Willer, Stefan; Weigel, Sigrid; Jussen, Bernhard (Hrsg.): Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur. Berlin 2013 : Suhrkamp Verlag, ISBN 978-3-518-29652-3 274 S. € 15,00

: Erbfälle. Theorie und Praxis kultureller Übertragung in der Moderne. Paderborn 2014 : Wilhelm Fink Verlag, ISBN 978-3-7705-5068-5 397 S. € 56,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Till Kössler, Institut für Erziehungswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum

Erbe und Vererbung sind in der Geschichtswissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten hauptsächlich im Kontext einer Geschichte von Sozialdarwinismus, Eugenik und Rassismus erörtert worden. Die beiden hier zu besprechenden Bände erweitern diesen Blick zeitlich und inhaltlich. Einerseits zeigen sie in einer längeren historischen Perspektive, dass die Verbindung von Erbe, Familie und Biologie sich erst im 18. Jahrhundert durchsetzen konnte. Andererseits betten sie die biologischen Debatten in breitere gesellschaftliche Reflexionen über Erbe ein, die auch wichtige rechtliche und kulturell-literarische Dimensionen besaßen (und weiterhin besitzen). Während die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes sich besonders für den Wandel von Erbekonzeptionen um 1800 interessieren und dabei einen wichtigen Akzent auf die Vormoderne legen, beschäftigt sich Stefan Willer in der auf seiner Berliner Habilitationsschrift basierenden Monographie mit der kulturellen Problematisierung von Erbekonzeptionen vor allem um 1900. Beide Werke entstammen dem interdisziplinären Forschungsprojekt „Erbe – Erbschaft – Vererbung. Überlieferungskonzepte zwischen Natur und Kultur im historischen Wandel“, das insbesondere Historiker/innen und Literaturwissenschaftler/innen miteinander in ein Gespräch brachte.1

Die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes zeichnen anhand von Fallstudien Vorstellungen und Praktiken des Erbens seit der Antike nach; sie verfolgen die Genese eines modernen, an biologische Familien gebundenen Erbverständnisses und seine Entwicklung bis in die Gegenwart. Bernhard Jussen und Urban Kressin legen in ihren Beiträgen überzeugend dar, dass Erbe in der Vormoderne eng in religiöse Praktiken des Totengedenkens und der Idee der christlichen Gemeinschaft als „Erben Christi“ eingebunden war. Das lateinische Europa zeichnete sich im Mittelalter sogar durch eine vergleichsweise Schwäche von Verwandtschaft als gesellschaftlichem Strukturierungselement aus. Die katholische Kirche privilegierte die mit dem Tod der Eheleute endende Ehe eindeutig gegenüber biologischen Abstammungsgemeinschaften. Zugleich entwarf sie die spirituelle Nachfolge Christi als Erbe in Abgrenzung und Konkurrenz zur weltlichen Übertragung von Besitz und Status. Auch Karin Gottschalk betont in ihrem Aufsatz zur Übertragung von Eigentum in der Frühen Neuzeit die Unterschiede der von ihr untersuchten Regelungen zu modernen Konzeptionen des Erbrechts und weist auf die Vielzahl nebeneinander existierender Bestimmungen hinsichtlich der Weitergabe von Besitz vor 1800 hin. Erst eine neue Orientierung am individuellen Willen sowie die Neufassung der Familie als einer Vertragsgesellschaft ebneten im 18. Jahrhundert allmählich einem anderen Verständnis des Erbens den Weg, auch wenn das Recht des Erblassers, seine Erben frei zu bestimmen, nach 1800 bezeichnenderweise wieder zugunsten der biologischen Nachkommen eingeschränkt wurde.

Um 1800 vollzog sich, wie Stefan Willer, Sigrid Weigel und Bernhard Jussen in ihrer konzisen Einleitung argumentieren, eine tiefgreifende Veränderung der Vorstellung von Erbe, die bis in die jüngste Vergangenheit nachwirkte und erst in der Gegenwart einem erneuten Wandel unterliegt. In den Vordergrund rückte nun ein biologisches Verständnis von Vererbung, das die Weitergabe von Eigenschaften und „Anlagen“ von Eltern an ihre Kinder fokussierte. Das Erbe wurde naturalisiert und familialisiert, zugleich aber auch „futurisiert“ und nationalisiert. An die Stelle der Totenmemoria trat die Sorge um das Weiterwirken des Erbes in der Zukunft und die Idee eines nationalen Interesses am Erbe, was sich nicht zuletzt in neuen Debatten über ein nationales Kulturerbe und seine Sicherung erkennen lässt. In einer grundlegenden Neuausrichtung wurde den Toten der Status von Rechtssubjekten abgesprochen, um die Gestaltung der Zukunft möglichst frei von der als Last empfundenen Vergangenheit in Angriff nehmen zu können.

Die drei Beiträge, die sich mit der Zeit nach 1800 beschäftigen, verfolgen die Entwicklung dieser neuen Konzeption in Form von Fallstudien. Ulrike Vedder zeichnet in ihrem Aufsatz über testamentarisches Schreiben in der deutschsprachigen Literatur des 19. Jahrhunderts überzeugend nach, wie mit der Auflösung der Verbindung von Gedenken und Erbe im modernen Erbrecht Erbe und Vererbung zu wichtigen Themen literarischer Reflexion aufstiegen. Die Literatur versuchte die Frage des Nachwirkens der Toten und das Verhältnis von Toten und Lebenden kulturell neu zu definieren. Einem gänzlich anderen Untersuchungsfeld widmet sich demgegenüber Ohad Parnes, der in seinem Beitrag zur Epigenetik im 20./21. Jahrhundert eine allmähliche Auflösung der im 19. Jahrhundert durchgesetzten strikten Trennung von Natur und Kultur in Erbbiologie und Genetik feststellt. In den vergangenen Jahren haben in diesem Zusammenhang alte Vorstellungen der Vererbung erworbener Eigenschaften eine erstaunliche Renaissance erfahren. Stefan Willers Beitrag beschäftigt sich schließlich mit der UNESCO-Politik des Kulturerbes. Ausgehend von Ambivalenzen der Rede vom nationalen Kulturerbe im 19. Jahrhundert, die oft die Grundlage einer rücksichtslosen Enteignungspolitik bildete, diskutiert er insbesondere die mit der Idee des Weltkulturerbes verbundene Stilllegung der Zeit, die einerseits die Vergangenheit bewahrt, andererseits den nachfolgenden Generationen Handlungs- und Gestaltungsspielräume nimmt.

Willers Ausführungen entstammen dem Umfeld seiner ebenso materialreichen wie lesenswerten Studie „Erbfälle“. Die Arbeit teilt das Erkenntnisinteresse des Sammelbandes; anders als dieser sieht Willer jedoch auf der Grundlage einer Analyse zeitgenössischer rechts- und humanwissenschaftlicher Texte sowie literarischer Werke die Jahrzehnte um 1900 als eine weitere Umbruchszeit, in der das Erbe zunehmend als Problem diskutiert wurde. Nach einem ersten Teil, der grundlegende moderne Konzeptionen von Vererbung in kulturellen und wissenschaftlichen Debatten erörtert, widmet sich ein umfangreicher zweiter Teil in Form von Fallstudien dem Umgang mit Erbe und Nachlässen in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Auch Willer argumentiert, dass die Bereiche von Recht, Biologie und Kultur an der Jahrhundertwende weit weniger voneinander getrennt waren, als das eine spezialisierte Wissenschafts- und Literaturgeschichte bisher wahrgenommen hat. In den Kontroversen um Erbe und Erben verschränkten sich die gut erforschten Auseinandersetzungen um die Bedeutung biologischer Vererbung mit Fragen des Rechtsverhältnisses von Individuum, Familie und Staat sowie mit der Frage der Bewahrung nationalen „Kulturerbes“.

Genetiker bemühten sich beispielsweise darum, ihr Vokabular von rechtlichen und kulturellen Assoziationen zu säubern und eine „reine Wissenschaftssprache“ der Gene und der Vererbung zu entwickeln, scheiterten letztlich aber mit diesem Versuch. Umgekehrt debattierten Juristen und Intellektuelle kontrovers, ob der Nachlass national bedeutender Persönlichkeiten deren biologischen Verwandten zustehe oder aber, im Widerspruch zum bürgerlichen Erbrecht, in die Obhut des Staates beziehungsweise „geistiger“ Erben gegeben werden müsse. In einer Fallstudie zur Geschichte des Nachlasses Friedrich Nietzsches, der jahrzehntelang von dessen streitbarer Schwester gehütet wurde, zeigt der Verfasser auf sehr plastische Weise die bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg anhaltende Bedeutung solcher Debatten. Über diesen Fall hinaus verschafften sich nach 1900 dabei Positionen Gehör, die ein nationales Interesse an Erbfällen rechtlich berücksichtigt wissen wollten und etwa auch einen dem Staat zustehenden „Pflichtteil“ am Erbe von Verstorbenen einforderten, die keine oder nur wenige Kinder hinterließen.

Der Studie führt gekonnt die verschiedenen Diskussionsfelder und -fäden zusammen; sie bietet ein weites Panorama intellektuellen Nachdenkens über Vererbung. Zurückhaltender ist Willer darin, aus dem zusammengetragenen Material übergreifende Thesen zu entwickeln. Allerdings zeigt seine Arbeit auf eindrucksvolle Weise, wie problematisch das Erbe Intellektuellen, Künstlern und Wissenschaftlern nach 1900 erschien. Dies zeigt sich besonders gut in der entstehenden Soziologie. Sozialwissenschaftler wie Émile Durkheim und Max Weber beschäftigten sich intensiv mit dem Thema Erbe – sie sahen in ihm aufgrund seiner Verbindung mit natürlicher Herkunft jedoch ein Überbleibsel ständischer Institutionen in der modernen, durch individuelle Leistungen und Vertragsverhältnisse gekennzeichneten Moderne. Intellektuelle wie Rudolf Borchardt entwickelten nach 1900 sogar dezidiert erbekritische Positionen. Für sie war das Erben etwas Verhängnisvolles, da es Zukunftsräume verenge und die Lebenden im Banne der Vergangenheit halte. Eine ambivalente, dialektische Haltung gegenüber dem Erbe lässt sich dagegen in der marxistischen Tradition feststellen, der Willer großen Raum gewährt und die er bis in die DDR hinein verfolgt. Sie betonte in Anlehnung an Hegel eine aktive Aneignung als eine Grundbedingung des Erbes und versuchte auf diese Weise der Sorge vor einer Determinierung der Gegenwart durch die Vergangenheit zu entkommen.

Im Rahmen dieser Rezension können nicht alle wichtigen Erkenntnisse und Impulse der beiden Bände angemessen gewürdigt werden. Gerade auch die literaturhistorischen Befunde der Fallstudien in Willers Monographie (etwa zum Schillerjahr 1905 und zu Robert Musils „testamentarischem Schreiben“ 1932–1935) verdienten eine genauere Analyse. Insgesamt stellen die beiden Bücher eine willkommene Erweiterung der bisherigen Forschung dar, weil sie nicht nur einen Beitrag zur Genese und Bedeutung des Natur-Kultur-Gegensatzes in modernen Gesellschaften leisten, sondern zugleich die vielfältigen Probleme eindrucksvoll beleuchten, die das Erbe vor wie nach 1800 kennzeichneten. Zwar hätte die übergreifende These einer Durchdringung rechtlicher, biologischer und kultureller Debatten nach 1800 in den Einzelstudien noch deutlicher akzentuiert werden können, und der Leser hätte zudem an vielen Stellen gern mehr über konkrete Erbfälle und -streitigkeiten, den Wandel von Vererbungspraktiken sowie die Haltung breiterer Bevölkerungskreise zu Erbe und Vererbung erfahren – doch hätte dies angesichts des ohnehin weiten Fokus den Rahmen der Arbeiten wohl gesprengt. Auch ohne die Berücksichtigung der genannten Aspekte zeigen die beiden Bände die Erkenntniskraft eines kulturhistorischen, darüber hinaus mit der Geschichte der Naturwissenschaften verbundenen Zugriffs auf Erbe und Vererbung. Sie demonstrieren die Fruchtbarkeit einer gegenwärtig eher seltenen Zusammenarbeit von Geschichts- und Literaturwissenschaften – ein intellektuelles Erbe, das vielleicht (wieder) stärker gepflegt werden sollte.

Anmerkung:
1 Siehe <http://www.zfl-berlin.org/erbe-erbschaft-vererbung.html> (24.01.2015) und die dort genannten Publikationen; außerdem neuerdings auch Vanessa Lux / Jörg Thomas Richter (Hrsg.), Kulturen der Epigenetik: Vererbt, codiert, übertragen, Berlin 2014.