichstraße ist ohne Zweifel ein zentraler Berliner, ja gesamtdeutscher Erinnerungsort. Wie an kaum einem anderen Ort haben Menschen aus Ost und West hier die deutsche Teilung erfahren. Zugleich war er ein wichtiger Begegnungsraum zwischen Ost und West. Philipp Springer gelingt es, beide Perspektiven zu vereinen. Sein Buch ist eine materialreiche Mikrostudie der deutschen Teilung und ein wichtiger Beitrag zur deutsch-deutschen Verflechtungsgeschichte.

Anmerkungen:
1 Vgl. die Webseite der Ausstellung „GrenzErfahrungen. Alltag der deutschen Teilung“: <http://www.hdg.de/berlin/traenenpalast/> (09.02.2015).
2 Vgl. hierzu Zentrum für Zeithistorische Forschung / Stiftung Berliner Mauer (Hrsg.), Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961–1989. Ein biographisches Handbuch, Berlin 2009, S. 471f.
3 Zur Bedeutung der Intershops am Bahnhof-Friedrichstraße vgl. auch Matthias Judt, Der Bereich Kommerzielle Koordinierung. Das DDR-Wirtschaftsimperium des Alexander Schalck-Golodkowski – Mythos und Realität, Berlin 2013, S. 79. Vgl. die Rezension von Rainer Karlsch, in: H-Soz-u-Kult, 03.07.2013, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-20681> (09.02.2015).

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