: Erziehung als Wissenschaft. Ovide Decroly und sein Weg vom Arzt zum Pädagogen. Paderborn 2014 : Ferdinand Schöningh, ISBN 978-3-506-77779-9 237 S. € 34,90

Förster, Gabriele (Hrsg.): Quellen zur nationalen und internationalen Schulgesundheitspflege während der Weimarer Republik. . Bad Heilbrunn 2013 : Julius Klinkhardt Verlag, ISBN 978-3-7815-1950-3 262 S. € 24,90

Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Michèle Hofmann, Pädagogische Hochschule, Fachhochschule Nordwestschweiz

Der Monographie von Annika Blichmann über Ovide Decroly (1871–1932) und der von Gabriele Förster herausgegebenen Quellensammlung ist gemeinsam, dass sie sich mit Themen befassen, die im Spannungsfeld von Medizin und Pädagogik zu verorten sind. Blichmann zeichnet – wie es im Untertitel heißt – Decrolys „Weg vom Arzt zum Pädagogen“ nach. Förster versammelt Zeitschriftenbeiträge zur deutschen und internationalen Schulgesundheitspflege aus der Zeit der Weimarer Republik.

Das Buch von Blichmann ist insofern eine klassische bildungshistorische Arbeit, als hier mit Decroly eine ‚Galionsfigur‘ der Pädagogik im Zentrum steht. Die Autorin will allerdings nicht weiter zur hagiographischen Geschichtsschreibung beitragen, sondern ihr Ziel ist es, Decrolys Leben und Werk in Form einer Biographie kritisch zu würdigen. Während andere Reformpädagogen und -pädagoginnen wie Peter Petersen oder Maria Montessori noch immer den internationalen Raum beherrschten, führe der Belgier – insbesondere im deutschsprachigen Raum – „ein Randnotizen- und Fußnotendasein“ (S. 11). Dabei trug er nach Ansicht Blichmanns erheblich zum grundlegenden Verständnis einer Erziehung als Wissenschaft bei. Ausgehend von dieser Feststellung will die Autorin Decroly als wichtigen Vertreter der experimentellen, der Sozial- und der europäischen Reformpädagogik erfassen.

Die Darstellung gliedert sich in vier – unterschiedlich umfangreiche – Hauptteile, die von zwei einleitenden Kapiteln und einem Fazit gerahmt werden. In einem ersten, kurzen Teil („Die Jahre der Bildung“) erfährt die Leserin etwas über Decrolys Elternhaus, die Stationen seiner Schulbildung, sein Medizinstudium und die ersten Forschungsarbeiten. Je ein Unterkapitel ist ferner der belgischen Schulgeschichte und Personen, deren Schriften Decroly gelesen hat und die prägend für ihn waren (unter anderem Itard, Séguin und Binet), gewidmet. Der zweite, längere Teil („Die experimentellen Jahre“) beginnt mit einem Überblick über die Anfänge der experimentellen Wissenschaft in den Bereichen Pädagogik und Psychologie und widmet sich dann ausführlich den Versuchen und Forderungen Decrolys in diesem Gebiet. Decroly gründete 1901 gemeinsam mit seiner Ehefrau ein pädagogisches Laboratorium, das Institut d’enseignement spécial pour enfants irréguliers, und nutzte als einer der ersten Filmaufnahmen als Mittel zur systematischen Beobachtung. Der dritte, umfangreichste Teil („Die pädagogischen Jahre“) nimmt nach einigen einleitenden Ausführungen zur Schulkritik des späten 19. Jahrhunderts Decrolys reformpädagogisches Konzept der ‚Lebensschule‘ und die zweite von ihm begründete Institution, die Ecole de l’Ermitage, in den Blick. Der vierte, wiederum kurze Teil („Aufbruch in neue Welten“) skizziert die Ideen der Reformpädagogik und versucht eine Charakterisierung Decrolys als Vertreter dieser Bewegung vorzunehmen, bevor abschließend die Heroisierung durch seine Weggefährten und Mitarbeiterinnen, die – in einer historischen Arbeit etwas seltsam anmutende – „Frage, wie er denn tatsächlich gewesen ist“ (S. 205), und die Decroly-Rezeption im 20. Jahrhundert diskutiert werden.

Die Studie gibt interessante Einblicke in das Werk Ovide Decrolys. Sie ist denn auch mehr Werkbiographie als Lebensschilderung. Die biographischen Angaben beschränken sich auf die Ausführungen zu Decrolys frühen Lebensjahren im ersten Teil des Buches, in der Folge rückt das Werk (die Publikationen, Vorträge und Gründung der beiden Schulen) in den Mittelpunkt der Betrachtungen. Besonders spannend sind die Bezüge, die Blichmann herstellt zwischen Decrolys wissenschaftlichen Anfängen als Arzt und seiner weiteren Laufbahn als Pädagoge: die Übertragung eines medizinisches Wissenschaftsverständnisses und medizinischer Methoden in den Bereich der Erziehung. Als promovierter Arzt habe Decroly gewissermaßen die Legitimation zur Forschung besessen, die ihm als Wissenschaftler auf dem Gebiet der Erziehung von großem Vorteil gewesen sei, folgert die Autorin.

Blichmann stützt sich auf eine Fülle von Schriften Decrolys. Dieser Quellenreichtum ist sicher als Stärke des Buches zu nennen, gleichzeitig führt er aber auch zu Schwierigkeiten. So legt die Autorin seitenlang die Ansichten und Forderungen ihres Protagonisten dar. Dieses Vorgehen lässt stellenweise die Distanz zum Untersuchungsgegenstand fraglich erscheinen. Decrolys Positionen werden zu den einzig möglichen – zum Beispiel, wenn Blichmann in seine Kritik an der Binet-Simonschen Klassifikation geistig beeinträchtigter Kinder einstimmt. Ohne die Schriften der beiden französischen Forscher zur Kenntnis genommen zu haben, beurteilt sie Decrolys Einteilung als „effizientere Gliederung“ (S. 96), die „präzisere Diagnosen und entsprechend angepasste Behandlung“ (S. 98) verspreche. Blichmann übernimmt ebenso Decrolys Schulkritik, selbst noch was die Begrifflichkeiten anbelangt: Die belgische Schule an der Wende zum 20. Jahrhundert „war eine Buch- und Paukschule, in der es galt, zu Passivität, Ergebung und Unterwerfung zu erziehen“ (S. 37), „regelrecht antisozial mit einem schädlichen Einfluss auf das Kind“ (S. 120). Vor dieser Folie erscheinen die beiden Institutionen, die Decroly begründete, als wahre Musterschulen mit einem auf das einzelne Kind abgestimmten, „individuelle[n] Unterrichtskonzept“ (S. 77). Hier erfahre das Kind „Arbeit als freudebringende manuelle Betätigung, als aktives Handeln nach seinen freien Vorstellungen. Den Umgang mit Kindern anderer Nationalitäten oder Gesinnungen lernt es durch eine soziale Erziehung ebenso wie den Umgang mit dem anderen Geschlecht“ (S. 141).

Wo Blichmann in ihren Deutungen zum Teil über das Ziel hinausschießt, enthält sich Gabriele Förster in ihrer Quellenedition nahezu jeglicher Kommentierung. Die von ihr zusammengestellten Texte sind in sechs Themenbereiche gegliedert: Gesundheit der Kinder und Jugendlichen, Schularztwesen, Schullandheimbewegung und Freiluftunterricht, Schulferien sowie internationale Schulgesundheitspflege. Die Artikel sind in den Jahren 1921 bis 1933 erschienen. Sie stammen fast ausschließlich aus der ‚Zeitschrift für Schulgesundheitspflege und soziale Hygiene‘ und ihrer Nachfolgepublikation, der Zeitschrift ‚Gesundheit und Erziehung‘. Abgesehen von einer zweiseitigen Einleitung und einigen Ausführungen „[z]um Begriff der Schulgesundheitspflege in der Weimarer Republik“ (S. 9) sind die Quellendokumente ohne weiterführende Informationen und Erläuterungen abgedruckt.

Förster schreibt einleitend, „dass nach dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreiches im November 1918 Fragen der Schulhygiene und der Gesundheitserziehung im Rahmen dringlicher Maßnahmen zur Hebung der Volksgesundheit in der Öffentlichkeit und in der Fachpresse diskutiert wurden“ (S. 7). (Schul-)Ärzte und Lehrkräfte sollten in der Folge zusammenarbeiten, um den „negativen Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf die junge Generation“ zu begegnen (ebd.). Dieses Bestreben habe den Ausgangspunkt eines „erhebliche[n] Profilierungsprozesses“ auf dem Gebiet der Schulgesundheitspflege während der Weimarer Republik gebildet (ebd.). Ziel des Quellenbandes sei es, Schriften aus dieser Zeit zu vereinen, „die Auskunft geben über die gesundheitliche Lage der Kinder und Jugendlichen sowie das Tätigkeitsspektrum der Schulärzte“ (ebd.).

Die versammelten Zeitschriftenbeiträge bieten einen guten Überblick über die Ideen, Forschungen und Praxiserfahrungen zur Schulgesundheitspflege, die nach dem Ersten Weltkrieg diskutiert wurden. Der Band enthält auch einige Trouvaillen, speziell den Beitrag eines Schularztes, in dem er aus Aufsätzen von Kindern zitiert, die über ihre Erfahrungen bei schulärztlichen Untersuchungen berichteten. Für gewöhnlich waren die Kinder lediglich die Objekte der schulgesundheitlichen Maßnahmen und ihre Sichtweise nicht von Belang.

Die Quellentexte böten eigentlich die Möglichkeit, verschiedene Aspekte des Themas Schulgesundheitspflege aufzugreifen und sie auf ihre Kontexte zu beziehen. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Augenfällig ist, dass die meisten Beiträge von Schulärzten geschrieben wurden, Aufsätze von Lehrpersonen sind die Ausnahme. Dieses Ungleichgewicht ist kein Zufall: In den Schulgesundheitsdebatten gaben die Mediziner das Spektrum der Diskussion vor. Auffallend ist ferner das negative Bild von Großstädten, welches in den Beiträgen gezeichnet wird. Auch dies ist nicht zufällig: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden das Stadtleben allgemein und die städtischen Wohnverhältnisse im Besonderen als bedrohlich für die Gesundheit eingeschätzt. So erstaunt es auch nicht, dass die Schulgesundheitspflege als urbanes Projekt lanciert wurde und sich ausgehend von den größeren Städten erst allmählich aufs Land ausbreitete. Förster verzichtet jedoch darauf, diese oder andere Aspekte aufzugreifen. Dies ist bedauerlich, da sie eine ausgewiesene Expertin für das Thema Schulgesundheitspflege zur Zeit der Weimarer Republik ist. 1 Ein paar ergänzende Kommentare und Kontextinformationen von Förster wären hilfreich gewesen, um den ganzen Reichtum der abgedruckten Quellen erkennen zu können.

Anmerkung:
1 Vgl. insbesondere Gabriele Förster, Studien zur Schulgesundheitspflege in Pommern während der Weimarer Republik, Frankfurt am Main 2007.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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