P. Neumann-Thein: Parteidisziplin und Eigenwilligkeit

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Titel
Parteidisziplin und Eigenwilligkeit. Das Internationale Komitee Buchenwald-Dora und Kommandos


Autor(en)
Neumann-Thein, Philipp
Erschienen
Göttingen 2014: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
629 S.; 61, z.T. farbige Abb.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Insa Eschebach, Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück / Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten

Im System der Konzentrationslager war widerständiges Handeln vor allem jenen möglich, die Funktionen in der von der SS eingesetzten Häftlingsverwaltung bekleideten. Eine „partielle Verstrickung“ in die Verbrechen der SS war deshalb unausweichlich. Diese „zwiespältige Kernerfahrung“, so Philipp Neumann-Thein, einte die führenden Mitglieder des Internationalen Buchenwald-Kollektivs bis in die 1990er-Jahre. Das von ihnen propagierte Buchenwald-Narrativ stellte die internationale Solidarität, die kommunistisch geführte Selbstbefreiung und den „Schwur von Buchenwald“ in den Vordergrund. Die Kehrseiten der Lagererfahrung, die Kosten und Schattenseiten des Widerstandes, blieben ausgespart (S. 543).

Neumann-Theins Studie ist eine solide recherchierte Verbandsgeschichte des Internationalen Buchenwald-Komitees und, damit verbunden, eine Mikroanalyse der Entwicklung des kommunistischen Gedächtnisses an die Ereignisse im Lager. Akteursbezogene Ansätze – wie die Frage nach Biografien und politischen Praxen der jeweiligen Präsidenten und Vize-Präsidenten des Komitees – verbindet Neumann-Thein mit der transnationalen Netzwerkforschung, weshalb seine Studie auch Einblicke in die enge Kooperation des Buchenwald-Komitees mit anderen international agierenden Häftlingsverbänden vermittelt.

Das erste, ereignisgeschichtlich argumentierende Hauptkapitel ist der Problematik des organisierten Widerstandes in Buchenwald 1943–1945 gewidmet: Kein Zweifel besteht an der Tatsache, dass es Häftlingen gelungen ist, ein Arsenal von selbst gefertigten oder entwendeten Waffen im Lager anzulegen. Am Morgen des 11. April 1945, als sich US-amerikanische Verbände bereits dem Lager näherten, sind diese Waffen verteilt und genutzt worden; SS-Männer wurden festgenommen, eine weiße Fahne wurde auf dem Lagertor gehisst. Die Erzählung von der Selbstbefreiung Buchenwalds, die später zur Staatsdoktrin der DDR avancierte, nimmt hier ihren Ausgang. Dass sich zur gleichen Zeit Einheiten der US-Armee Gefechte mit der abziehenden SS lieferten, war für das kommunistische Buchenwald-Gedächtnis lange Zeit ohne Bedeutung – ebenso wenig wie die Tatsache, dass sich die behauptete internationale Solidarität im Lager vor allem auf die kommunistischen Häftlinge selbst bezog: Lebensmittel, Kleidung, Medikamente organisierten deutsche Kommunisten für die eigene Gruppe. Unter den ausländischen Häftlingen wurden vor allem KP-Mitglieder protegiert; die „Muselmänner“ und „Tonnenadler“, die sich, so Bruno Apitz, aus „Kehrichthaufen und Abfalltonnen“ ernährten und sich „in tierischer Gleichgültigkeit“ treten und prügeln ließen, kamen im Bild des siegreichen Kampfes nicht vor (zit. auf S. 56f.).

Die folgenden fünf Kapitel thematisieren die Geschichte des Komitees von dessen Anfängen 1952 bis in die Gegenwart. Neumann-Thein diagnostiziert zwei Impulse, auf die 1952 die Ankündigung des „Internationalen Verbindungskomitees“ zurückgegangen sei: zum einen die Internationalisierungsbemühungen (ost)deutscher Kommunisten aus Buchenwald und zum anderen die 1951 gegründete Fédération Internationale des Résistants (FIR), die mit der Schaffung internationaler Lagerkomitees ihren Einfluss auf ehemalige Häftlinge auch in Westeuropa ausdehnen wollte (S. 166ff.). Ein Franzose und ein Deutscher sollten die Leitung des Buchenwald-Komitees übernehmen – eine Struktur, die sich ähnlich auch im Fall des Internationalen Ravensbrück-Komitees abzeichnet: Ein vorläufiges Komitee trat erstmals 1956 in Berlin zusammen; seither und bis in die Gegenwart wird der Verband von einer französischen Präsidentin und einer deutschen Generalsekretärin geleitet. Es wäre vielversprechend, einmal vertiefend der Frage nachzugehen, welche Diskussionen und Entscheidungen ostdeutscher Akteure Anfang der 1950er-Jahre die Idee international agierender Lager-Komitees befördert haben. Die Absicht der SED-Führung, in der DDR drei Nationale Mahn- und Gedenkstätten in Buchenwald, Sachsenhausen und Ravensbrück zu eröffnen, dürfte eine Rolle gespielt haben.

Gleichwohl blockierte die SED vier Jahre lang die Aktivitäten des Buchenwald-Komitees. Grund war vermutlich die Angst vor Kontrollverlust (S. 270ff.). Erst 1963/64 kam es zu einer Reaktivierung und Institutionalisierung des Komitees – ein Umstand, der wiederum Parallelen zum Internationalen Ravensbrück-Komitee aufweist: Nach den ersten Aktivitäten in den 1950er-Jahren gelangen erst 1965 ein weiteres Treffen und die (Neu-)Gründung des Komitees. Es zeigt sich auch hier, dass ein komparatistischer Forschungsansatz hinsichtlich der Entwicklungsgeschichte der Komitees in der Tat vielversprechend wäre, zumal die (französischen) Leitungen miteinander kommunizierten und sich zwecks Absprachen stets erneut getroffen haben. In den 1970er- und 1980er-Jahren entwickelten sich die Komitees zu relevanten geschichtspolitischen Playern: Nahezu jährlich trafen sich Abgeordnete aus 10 bis 15 Ländern, um gemeinsam Resolutionen zu verabschieden, die sich beispielsweise auf den Neonazismus in der Bundesrepublik bezogen, auf die drohende Verjährung von NS-Verbrechen, auf Berufsverbote, Nuklearwaffen usw. Die Kritik war in erster Linie gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtet; die politischen und sozialen Verhältnisse in der Sowjetunion und im Ostblock waren nicht Gegenstand der Diskussion (S. 545). Diese Praxis entsprach durchaus der offiziellen Linie der SED. Die im Titel des Buches angesprochene „Eigenwilligkeit“ bewies das Komitee vor allem in den frühen 1950er-Jahren, als auch Kommunisten seitens der Parteiführung gelegentlich unter Druck gerieten.

Es ist ein besonderes Verdienst von Neumann-Theins Studie, dass sie nicht zuletzt den schwierigen Transformationsprozess des Buchenwald-Komitees nach dem Fall der Mauer und der Öffnung des Ostblocks einbezieht: Die Erosion des kommunistischen Buchenwald-Narrativs in den 1990er-Jahren führte Schritt für Schritt zu einer Pluralisierung der Erinnerung. Dass dieser Prozess jedoch ausgesprochen zäh verlaufen ist, zeigen die Konflikte um die Gedenkstätte Buchenwald, die Anfang der 1990er-Jahre in die Kritik des Komitees geriet. Den Konflikt um das Speziallager Nr. 2 (1945–1950), den Streit über die „Roten Kapos“ in Buchenwald wie auch die nun laut werdenden Zweifel an der doktrinär verfochtenen Selbstbefreiungsthese erfuhr das Komitee als arge Bedrohung ‚seines‘ Erinnerungsortes. Die Aufnahme ehemaliger weiblicher Häftlinge der Außenlager und von Sinti und Roma in das Komitee führte – ebenso wie die schrittweise Öffnung des Verbandes für Nachkommen ehemaliger Häftlinge – zu einer grundlegenden Erneuerung und breiteren gesellschaftlichen Anerkennung des Komitees. Dazu trug auch die Übernahme der Präsidentschaft 2001 durch Bertrand Herz bei, der Buchenwald als jüdischer Jugendlicher überlebt hatte. Ob Verbände wie das Buchenwald-Komitee nach dem Abschied der Zeitzeugengenerationen noch eine Zukunft haben, ist indes ungewiss. Volkhard Knigge votiert dafür, die Endgültigkeit dieses Abschieds anzuerkennen: Es sei an der Zeit, die „Erinnerung der Vergangenheit“ durch „Auseinandersetzung mit der Vergangenheit“ zu ersetzen, wenn die „Erinnerung als Praktik“ verschwinde (zit. auf S. 540).

Philipp Neumann-Thein hat die Studie als Dissertation an der Friedrich-Schiller-Universität Jena eingereicht; sie wurde von Volkhard Knigge und Lutz Niethammer betreut. Ihr Anhang enthält unter anderem 55 Kurzbiografien, eine detaillierte Übersicht aller Zusammenkünfte des Komitees 1952 bis 2004 sowie ein achtseitiges Namensregister. Auf dem Feld der noch jungen historiographischen Forschung zu den Häftlingsverbänden setzt diese Arbeit Maßstäbe. Neumann-Theins mikroskopischer Blick auf die geschichtspolitischen Intentionen und die politische Praxis des Internationalen Buchenwald-Komitees ist ausgesprochen lehrreich; die Arbeit ist aufgrund des verhaltenen Humors des Autors auch immer wieder gut zu lesen. Zugleich vermittelt sie eine Ahnung davon, dass eine Zusammenschau der Geschichten der Internationalen Lager-Komitees noch einige neue Einsichten bereithalten wird.