A. Barenberg: Gulag Town, Company Town

Cover
Titel
Gulag Town, Company Town. Forced Labor and Its Legacy in Vorkuta


Autor(en)
Barenberg, Alan
Reihe
The Yale-Hoover Series on Stalin, Stalinism, and the Cold War
Erschienen
Anzahl Seiten
XVI, 331 S.
Preis
$40.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wladislaw Hedeler, Berlin

Mit seiner Studie wendet sich Alan Barenberg einer in der Gulagforschung zunehmend diskutierten Fragestellung zu: Was geschah an den Lagerorten nach der Auflösung des Gulag und der Reorganisation der Hauptverwaltung Besserungsarbeitslager (GULag) zur Hauptverwaltung Haftorte (GUMZ)? Einzelne Thesen, die in den sechs Kapiteln des Buches ausgeführt sind, stellte er 2009 bis 2011 in Fachzeitschriften, darunter den „Jahrbüchern für Geschichte Osteuropas“ zur Diskussion.1

Zunächst wird Workuta als Außenposten des Gulag beschrieben, danach die Rolle als Kohlelieferant im Krieg skizziert. Im Ergebnis der Krise des Gulagsystems erlebte Workuta seine Wiedergeburt. Diese Transformation ist das eigentliche Thema des Buches.

Im Dezember 1961, ein Jahr nach der Auflösung des Vorkutlag verschwand die Stalinstatue aus dem Stadtzentrum. Auf dem Denkmalssockel stand nun Genosse Kirow. Damals lebten in der Stadt über 183.000 Menschen, unter ihnen viele entlassene Häftlinge. Im Unterschied zu Alexander Solschenizyn, der die Lager mit einem Archipel verglichen hat, sie als eine separate, abgeschlossene Welt definierte, geht es Barenberg um den Zusammenhang, um die Wechselwirkung und das Aufgehen der einen Welt in der anderen (S. 7). Wie vor ihm Steven Barnes, fragt er nach der Rolle des Gulag bei der Herausbildung der sowjetischen Zivilisation.2 Das Lagersystem, so eine seiner Thesen, existierte nicht isoliert von der Gesellschaft sondern von Anfang an als ihr integraler Bestandteil. Die gezielte Anwerbung entlassener Häftlinge und ihre Weiterbeschäftigung als Arbeitskräfte in den Bergwerken der einstigen Lagerregion um Workuta stellt Barenberg auf der Grundlage von Dokumenten, die er im Museum des Lagers einsehen konnte, als gelungene Reintegration in die Sowjetgesellschaft dar.

Während des Zweiten Weltkrieges waren die Lager Teil der „Heimatfront“. Welcher Stellenwert dem in der Rüstungsproduktion, beim Straßen- und Flugplatzbau oder bei der medizinischen Behandlung verwundeter Soldaten eingesetzten „Sonderkontingent“ in der Kriegsgeschichtsschreibung eingeräumt wird, ist weiter zu untersuchen, denn eine besondere Hervorhebung erfährt die Arbeit der Gulaghäftlinge in der russischen Geschichtsschreibung nicht. Sie gehen in der Masse der Werktätigen im Hinterland unter.

Was von Barenberg als Reintegration rezipiert und verallgemeinert wird, folgt nicht der Häftlingsperspektive sondern der Erfolgspropaganda der Lageradministration. Letztere beanspruchte auch die Rolle des Initiators der Auflösung des Gulag. Unter diesem Blickwinkel kommt die Thematik der Aufstände in den Sonderlagern, die die Axt an die Wurzel des Systems legten, gar nicht erst in den Fokus. Da die Lagerexistenz nicht als Erfolgsgeschichte geschrieben werden kann, soll wenigstens die Auflösung als solche erscheinen. Die russische mehrbändige Dokumentenedition „Istorija Stalinskogo Gulaga“3, auf die sich der Autor bei seinen Recherchen stützt, ist genau unter diesem Aspekt zusammengestellt.

Was bei Barenberg nicht zur Sprache kommt, ist, dass es „freiwilliger Zwang“ war, der die Entlassenen an den Haftort band, denn die Reintegration wurde den Sowjetbürgern unter ihnen in der Heimat, also dort, wo sie einst verhaftet und verurteilt worden waren, versagt. Dort blieben sie Diskriminierte, fanden weder Wohnung noch Arbeit, was nicht ohne Auswirkung auf die Beziehungen zu den Angehörigen blieb. In der Lagerregion hingegen kannten sie sich aus, blieben im wahrsten Sinne des Wortes unter sich. Hier waren sie nicht die Gezeichneten. Was neben Workuta auch für Dalstroj und die Kolyma galt, lässt sich jedoch nicht auf andere Langzeitlagerkomplexe im System der GULag – wie z.B. das Sibirische Lager (Siblag) oder das Karagandinsker Besserungsarbeitslager (Karlag) – übertragen. So initiierte z.B. der Komsomol nach der Auflösung des Karlag im Auftrag der KPdSU-Führung eine Kampagne „25.000 Mädchen ins Neuland“. Sie wurden dringend gebraucht, um die entlassenen Häftlinge zu ersetzen und die Vieh- und Agrarwirtschaft in der Region weiterzuführen. Die im Aufruf genannte Zahl entsprach der Anzahl der zur Aufrechterhaltung der Landwirtschaft benötigten Arbeitskräfte.

Auf die Literatur, in der dieser Aspekt der gescheiterten Integration explizit ausgeführt und untersucht wird, geht Barenberg nicht ein. Stephen Cohens Skizze über das Leben nach dem Gulag „The Victims Return. Survivors of the Gulag after Stalin“4 wird ebenso wenig zur Kenntnis genommen, wie die deutschsprachigen Publikationen von Meinhard Stark zum Thema.5 Simon Ertz hat auf dieses Defizit hingewiesen. Das Wenige, was Barenberg zum Thema gescheiterte Integration vorbringt, ist Galina Ivanovas Studie „Istorija GULAGa 1918–1958“6 entnommen. Die Debatte darüber, welche Impulse vom Gulagsystem als einem Staat im Staate ausgingen, wird auch nach dieser Publikation weitergehen. Der Epilog schließt mit der Aufforderung, an die Historiker: „historians must look at the smaller, peripheral places that dotted the Soviert Union’s massive expanses. It is in such places where one can most clearly see the degree to wich the Gulag was entwined with Soviet society an Soviet history“. (S. 250) In Anbetracht der Quellenlage ist die Zeit für verallgemeinernde Schlussfolgerungen noch nicht reif. Nanci Adler hat zurecht darauf verwiesen, dass der Platz des Gulag im gesellschaftlichen Bewusstsein der Russen bis auf den heutigen Tag nicht feststeht.7

Anmerkungen:
1 Alan Barenberg, Prisoners Without Borders: Zazonniki and the Transformation of Vorkuta after Stalin, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 57 (2009) 4, S. 513–534.
2 Stephen A. Barnes, Death and Redemption. The Gulag and the Shaping of Soviet Society, Princeton 2011.
3 Istorija Stalinskogo Gulaga, Konec 1920-ch pervaja polovina 1950-ch godov. Sobranie dokumentov v 7-mi tomov, Mokva 2004ff.
4 Stephen F. Cohen, The Victims Return. Survivors of the Gulag after Stalin, New York 2010.
5 Meinhard Stark, Die Gezeichneten.GULAG-Häftlinge nach der Entlassung, Berlin 2010.
6 Galina Ivanova, Istorija Gulaga, 1918–1958gg., Moskva 2006.
7 Nanci Adler, Keeping Faith with the Party. Communist Believers Return from the Gulag, Bloomington 2012.

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