J. Bentham: Unsinn auf Stelzen

Cover
Titel
Unsinn auf Stelzen. Schriften zur Französischen Revolution, hrsg. v. Peter Niesen


Autor(en)
Bentham, Jeremy
Reihe
Schriften zur europäischen Ideengeschichte 5
Erschienen
Berlin 2013: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
300 S.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Oliver Krause, Graduate Centre der Universität Leipzig

Mit Peter Niesens herausgegebenen Schriften Jeremy Benthams (1748–1832) in der Schriftenreihe zur europäischen Ideengeschichte liegen ausgewählte Texte des englischen Juristen und politischen Philosophen erstmalig in deutscher Übersetzung vor, die sich in Niesens Interpretation inhaltlich und zeitlich in Bezug zur Französischen Revolution setzen lassen. Als Autor einschlägiger Veröffentlichungen zur politischen Philosophie Benthams sieht Niesen den Gewinn der Ausgabe darin, die deutschsprachige Debatte zur Demokratietheorie durch das Denken eines bisher weitgehend unbeachteten Gelehrten anzuregen. Niesen stellt der Textauswahl eine ausführliche Besprechung der einzelnen Texte in der Einleitung zur Seite, die der Begründung seiner These dienen, Bentham habe die Axiome des Utilitarismus in ein Konzept der radikalen Demokratie unter dem Einfluss der revolutionären Ereignisse in Frankreich übersetzt. Die Einleitung zeichnet Benthams Denkprozess vom Utilitarismus hin zum Rechtspositivismus nach und unterstreicht Benthams Bedeutung für die europäische Demokratie- und Verfassungstheorie. Zugleich verdeutlicht Niesens Textauswahl Benthams Kritik am Naturrechtsdenken, in dessen Zentrum die beißende Polemik gegen die Menschenrechte steht, die dem Band den Titel gab. Bentham ist für den englischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts eine prägende Figur, von deren Denken John und dessen Sohn John Stuart Mill sowie David Riccardo beeinflusst worden sind.

In der Einleitung betont der Herausgeber die Kohärenz zwischen den Texten mit dem Fokus auf die demokratischen Prinzipien, die sich aus Benthams utilitaristischem Denken durch die Beschäftigung mit den Ereignissen der Französischen Revolution in Bezug auf das Wahlrecht, den Gesetzgeber und die Festsetzung von unveränderlichen Rechten, wie den Menschenrechten, herausbildeten. Der kurz gehaltenen Rezeptionsgeschichte, die maßgeblich durch die Mitarbeit Étienne Dumonts bei der Herausgabe der Texte beeinflusst wurde, folgt ein ebenso kurzer biographischer Abriss. Große Teile der Einleitung dienen der Einordnung der ausgewählten Texte in den Kontext des Demokratieverständnisses Benthams und der damit einhergehenden These Niesens. Abschließend fasst Niesen in der Einleitung das Demokratieverständnis Benthams zusammen und schließt damit ab, dass sich an der Beschäftigung Benthams mit der Französischen Revolution dessen Konzeption einer radikalen Demokratie ablesen lässt.

Grundlage für die Übersetzung, die von Michael Adrian, Bettina Engels und Peter Niesen vorgenommen wurde, ist die seit 1970 vom University College London herausgegebene kritische Ausgabe der Werke Benthams in der Reihe Collected Works. Erst durch diese kritische Edition ist es möglich, Benthams Denken unverfälscht anhand von Originalmanuskripten nachvollziehen zu können, die insbesondere die Veränderungen ausnehmen, die Dumont einfügte. Die deutschen Übersetzungen zeugen von der Sperrigkeit der Texte, die Dumont dazu veranlassten, Benthams Schriften vor deren Veröffentlichung zu überarbeiten, um sie einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Dem Band „Rights, Representation, and Reform – Nonsense upon Stilts and Other Writings on the French Revolution“1 der Collected Works entstammen acht der zehn Texte des Bandes. Die anderen zwei Schriften Benthams erschienen im Ersten Band der von Werner Stark herausgegebenen Schriften Benthams unter dem Titel „Economic Writings“.2

Im Zentrum der Textauswahl steht Benthams Text „Unsinn auf Stelzen“, den Niesen im III. Kapitel mit dem Titel Kritik der Menschenrechte anführt. Im Gegensatz zu bisherigen Einordnungen des Textes in den Kontext gleichzeitig erscheinender Kritiken an den Artikeln der Menschenrechte, stellt Niesen den Text in seinen „problemgeschichtlichen Entstehungskontext“ (S. 17) und als Ausdruck der Benthamschen Ablehnung festgesetzter natürlicher Rechte dar, die grundsätzlich die Aufgabe einer gesetzgebenden Gewalt unterminieren würden, da auf Grundlage der Menschrechte jedes Gesetz und jede Regierung angreifbar wäre. Um den zentralen Text gruppieren sich Texte, die fünf Kapiteln zugeordnet werden: Erweiterung des Wahlrechts (I), Allzuständigkeit der Gesetzgebung (II), Kritik der Menschenrechte (III), Utilitaristischer Antikolonialismus (IV) und Politische Ökonomie (V).

Die Texte des I. Kapitels zeichnen die Übersetzung der utilitaristischen Idee des Prinzips der Nützlichkeit und dem damit verbunden Anspruch des größten Glücks für die größte Menge an Individuen in das Wahlrecht nach, das zur Grundlage für die Wahl einer gesetzgebenden Institution (II. Kapitel) wird, die diese Macht mit keiner anderen Institution teilt und dem Willen des wählenden Volkes unterworfen wird. Bemerkenswert ist Benthams Inklusion der Frauen als wahlberechtigte Personen in Anbetracht des zeitgenössischen Rollenverständnisses.

Im IV. Kapitel folgt einerseits die Kritik an der Exklusion der französischen Kolonien vom propagierten Recht auf Selbstbestimmung, Freiheit und die Menschenrechte, andererseits die Aufrechnung der wirtschaftlichen Unsinnigkeit des Besitzes von Kolonien. Frankreich solle seine Kolonien freigeben. England sei in der Verwaltung der kolonialen Gebiete indes so erfolgreich, dass die englische Kolonialverwaltung ob der fehlenden Alternativen adäquater Herrscher vor Ort gerechtfertigt ist.

Das V. Kapitel dient der beispielhaften Darstellung der Instrumente, die Benthams Konzept innewohnen, um die Ordnung von Gesellschaften aufrechtzuerhalten. Durch den Heimfall des Erbes von Personen ohne nahe Verwandte oder Testament an den Staat soll einerseits die Staatskasse aufgebessert werden, andererseits schafft die Regelung Sicherheit im Erbrecht. Das Instrument der Sicherheiten, die für Bentham die Entsprechung für die Freiheiten des Einzelnen sind, schafft die Grundlage für die Existenz einer Gemeinschaft. Grundlagen, die ständig überprüft werden müssen, wie auch die Menschenrechte nicht unverrückbar existieren sollten. Klare Rechtsgrundlagen schaffen Sicherheiten, die Planbarkeit von Handlungen ermöglichen, ohne auf ewig festgelegte Grundsätze sein zu müssen.

Niesens Hermeneutik des Benthamschen Werks aus der Sicht der Demokratietheorie bedingt dessen spezifische Textauswahl. Bei genauerem Blick untersteht die Textauswahl also einem anderen Kriterium als der Titel Schriften zur Französischen Revolution zunächst vermuten lässt, da sich nicht alle Texte inhaltlich auf die Ereignisse der Revolution beziehen. Im Besonderen der Text der Kategorie Politische Ökonomie (V) weist keine direkten Bezüge zur Französischen Revolution oder Frankreich auf, sondern spiegelt Benthams allgemeine Ansichten zur Erhöhung der Staatseinnahmen durch die Veränderung des Erbrechts wider. Zur Unterstützung der Thesen Niesens gereicht der Text.

Dass die Idee für den Text des V. Kapitels auf zwei „nie abgeschickten Briefen an Mirabeau“ (S. 55) basiert, ändert nichts daran, dass er sich, wie Niesen selbst erwähnt, explizit an die britische Öffentlichkeit wendet. Damit stellt sich die Frage, ob Niesen mit der Textauswahl das Demokratieverständnis Benthams ausschließlich durch die Beschäftigung mit der Französischen Revolution erklären kann und das V. Kapitel letztlich nur ein Zusatz bleibt, um eine weitere Dimension des demokratischen Konzepts Benthams aufzuzeigen oder die Auswahl den Beweis schuldig bleibt, dass die Beschäftigung mit der Französischen Revolution explizit Benthams Konzept einer radikalen Demokratie in allen Dimensionen geschärft hat, wie Niesen es mit dem Band zu betonen sucht. Unbenommen bleibt indes, dass mit der Textauswahl die Grundzüge des demokratischen Konzeptes Benthams deutlich herausgearbeitet werden können. Insgesamt ist der Band ein sehr lohnenswerter problemorientierter Einblick in das Werk Benthams, der weitreichende Anregungen für die Demokratietheorie und darüber hinaus liefert.

Anmerkungen:
1 Philip Schofield / Catherine Pease-Watkin / Cyprian Blamires (Hrsg.), Collected Works of Jeremy Bentham. Rights, Representation, and Reform. Nonsense upon Stilts and Other Writings on the French Revolution, Oxford 2002.
2 Werner Stark (Hrsg.), Jeremy Bentham. Economic Writings, Bd.1, London 1952.

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