G. Schlusche u.a. (Hrsg.): Stadtentwicklung im doppelten Berlin

Cover
Titel
Stadtentwicklung im doppelten Berlin. Zeitgenossenschaft und Erinnerungsorte


Herausgeber
Schlusche, Günter; Pfeiffer-Kloss, Verena; Dolff-Bonekämper, Gabi; Klausmeier, Axel
Reihe
Veröffentlichungen der Stiftung Berliner Mauer – Beiträge zur Geschichte von Mauer und Flucht
Erschienen
Anzahl Seiten
334 S., 99 Farb- und 75 SW-Abb., 43 Karten
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Harald Engler, Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung, Erkner

Mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Berliner Mauer ist es längst an der Zeit, die Stadtgeschichte beider Hälften des geteilten Berlin für die Zeit der Systemkonkurrenz einer vergleichenden Gesamtschau zu unterziehen. Während insbesondere die City-West in jüngster Zeit eine Urbanitäts- und damit – im ewigen duozentrischen Widerstreit zum Alexanderplatz – erneute Bedeutungsaufwertung erfahren hat1 und die Geschichte West-Berlins in auffälliger Weise intensiver nostalgisch beschrieben2 und seriös erforscht wird3, fehlen noch immer integrativ-komparative Synthesen. Einen ersten systematischen Versuch, eine vorläufige Bilanz für den wichtigen Bereich der Stadtentwicklung zu ziehen, unternimmt der hier besprochene Sammelband. Mit dem Thema Stadtentwicklung nimmt sich das Werk dabei eines Feldes der Stadtgeschichte an, das für die politische Systembildung und Propaganda Ost- und West-Berlins als „Vorzeigestädte des jeweiligen politischen Systems“ (S. 9, Ost-Berlin als „Hauptstadt der DDR“ sowie West-Berlin als „Schaufenster des Westens“) von besonders identitätsstiftender Bedeutung war und ein wichtiges Element für die Schaufensterfunktion der beiden Halbstädte in der politisch geteilten Welt darstellte.

Das erklärte Ziel der vier Herausgeber ist es, mit diesem Band sowohl die Parallelen als auch die internationalen Einflüsse sowie die zeitgeschichtlichen Strömungen und deren Auswirkungen auf die Stadtentwicklung zu analysieren. Konzeptionell gehen sie von Martin Warnkes Paradigma „Bau und Gegenbau“ für die Konstituierung politischer Landschaften aus (S. 9). Dies überzeugt und wird im Band an einigen Beispielen gelungen vorgeführt, zum Beispiel für die beiden Stadtzentren (Bruno Flierl zum Stadtzentrum Berlin-Ost, Kerstin Wittmann-Englert zur City-West; oder Wolf-Dieter Heilmeyer zum Kulturforum West-Berlin versus Günter Schade zur Museumsinsel). Hervorgegangen ist der Band aus zwei Vorlesungsreihen, die 2011–2013 in der Gedenkstätte Berliner Mauer durchgeführt wurden. Die Herausgeber sind versierte Experten für das Thema: Gabi Dolff-Bonekämper (Professorin für Denkmalpflege an der Technischen Universität Berlin, Doyenne für die auf die Moderne bezogene Denkmalpflege in Berlin), Günter Schlusche (Projektleiter für die bauliche Erweiterung der Gedenkstätte Berliner Mauer und erfahrener Koordinator für Erinnerungsorte), Verena Pfeiffer-Kloss (Vorstand des Berliner Netzwerks URBANOPHIL) und Axel Klausmeier (Kunst- und Architekturhistoriker, Direktor der Stiftung und Hausherr der Veranstaltungsreihe).

Für eine Gesamtperspektive ergiebig und zudem spannend zu lesen ist der Ansatz der Herausgeber, nicht nur die großen Linien der Stadtentwicklung zu betrachten, sondern auch konkrete Bauten – etwa das Springer-Verlagshochhaus in Kreuzberg oder die Grenzübergangsstelle am Bahnhof Friedrichstraße – und städtebauliche Ensembles wie das erneuerte Gebiet um die Ackerstraße Nord in West-Berlin. Eine Bereicherung der fachwissenschaftlichen Perspektiven bieten einzelne Beiträge von Zeitzeugen aus den jeweiligen Stadthälften, weshalb der Band den treffenden Untertitel „Zeitgenossenschaften und Erinnerungsorte“ trägt. Erklärtes Ziel der Herausgeber war es, den Aufbau des Sammelbandes „sachlich-strukturell“ und auch mit Hilfe „topografischer Zuordnungen“ zu gestalten (S. 11) – aber letztlich erscheint die Anordnung dramaturgisch nicht richtig gelungen. So wird zum Beispiel das wichtige Thema Stadterneuerung nicht ganz klar durchdekliniert: Zunächst wird es in einem Abschnitt zur spannenden Ost-West-Achse der Ackerstraße aufgegriffen, der von einem Abschnitt über Erinnerungsorte mit Bezug zum Nationalsozialismus unterbrochen wird, ehe das Thema dann in einem eigenen Abschnitt zur Stadterneuerung wieder auftaucht – hier hätte auch kohärenter gegliedert werden können.

Während die kunstgeschichtlich-planungshistorische Perspektive des Bandes durch die disziplinäre Herkunft der Autoren gut unterfüttert ist, werden einige zeithistorische Zusammenhänge zu wenig akzentuiert beziehungsweise eigenwillig ausgedrückt und interpretiert. So waren die Westsektoren eben explizit kein „konstitutiver Teil“ der Bundesrepublik (wie auf S. 8 formuliert), sondern unterstanden den Botschaftern als obersten zivilen Rechteinhabern der Westmächte (und nicht nur „westalliierter militärischer Führung“, S. 9). Die größten Plattenbausiedlungen der DDR in Marzahn, Hellersdorf und Hohenschönhausen als „grüne Vororte“ von Ost-Berlin zu bezeichnen (S. 10), ist eine Formulierung, die nicht so ganz überzeugt. Leider fehlen im Band weitgehend die – neben aller unbestrittenen Trennung – auch vorhandenen verbindenden Elemente der beiden Stadthälften über den Eisernen Vorhang hinweg. Damit sind nicht die gut herausgearbeiteten stadtentwicklungshistorischen Parallelen in beiden Hälften Berlins gemeint, sondern die durchaus existente und bis heute zu wenig erforschte Kooperation sowie die noch zu analysierenden Prozesse der Kommunikation über und Rezeption von Architektur und Städtebau zwischen Ost und West.

Ausgesprochen überzeugend ist der Band aber in seinem Gesamtvergleich der Stadtentwicklung beider Hälften Berlins in der Zeit der Systemkonkurrenz. Als auffällige Parallele wird beispielsweise die Forcierung der behutsamen Stadterneuerung durch starke Bürgerbewegungen genannt („Widerstand gegen Abriss und Verfall und Stadterneuerung im geteilten Berlin“, S. 175–213), während die frappierenden Unterschiede vor allem in deutlich differenten Varianten der Verkehrsplanung („Autogerechte Stadt ohne Autos – Verkehrsplanung im geteilten Berlin“, S. 214–247) oder des Siedlungsbaus liegen (S. 10). Besonders gelungen ist der Ansatz, den Vergleich der Teilentwicklungen zwischen West und Ost in eine Synthese münden zu lassen und durch kluge Kommentare von jüngeren Kollegen (aus dem Netzwerk URBANOPHIL) mit hilfreichen Ausblicken auf die aktuelle Entwicklung des jeweiligen Themas oder Feldes zu versehen. So erhöht sich die Relevanz des Buches für Fragen der gegenwärtigen Stadtentwicklung ungemein. Überzeugend ist auch das gut ausgewählte, für das Thema Stadtentwicklung essentielle Bild- und Kartenmaterial.

Der Sammelband liefert in insgesamt neun größeren thematischen Abschnitten immerhin 35 zumeist gelungene Einzelbeiträge – eine Vielfalt stadtentwicklungspolitischer Beispiele und Fallstudien. Exemplarisch sollen hier drei Aufsätze herausgehoben werden: die Texte von Bernd Ettel zu einem Entwurf für die Erinnerungsstätte „Topographie des Terrors“ aus Ost-Berlin, der den beiden Architekten einen mehrjährigen Gefängnisaufenthalt einbrachte, von Harald Bodenschatz und Cordelia Polinna zu einem halben Jahrhundert Stadterneuerung in Berlin sowie von Bruno Flierl zu den Planungen für das Stadtzentrum Ost. Außerdem ist es den Herausgebern gelungen, eine breite inhaltliche Palette zusammenzustellen und beispielsweise mit dem Abschnitt zur „Deindustrialisierung West und Staatsindustrialisierung Ost“ (S. 249–281) bisher deutlich unterbelichtete Themen der Gesamtberliner Stadtentwicklungs- und Wirtschaftsgeschichte ins Blickfeld zu rücken. Natürlich gibt es in einigen Bereichen noch deutliche Forschungslücken, die auch in diesem Band nicht gefüllt wurden und denen sich die Forschung in den nächsten Jahren verstärkt zuwenden sollte – etwa der Aneignung oder Ablehnung bestimmter stadtplanerischer Konzepte durch die Bewohner der Stadt. Auch die Einbettung der Ergebnisse und Analysen in die Forschungslandschaft zum Thema sowie die großen internationalen und transnationalen Zusammenhänge sind nicht immer ausreichend berücksichtigt. Dennoch gibt der Band einen gut lesbaren, anregenden Einblick zu diesem spannenden Themenkomplex der jüngeren Berliner Stadtgeschichte. Sowohl für den ambitionierten Fachwissenschaftler als auch für den interessierten Laien ist die Lektüre äußerst erkenntnisfördernd.

Anmerkungen:
1 Vgl. die Aufwertung der City-West mit der Wiedereröffnung des Bikini-Hauses, dem Zentrum am Zoo sowie weiteren (Hochhaus-)Baumaßnahmen rund um die Gedächtniskirche wie dem Zoofenster oder dem Upper West, das 2016 eröffnen soll.
2 Die Flut der Veröffentlichungen zu West-Berlin (insbesondere der für die Erinnerungskultur und Identitätsstiftung essentiellen Bildbände) der letzten Jahre wird zusammenfassend reflektiert von Hanno Hochmuth, Sehnsuchtsbilder. West-Berlin in neuen Fotobänden, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 11 (2014), S. 312–327, <http://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2014/id=5107> (03.03.2015).
3 Vgl. Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 11 (2014), Heft 2: West-Berlin, hrsg. von Stefanie Eisenhuth, Hanno Hochmuth und Martin Sabrow, <http://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2014> (03.03.2015); stellvertretend auch Ural Kalender, Die Geschichte der Verkehrsplanung Berlins, Köln 2012, der beide Stadthälften vergleichend analysiert.