A. Assmann u.a. (Hrsg.): Rendezvous mit dem Realen

Titel
Rendezvous mit dem Realen. Die Spur des Traumas in den Künsten


Herausgeber
Assmann, Aleida; Jeftic, Karoline; Wappler, Friederike
Reihe
Erinnerungskulturen 4
Anzahl Seiten
216 S.
Preis
€ 27,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christiane Kruse, Kunstgeschichte und visuelle Kulturen, Muthesius Kunsthochschule Kiel

Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer Tagung im Rahmen der gleichnamigen Ausstellung in den Kunstsammlungen der Ruhr-Universität Bochum 2008/09. Er versammelt neun Beiträge aus Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaft zu einem Thema mit brennender Aktualität: die Erfahrungen von seelischen Verletzungen, die Menschen in Kriegen, Konzentrations- und Gefangenenlager, angesichts von Terror, Diktatur und Bürgerkriegen erleben müssen, verbunden mit der Frage, welche Rolle die Künste in der sozio-politischen Vermittlung und Durcharbeitung der politisch verursachten Traumata einnehmen.

Die Permanenz des Traumas ist aus ihm selbst begründet. Sie rührt von jener „nicht überwindbaren Gegenwart eines vergangenen Geschehens“ (S. 13), die das Trauma kennzeichnet. In der Einleitung des Bandes entwickeln die Herausgeberinnen auf der Grundlage von Psychoanalyse und Kulturtheorien den Trauma-Begriff, seine Paradoxien und Kippbewegungen, um ihn dann anhand von prägnanten, teils überraschenden Beispielen aus der neueren Kunst- und Literaturgeschichte zu kontextualisieren. Vier Kennzeichen des Traumas identifizieren die Autorinnen als ästhetisch und damit kulturell wirksam: 1. Überschuss und Leere. Das Trauma wird (wie das Sublime) als Exzess, Überschwemmung und Überwältigung beschrieben, aus denen sich das traumatisierte Individuum mit dissoziativer Abspaltung zu retten versucht. 2. Auf die Dekonstruktion des Subjektbegriffs antwortet der Trauma-Begriff einerseits mit der Rückkehr des Subjekts als Zeuge, Zeugnis-Geber und Überlebender. Andererseits „gibt [es] kein Subjekt des Traumas, da „der/die Traumatisierte periodisch die Verfügungsgewalt über sein/ihr Bewusstsein verliert“, was dem „Konzept der Entleerung von Subjektivität eine plastische Gestalt [gibt]“ (S. 12). 3. Zusammenfall von Vergangenheit und Gegenwart. Durch die Abspaltung vom Bewusstsein verbleibt das Trauma in der Latenz, aus der es in unkontrollierbaren Eruptionen, Flashbacks und körperlichen ‚Reenactments‘ zurückkehrt. Das unbewältigte Trauma aktualisiert sich als Gespenst oder Wiedergänger in künstlerischer Gestalt. 4. Der Einbruch des Realen und die Wiederkehr der Wirklichkeit. Gegen das Konzept von „,Konstruktion‘ als einer kollektiven Fiktion“ steht die ,Realität‘, die jetzt aus dem „selbstgenügsamen Symbolsystem der Postmoderne hinausweist“ und als Referenz: als „empirische Evidenz, Emotionalität, Wahrheitsgehalt und harte Fakten zurückkehrt“ (S. 15).

Die Autorinnen berufen sich auf die These des Kunsthistorikers Hal Foster, der 1996 bemerkte, dass „das Reale, das die poststrukturale Postmoderne verdrängt hatte, als Trauma zurückkehre“.1 Die „Modernität des Traumas“ (Inka Mülder-Bach), mit dem bislang als unüberbietbar geltenden Gräueltaten des Holocausts, widerlegt das Konzept einer „abgeschlossenen Geschichte“ und erscheint nun mehr im Dunkel von globalem Terror und Bürgerkriegen des 21. Jahrhunderts als ein Ausdruck unter anderen traumatischen Geschichtserfahrungen.2 Der vorliegende Band verspricht in seinen Beiträgen die Analyse dieses erweiterten Darstellungs- und Ausdrucksspektrums, dem die Künste angesichts einer nicht für möglich gehaltenen Vielfalt traumatischer Erfahrungen im 20. und 21. Jahrhundert zum Ausdruck verhelfen. Das Symptom der (unkontrollierbaren) Wiederholung wird in dem Band zum Leitmotiv der inhaltlichen Dreiteilung des Bandes in „Mediale Kopien“ – „Reenactments“ – „Heimsuchungen“.

Der Medienwissenschaftler Joachim Paech überträgt den aus Psychoanalyse und Psychiatrie stammenden Trauma-Begriff auf den von Kriegs- und Massenvernichtungserfahrungen geprägten „inneren Zustand (post)moderner Gesellschaften“ (S. 37) und analysiert im ersten Teil („Mediale Kopien“) die Rolle der Medien. Paech fragt, wie Fotografie, Film, Fernsehen an traumatischen Prozessen beteiligt sind, welche Absichten mit deren ontologisch-indexikalischen Eigenschaften verfolgt werden. Werden dokumentarische Zwecke verfolgt, so soll die Situation vor der Kamera ‚authentisch‘ vermittelt werden, wird hingegen reale Geschichte fiktionalisiert, so müssen die Spuren von Realität vor der Kamera zugunsten der Fiktion getilgt werden. Die Geschichtsfiktion im Film kann den ,Realismus‘ einer TV-Dokumentation mit der Freiheit gestalterischer Mittel übertreffen und zeigen, wie es zu den wirklichen Traumatisierungen kommen konnte. Paech will nachweisen, auf welche Weise ein ‚Schockfoto‘ das reale Ereignis mit „ikonischen und verbalen Diskursen überlagert und schließlich verdrängt“ (S. 47). Dagegen erzielen „traumatische Bilder“ im Sinne Barthes „unité traumatiques“ eine Wirkung, die dem realen Schockereignis nahekommt, indem sie den Betrachter beunruhigen, weil sie keine Erklärung, keinen Kontext für das Dargestellte liefern.3 Die ‚letzten Bilder‘ einer laufende Kamera eines getöteten Kriegsfotografen liefern authentische Bilder, aber keinen erklärenden Kontext. Sie machen die Trauma-Erfahrung medial nachvollziehbar, indem das Bild an die Stelle des realen Ereignisses tritt, das es verbirgt, da es keine Erklärung, keinen Sinn für dessen Entstehung und für das, was es abbildet, liefert. Paech sieht diese Bilder sogar als Beitrag „zur Beglaubigung des dokumentarischen Anspruchs der Darstellung [...], zu einer medialen ,Wahrheit‘“ (S. 51). Doch wer bezeugt uns Zuschauern, dass die ‚Realität‘, die das Bild zeigt, aber das Medium selbst nicht verbürgen kann, real stattgefunden hat und nicht inszeniert wurde?

Wie sich das Trauma psychisch manifestiert, wie es verursacht und wie seine Heilung gelingen kann, dies darzustellen und nachzuvollziehen ist Sache der Fiktion. Die Erzähltechniken des fiktionalen Films, die Perspektive eines Autors, der das dargestellte Trauma für den Zuschauer (mit)erlebbar macht, können, wie jede gelungene Fiktion, der ‚Wahrheit‘ sehr nahekommen. Letztlich gleichen sich dokumentarisches und fiktionales Erzählmedium in der Undarstellbarkeit des subjektiven Trauma-Erlebens.

Im zweiten Teil des Bandes („Reenanctment“) thematisiert der Kunsthistoriker Gerald Schröder mit Kulturtheorien des Abjekten, der Gender- und der Emotionsforschung im Gepäck die Auswirkung des Traumas auf Körperbilder von Kriegsteilnehmern. Einen therapeutischen Zugang zu seinen im Zweiten Weltkrieg erfahrenen Traumata suchte der Wiener Performance-Künstler Otto Muehl, der mit drastischen Kunstmaßnahmen in Wien der 1960er-Jahren arbeitete. In seiner Autobiografie (1977) schildert Muehl die zerstückelten Leichen im Frost der Ardennenoffensive als „das faszinierendste kunsterlebnis, das ich je hatte und haben sollte“.4 Die gesellschaftliche Verdrängung der Kriegsgräuel vereinfacht deren Abspaltung, was Muehl zwanzig Jahre später mit seiner Aktion „Nahrungsmitteltest“ (1966) durcharbeitete. Die drastischen Zurichtungen nackter, zerstückelter, verschmierter Frauenkörper fügen der sexuell aufgeladenen Inszenierung eine sadistische Abwehr des Weiblichen als Form von patriarchaler Gewalt und Unterdrückung hinzu. Rückblickend beschrieb Muehl die Aktion als „symbolischen Muttermord“, wie Schroeder mit Bezug auf Julia Kristeva, Winfried Menninghaus und die Actionpaintings von Jackson Pollock ausführt (S. 104). In der Autotherapie seiner Materialaktionen versuchte Muehl dem Soldatenkörper seiner traumatischen Erinnerung mit einer Annäherung an den mütterlichen Körper und der Auflösung verhärteter Körpergrenzen zu begegnen. Im Kontext der 68er-Generation verlieren die Aktionen ihren autobiographischen Charakter. Die Aktionen lassen den Wunsch nach der „Verflüssigung und Auflösung des soldatischen Körperpanzers“ frei und stehen für die Integration des gesellschaftlich Abgespaltenen. Wir befinden uns mit dem „Ausstieg aus dem Bild“ am Anfang der Performancekunst, die das Durchleben widerstreitender Gefühle, Lust, Schrecken und Ekel, zum Zweck der Trauma-Therapie betreibt (S. 108).

Mit „Heimsuchungen“ ist der letzte Teil des Bandes betitelt. Der Beitrag des Literaturwissenschaftlers Andreas Kraft befasst sich mit den Folgen des Zweiten Weltkriegs auf die deutsche Gegenwartsliteratur. Kraft beginnt mit Lacan, der im Trauma den Widerstand des Realen gegen die symbolische Ordnung erkannte. Da sich das Trauma gegen eine Übersetzung des Realen in eine „bewohnbare Realität“ sperrt, die „wir uns durch Zeichen erbaut haben“ (S. 143), erscheint es in verrätselter Form, in Träumen, Halluzinationen und Symptomen – als Geister oder Gespenster –, und verlangt nach Bearbeitung. Kulturgeschichtlich hatten Geister ihren Ort in den Religionen, wanderten in der Aufklärung in die Psychologie, wurden aus der säkularisierten, entzauberten Welt verbannt und landeten schließlich in der Psychoanalyse, wo sie mit Freuds Konzept des schlechten Gewissens der Lebenden gegenüber den Toten im Unheimlichen, Unvertrauten und Fremden überleben. Der Beitrag von Kraft verfolgt die These des Cultural Haunting5 (Avery F. Gordon) in den Romanen Hanns-Josef Ortheils („Abschied von den Kriegsteilnehmern“) und in Tanja Langers „Der Morphinist oder Die Barbarin bin ich“. Langer steigt mit der Frage, wodurch rassistische Gewalt entsteht, in die tiefe Gruft des nationalsozialistischen Tätertraumas, indem sie sich der Biografie des 1923 verstorbenen Dichters Dietrich Eckarts verschreibt, dem Hitler den zweiten Teil von „Mein Kampf“ widmete. In dem Roman ist Eckart der Wiedergänger, dem die Protagonistin begegnen will, dessen „Faszinationskraft“ sie befremdet, über den sie sich selbst kennenlernen wird, die familiäre Gefühlskälte und die daraus resultierende Gewalt. Kraft arbeitet die psychoanalytische Disposition heraus, die sich in der Wechselwirkung von Gesellschaft und Individuum ausbildet und in der der ödipale Konflikt eine Schlüsselrolle einnimmt. Die Vaterfigur, die das Kind bedroht, bei Eckart jedoch keinen Namen und kein Gesicht hat, eine Leerstelle ist, sucht sich ein feindliches Objekt, um daran Aggression und Gewalt auszuagieren. Die verdrängte Verlust- oder Angsterfahrung führt zur Ausstoßung des Bösen, das der Fremde, der Jude, ist. Gewaltbereitschaft ist demnach ein Adoleszenzproblem, dem der Roman eine Lösung anbieten will: Diese wird als Ankommen des jungen Menschen in der Realität beschrieben, deren Komplexität ausgehalten werden muss, um Ängste nicht in Aggression umschlagen zu lassen. Das Nazitum, das die Deutschen immer noch heimsucht, so schließt Kraft die Analyse, kann nicht auf individualpsychologischer Ebene gelöst werden, sondern nistet in gesellschaftlichen Strukturen und Praxen, die der Roman nicht zur Sprache bringt.

Die Beiträge des Bandes, so mein Fazit, liefern auf der Grundlage der Assmannschen Kulturanthropologie einen weiteren Baustein zur kulturellen Gedächtnisforschung, mehr noch leisten die Autor/innen aufgrund der Durchdringung des komplexen Themas mit den Instrumenten der kulturwissenschaftlichen Forschung selbst einen Beitrag zur Trauma-Therapie.

Anmerkungen:
1 Hal Foster, The Return of the Real. The Avant-Garde at the End of the Century, Cambridge/Mass. 1996, S. 166.
2 Inka Mülder-Bach (Hrsg.), Modernität und Trauma. Beiträge zum Zeitenbruch des Ersten Weltkriegs, Wien 2000.
3 Roland Barthes, Les ,unités traumatiques‘ au cinéma. Principes de recherches, in: Revue internationale de Filmologie 34 (1960), S. 13–21.
4 Otto Muehl, Wege aus dem Sumpf, Nürnberg 1977, S. 110.
5 Avery F. Gordon, Ghostly Matters. Haunting and the Sociological Imagination, London 1997; Hanns-Josef Ortheils, Abscheid von den Kriegsteilnehmern, München 1992; Tanja Langer, Der Morphist oder Die Barbarei bin ich, München 2002.

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