: Arme und Armut in Göttingen 1860–1914. . Göttingen 2014 : Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN 978-3-525-85427-3 240 S. € 49,99

Althammer, Beate; Gestrich, Andreas; Gründler, Jens (Hrsg.): The Welfare State and the 'Deviant Poor' in Europe. 1870–1933. Hampshire 2014 : Palgrave Macmillan, ISBN 978-1-137-33361-2 296 S. € 84,20

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Schmidt, IGK Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive, Humboldt-Universität zu Berlin

Armut in den Schlagzeilen der Medien ist ein quantifizierbares und relationales System. Aus dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2012 ließ sich herauslesen, dass „die vermögensstärksten zehn Prozent der Haushalte über die Hälfte des gesamten Nettovermögens“ verfügen. Der Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes berechnete für das Jahr 2011 eine Armutsgefährdetenquote von 15,1 Prozent der Haushalte. Armut wird in Relation gemessen. In den Staaten der EU gelten Personen in Haushalten als arm, „deren Einkommen weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen bedarfsgewichteten Einkommens (Median)“ beträgt. In absoluten Zahlen waren dies 2011 für eine Familie mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern 1.781 Euro.1

Komplizierte Berechnungsmethoden, monetäre Richtsätze, sowie scheinbar exakte Grenzziehungen versuchen ein Problem der Armut zu lösen, das nur schwer zu lösen ist: wo beginnt Armut und wie bestimmt man sie? Zwei im Jahr 2014 erschienene Bücher gehen aus unterschiedlichen historischen Perspektiven dieser und weiteren Fragen nach und machen deutlich, wie willkürlich Grenzen gezogen sein konnten. Der Besitz eines Lakens konnte darüber entscheiden, ob jemandem in der Stadt Göttingen, die Jürgen Schallmann als Untersuchungsgegenstand für sein Buch über „Arme und Armut“ zwischen 1860 und 1914 wählte, Armenunterstützung erhielt oder nicht. In dem von Beate Althammer, Andreas Gestrich und Jens Gründler herausgegebenen Buch „The Welfare State and the ‚Deviant Poor‘ in Europe“ geht es grundsätzlich um die Zuschreibung von Normen und Normabweichungen bei der Definition von Armut in der Zeit zwischen 1870 und 1933, der Formierungsphase der modernen Sozial- und Wohlfahrtsstaaten.

Beate Althammer wählt in der Einleitung zu dem herausgegebenen Sammelband ebenfalls einen aktuellen Bezug. Das Jahr 2010 rief die Europäische Union als „Europäisches Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Exklusion“ aus. In dem Spannungsfeld zwischen Normfestsetzung und daraus resultierender Exklusion bzw. Inklusion bewegen sich die insgesamt neun Beiträge, zu denen neben Althammers Einleitung Schlussbemerkungen von Jens Gründler und Andreas Gestrich kommen. Den regionalen Schwerpunkt bilden Großbritannien, Deutschland und Österreich. In knappen Vergleichsskizzen kommen die Niederlande sowie die deutschen Kolonialgebiete in Ostafrika in den Blick.

Die Beiträge sind in drei Blöcke geteilt. Der erste Teil versammelt Beiträge, die sich mit der wandelnden Konzeption und Wahrnehmung von Armut beschäftigen. Der zweite Teil „On the Borderline“ nimmt die Landstreicherei und Bettelei in den Blick. Im letzten Teil „Beyond the Borderline“ untersucht Jens Gründler medizinische Diskurse über geistig Behinderte in der schottischen Armenverwaltung und Désirée Schauz beschreibt die Debatten um den Umgang mit Kriminellen in Kriminologie und Strafrecht, die zwischen Vorstellungen dauerhaften Wegsperrens und Rehabilitation oszillieren.

Stellte Althammer in ihrer Einleitung noch fest, dass die Hauptstrategie moderner Wohlfahrtsstaaten nicht die radikale Ausgrenzung, sondern „socio-therapeutic intervention“ gewesen sei, um die betroffenen Gruppen zu guten Bürgern zu machen, zeigen viele Beiträge, dass diese Interventionen keineswegs mit einer humanitären Praxis zusammengehen mussten. Ein besonders drastisches Beispiel stellt Tamara Stazic-Wendt in ihrem Beitrag über eine Slum-ähnliche Siedlung vor den Toren Triers während der Weimarer Republik vor. Von der Stadt Trier wurden in einem ehemaligen Kriegsgefangenenlager in einfachen Holzbaracken ohne Wasser und Elektrizität – in der Nähe einer Müllkippe – rund hundert Familien untergebracht. Es handelte sich in der Mehrzahl um Personen, die dem Wanderhandel nachgingen, um Arbeitslose und alleinstehende Mütter. Manche lebten nur für Wochen, einzelne mehrere Jahre in dieser Siedlung.

Die Stadt Trier fühlte sich, nachdem sie die Armen abgeschoben hatte, nicht mehr zuständig, da die Siedlung außerhalb des Stadtgebiets lag. Die angrenzende Gemeinde reagierte auf die Armensiedlung mit einem System rigider Kontrolle. Eine umfassende Ausgrenzung setzte ein. Medienberichte über Gewalt und Kriminalität in der Siedlung sowie das Bild von nicht integrierten „Wilden“ machten die Runde; die Siedlung bekam den Namen „Neu Marokko“. Sowohl im sozialdemokratischen Milieu, bei den Kirchen und Wohlfahrtseinrichtungen herrschten beträchtliche Vorurteile und man zeigte kein Interesse und Verständnis für die Bewohner. Der Hauptgrund für diese Exklusion liegt für Stazic-Wendt nicht in der Wirtschaftskrise, sondern ist das Ergebnis einer systematischen Diskriminierung als „deviant“.

Dies war nicht das allein dominierende Reaktionsmuster, das in den Fallstudien zum Ausdruck kam. Sigrid Wadauer zum Beispiel zeigt, dass in Österreich dem Gesetz nach Bettelei und Landstreicherei seit 1873/1885 zwar grundsätzlich bestraft werden mussten, je nach Region die Praxis aber unterschiedlich ausfallen konnte und die Lebensumstände der Angeklagten berücksichtigt wurden. Edward Snyder wiederum zeigt, wie in der von Friedrich von Bodelschwingh gegründeten Erziehungseinrichtung in Bethel sich nach dem Ersten Weltkrieg immer stärker eugenische Argumente breit machten. Für die Leitung habe sich während der Versorgungs- und Hungerkrise im Krieg gezeigt, dass nur die Stärksten und Gesündesten überlebten. Ideen der Aussonderung brachen sich so Bahn. Dagegen wehrten sich die aus den Kolonialgebieten zurückkehrenden Missionare. Sie glaubten daran, dass „Fehlgeleitete“ durch religiöse Überzeugung und Erziehung zur Arbeit in die Gesellschaft integriert werden könnten.

Überhaupt lässt sich aus den einzelnen Studien im besten Fall eine spannungsvolle Ambivalenz im Umgang mit Armut und Devianz herauslesen. Etwa wenn Megan Doolittle Reformgesetzgebungsprozesse in Großbritannien um die Jahrhundertwende vorstellt, die Armut als Resultat zyklischer Arbeitsmarktkrisen anerkannten und ein „Right to Work“-Gesetz in das Unterhaus einbrachten. Auf der anderen Seite stand die Reaktion des zuständigen liberalen Ministers (und ehemaligen Sozialisten) John Burns, der eine solche Gesetzesinitiative schlicht als „the right to shirk“ charakterisierte (S. 62f.).

Noch weniger optimistisch wird das Bild der Mehrheitsgesellschaft im Umgang mit Devianz im letzten Teil des Buches, so dass sich die Herausgeberin bereits in der Einleitung veranlasst fühlt, darauf hinzuweisen und um mögliche Kritik vorwegzunehmen: „This section […] is somewhat biased in its strong emphasis on tendencies towards the radical exclusion of deviants from society, and certainly counterbalancing case studies could have been included“ (S. 17). Andererseits kann man dem Buch auch zugutehalten, einer zu optimistischen Entwicklungsgeschichte des Umgangs mit Armut und Devianz die Spitze genommen zu haben.

Zwei Stärken des Sammelbandes seien hervorgehoben. Zum einen bringen die Beiträge ein breites Themenspektrum zusammen, das von der Kriminologie über das Strafrecht bis Eugenik reicht, ohne dass die Kohärenz verloren geht, da alle Beiträge immer wieder auf die leitenden Fragestellung nach Normbildung und Normabweichung, nach Inklusion und Exklusion Bezug nehmen. Außerdem verlieren die Autoren und Autorinnen – obwohl in den einzelnen Beiträgen das Wort „Diskurs“ öfters prominent auftaucht – nie den Blick auf die Praxis und die Umsetzung sowie auf die Betroffenen aus den Augen.

Dies wiederum ist das Hauptanliegen von Jürgen Schallmanns Buch. Er will den Betroffenen ein Gesicht geben, die verschiedenen Sichtweisen der Antragsteller wie der Behörden zusammenbringen, die Alltagspraxis der Armenpflege beleuchten und sich so kritisch mit der Wirkung der Disziplinierung der Armen auseinandersetzen. Ein wichtiger Zugang zu den Individuen verschaffte sich der Autor, indem er rund fünftausend Personen aus den Akten der Armenverwaltung in einer Datenbank zusammenführte und die Grundlage für die Auswertung schuf. Es ist schade, dass diese immense Arbeit nicht stärker im Band zum Tragen kommt. Eine detaillierte Analyse unterbleibt.

Von daher ist auch Schallmanns Anspruch, individuelle Schicksale in Form von Mikrogeschichte ans Licht zu bringen wie sie Carlo Ginzburg und Alain Corbin geschrieben haben, zu hoch gegriffen. Dafür ist die Quellenlage für das jeweilige Individuum zu dünn. (Letztlich war die detaillierte Rekonstruktion der Gedankenwelt des Müllers Menocchio in Carlo Ginzburgs „Der Käse und die Würmer“ vor allem deshalb möglich, weil Ginzburgs Protagonist eben nicht illiterat war, sein Buchbesitz sich rekonstruieren ließ und durch umfangreiche Verhörprotokolle sich eine Tür öffnete, die die spärlichen Armenakte nicht öffnen konnten2).

Dafür aber gelingt es Schallmann sehr gut, in der Geschichte der mit der Armenpflege befassten Göttinger Institutionen (Stadt, Wohlfahrtsvereine, Kirchen, Universität) die Schicksale und Lebenswege der Armen zu integrieren. Willkür der Behörden und Widerstandswillen der Betroffenen werden so schlaglichtartig erhellt. Auch die widersprüchliche Rolle des Armenpflegers wird an konkreten Beispielen herausgearbeitet. Er „trat als Mittler zwischen seiner eigenen bürgerlichen Welt und der verrufenen, trotzdem aber interessanten Unterschichten auf“ (S. 70). Gleichzeitig war ihr Engagement geprägt von Nächstenliebe einerseits und dem „Verantwortungsgefühl für die Stadt, die Stadtkasse und die von ihm zu bezahlenden kommunalen Steuern“ (S. 72) andererseits.

Einige handwerkliche Fehler und inhaltliche Unklarheiten stören den Gesamteindruck. So werden manche Quellenzitate nicht exakt zeitlich verortet. Informationen in manchen Diagrammen legen in einzelnen Fällen andere Interpretationen nahe bzw. führen zu weiteren Fragen. So wird zum Beispiel in einem Diagramm (S. 48) deutlich, dass Männer bis zur Altersgruppe der 40- bis 44-Jährigen häufiger Unterstützungsleistungen erhielten als Frauen, während Schallmann im Text betont, dass Männer „die ‚unwürdigen‘ Armen“ gewesen seien. „Weibliche Armut dagegen war die ‚würdige‘ Armut“ (S. 50). Welche Rolle spielte dann die Idee der Unwürdigkeit, wenn sie nicht von Unterstützung ausschloss? War sie lediglich – wenig erfolgreiche – moralische Abschreckung?

Angesichts der geringen Unterstützungsleistungen stellt sich auch die Frage, wie ein Einzelner oder gar ein Haushalt davon überleben konnten. Das von Olwen Hufton für die Armen Frankreichs rekonstruierte Konzept der „economy of makeshifts“, in dem in den Unterschichten so viele Einnahmequellen wie möglich „angezapft“ wurden3, hätte hier Schallmann weitere Möglichkeiten bei der Rekonstruktion der Alltagspraxis der Armenpflege geben können.

Mit Blick auf die Verwaltung räumt Schallmann ein, dass Armut zunehmend als strukturelles Problem wahrgenommen wurde, aber in der konkreten Hilfe immer noch der disziplinierende Zugriff wichtig blieb. Auch auf eine weitere Facette von Disziplinierung stieß Schallmann bei seiner Untersuchung. Die städtische Verwaltung brachte zunehmend die Wohltätigkeitsvereine „‚auf Linie‘“, insgesamt eine „Sozialdisziplinierung innerhalb des Bürgertums“ (S. 221).

In beiden hier vorgestellten Büchern wird schließlich deutlich, dass Inklusion in Form von Normanpassung an die Werte der Mehrheitsgesellschaft in den Diskursen und Praktiken der Experten, der Armenverwaltungen und sozialen Sicherungssysteme gewollt und gewünscht war. In der Ausgestaltung dagegen blieb die Tendenz zur Exklusion nicht zu übersehen. Sigrid Wadauer betont in ihrem Beitrag in dem Sammelband, dass die betroffenen Gruppen dieser Exklusions- und Inklusionspolitik – wie groß die Gruppen auch seien – nicht als „marginal“ klassifiziert werden sollten. Das gelte erst recht für den Diskurs um sie, weil er zentrale Fragen an die Gestaltung der Gesellschaft und der Sozialpolitik rund um das Konzept Arbeit sichtbar macht (S. 149) – und dies gilt bis heute.

Anmerkungen:
1 <http://www.zeit.de/wirtschaft/2012-09/armuts-und-reichtumsbericht-2012> (23.12.2014); Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband, Positive Trends gestoppt, negative Trends beschleunigt. Bericht zur regionalen Armutsentwicklung in Deutschland 2012, Berlin 2012, S. 1.
2 Carlo Ginzburg, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, 7. Aufl., Berlin 2011 (Torino 1976).
3 Olwen Hufton, The Poor of Eighteenth-Century France 1750–1789, Oxford 1974.

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