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Titel
Liebe und Arbeit. Geschlechterbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert


Autor(en)
Saurer, Edith
Erschienen
Anzahl Seiten
317 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karin Hausen, Technische Universität Berlin

Bücher über Liebe hat es in Europa stets gegeben. Die Wiener Historikerin Edith Saurer aber hat erstmals ein Buch über gesellschaftsgeschichtliche Zusammenhänge zwischen Liebe, Arbeit und Geschlechterbeziehungen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts vorgelegt. Das Material, mit dem sie sich auseinandersetzt, sind Romane, gelehrte Traktate, wissenschaftliche Studien, amtliche Veröffentlichungen und Ego-Dokumente. Ergänzend nutzt sie in beeindruckender Breite systematisierende Erörterungen und vor allem die in großer Zahl zu einzelnen Staaten, Regionen und Orten Europas in deutscher, englischer, französischer und italienischer Sprache zugänglichen historischen Fallstudien und Überblicksdarstellungen. Ihr geht es nicht um eine „große Metatheorie“ (S. 20); sie verzichtet auch auf Definitionen, idealtypische Festlegungen oder Generalisierungen dessen, was sie unter ihren im Buchtitel genannten Leitbegriffen verstanden wissen will, und merkt nur an, Liebe und Arbeit würden im 19. und 20. Jahrhundert als „Grundpfeiler des Lebens“ verstanden (S. 13). Ihre methodisch am „Schnittpunkt von Frauen- und Geschlechtergeschichte, Sozial- und Kulturgeschichte“ (S. 20) angesiedelten historischen Forschungen sollen entschieden über literatur-, kunst- und sozialwissenschaftliche Studien zum Thema Liebe hinausgehen. Die dort vorrangig erforschten tradierten Ideen von Liebe und das Sprechen über Liebe beeinflussten zwar Liebeserwartungen und Liebesverständigungen. Aber Liebe werde in der Geschichte ebenso nachhaltig geformt durch die je aktuellen Verhältnisse und Erfordernisse der Arbeit und durch die von Staaten, Religionen und Brauchtum dem Ausleben von Liebesbeziehungen gesetzten Grenzen. Frauen und Männer hätten ihre Liebesbeziehungen im Wissen um solche Begrenzungen gestaltet, gelebt und notfalls mit Grenzüberschreitungen gegen Widerstände durchgesetzt. Die Autorin betont ihre besondere Aufmerksamkeit für „Widerstände gegen Marginalisierungen und Ausschlüsse“ und für nationale Grenzen als Orte für „Vernetzungsprozesse“ (S. 20).

Wie hat Edith Saurer ihr anspruchsvolles Programm umgesetzt? Die mit einer Trennlinie am Ende des Ersten Weltkrieges unterteilte Untersuchungszeit reicht vom frühen 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Im Inhaltsverzeichnis überraschen die kurzen Kapitel- und Zwischenüberschriften damit, dass sie nichts zu Leitbegriffen oder Europa als soziokulturellen und politischen Raum sagen, aber mit programmatischen Kürzeln dazu anreizen, lesend selbst herauszufinden, wie und warum ausgewählte Sachverhalte im Buch mitgeteilt, gedeutet und zusammengefügt worden sind.

Wie Edith Saurer beim Schreiben vorgeht, sei anhand des ersten Kapitels erläutert. Aus verschiedenen Blickwinkeln werden hier für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts Veränderungen im Zusammenspiel von Liebe, Ehe und Arbeit faszinierend nachgezeichnet und die erkenntnisleitende Überzeugung ausgearbeitet, inwiefern die Überbewertung tradierter Liebesgeschichten irreführend ist (S. 22). Um die europaweite „Macht der Liebesverbote“ herauszuarbeiten, entwirft Edith Sauer aus verschiedensten Quellen ein dichtes geschichtswissenschaftliches Geflecht. Eine grandiose Eröffnung ermöglicht ihr der 1807 veröffentlichte Roman „Corinne ou l’ Italie“ von Mme de Staël. Der Roman wurde bis 1808 vollständig ins Deutsche, Englische, Holländische, Italienische, auszugsweise 1809/1810 auch ins Russische, 1819 ins Spanische, 1819/1828 teilweise, 1859 vollständig ins Polnische übersetzt. Das große Interesse erkläre sich aus der Berühmtheit der Autorin und der Aktualität des Romaninhalts. Die Romanfiguren – Corinna, die unabhängig lebende und als geniale Poetin in Italien gefeierte Tochter einer Italienerin und eines Engländers, und Lord Oswald, der seinem verstorbenen Vater verpflichtete Sohn aus englischem Adel – durchleben und verhandeln Existenzweisen, Konflikte, Hoffnungen und Enttäuschungen ihrer großen, ins Unglück führenden Liebe. Ihr Verlangen nach inniger Liebesehe scheitert an den Unvereinbarkeiten, die ihnen gemäß Stand, Religion, Nation je anders als Frau und als Mann für sehr verschiedenartige Traditionen, Bestimmungen und Lebensstile eingeprägt worden sind. Indem die Autorin anhand geltender Rechtsnormen, durchlebter Konflikte einzelner Frauen und Männer, weiteren Diskursbeiträgen die geschichtlichen Hintergründe erhellt, wird deutlich, wie vielschichtig und kontrovers der Roman die unter den Gebildeten Europas virulenten Zweifel an herkömmlichen Geschlechter-, Ehe- und Familienverhältnissen formulierte und kommentierte.

Auskunft gibt das Kapitel über Bestand, Geltung und Veränderung der in den Staaten und Regionen Europas sehr unterschiedlich gestalteten, aber Anfang des 19. Jahrhunderts nach wie vor machtvollen Einhegungen von Liebe, Heirat und Ehe durch staatliche Gesetze, kirchliche Bestimmungen sowie Regeln von Anstand und Sitte. Es gab Heiratsverbote. Die vor der Zivilehe allein zuständigen Kirchen und Religionsgemeinschaften verweigerten Trauungen zwischen Christen und Nichtchristen, bisweilen auch Katholiken und Protestanten; vor Ort stießen interreligiöse Ehen auf Misstrauen und Abwehr. Um 1800 waren kirchliche Verbote von Verwandtenehen bereits eingeschränkt. Heiraten unter nahen Verwandten wurden zwecks Besitz- und Statussicherung häufiger. Für Menschen ohne Besitz und berufliche Ausbildung, die fern ihres Heimatortes ihren Unterhalt verdienten, aber verschlechterten sich die Eheaussichten, wenn Gemeinden und Staaten mit Heiratsverboten den Zuwachs der Armutspopulation abzuwehren hofften, obwohl mehr Konkubinate und uneheliche Kinder die als Sittenverfall gedeuteten Folgen waren. Innerhalb der Familien behauptete sich die patria potestas als Ordnungsmacht. Vorehelicher Geschlechtsverkehr war unzulässig. Söhne und Töchter durften vor Erreichen des hohen Mündigkeitsalters nur mit Zustimmung des Vaters heiraten. Kinder und zumal Töchter, die gegen den Willen des Vaters eine Heirat durchsetzten oder eine arrangierte Heirat ablehnten, gefährdeten ihren Anspruch auf Unterhalt und Erbe. Monogamie und Heterosexualität blieben als Normen unangefochten und zwar selbst in den von Edith Saurer als „Reformprogramm“ und Diskurse über „Liebe als kognitive Kraft“ (S. 47) untersuchten zahlreichen Traktaten über Geschlechterliebe und Liebesordnung des frühen 19. Jahrhunderts. Das erste Kapitel endet mit einem durch Genauigkeit und stimulierende Beobachtungen ausgezeichneten Überblick über Bestand und Wandel der in Europa via Erbrecht, tradierte Vererbungspraxis, Eheverträge, Ehegüterrecht, Mitgift institutionell extrem unterschiedlich verfassten und seitens der Familien und Verwandtschaften von Generation zu Generation nachhaltig bewirtschafteten Ordnungen des Besitzes – der entscheidenden Grundlage für Arbeit-Liebe-Ehe-Geschlechterbeziehungen.

Wie im ersten, so gestaltet Edith Saurer auch in den vier weiteren Kapiteln ein an Informationen, Facetten gelebten Lebens, Interpretationen und historischen Einordnungen ungemein reichhaltiges Bild dessen, was in den verschiedenen Regionen Europas wirksam wurde an Voraussetzungen, Herausforderungen, Folgen des historischen Wandels und dessen Tendenz, Menschen als Einzelne frei zu stellen. Sie berichtet, wie einzelne Menschen und Gruppen mit verschiedenartigen Zuständigkeiten, Verantwortungen, Ressourcen sehr unterschiedlich agierend und reagierend gegebene Verhältnisse zu bewältigen, zu nutzen, abzuwehren suchten. Im zweiten Kapitel geht es um Arbeit, untersucht als komplizierte Bilanzierung von Erwerbs- und Familienarbeit bei hoher Akzeptanz geschlechtsspezifischer Arbeitsteilungen, herausgefordert durch neuartige Geburtenplanung und Kinderpflege und gefährdet oder zum Besseren gewendet durch ausgeweitete Migrationsbewegungen. Das dritte Kapitel berichtet über intensivierte Kritik der Ehe- und Liebesverhältnisse Ende des 19. Jahrhunderts, über Sexualwissenschaften und die im Krieg verschärften Geschlechterkonflikte. Das vierte Kapitel fokussiert für die Zeit bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs den gewaltsamen Kampf gegen „Vermischungen“ und für einen erbgenetisch und rassisch gereinigten „Volkskörper“. Das fünfte Kapitel, überschrieben als „Die Zeit der Versprechungen“, beschließt die geschichtswissenschaftlichen Erkundungen der hochkomplexen Liebe-Ehe-Arbeit-Geschlechterverhältnisse mit einer kritischen Sichtung der nach 1945 auf die Agenda gelangten Neuordnungen, Emanzipationsschritte, ambivalenten Diskurse, globalisierten Bewegungen.

Edith Saurer hat über Jahre an ihrem Buch gearbeitet, zuletzt im Wissen um den nahenden Tod. Mit dem Rückhalt ihrer eigenen reichhaltigen Forschungen zum Thema vertraute sie auf das Gelingen ihres grandiosen Vorhabens, die verstreuten Erträge der jahrzehntelang breit ausdifferenzierten internationalen Forschungen zusammen zu führen, zu reflektieren und als Übersicht und zugleich eigenständige historische Argumentation aufzuschreiben. Nun liegt das außergewöhnlich kreativ gestaltete anregende Buch vor. Das Manuskript blieb im April 2011 unvollendet. Margareth Lanzinger hat, beauftragt von Edith Saurer, mit großer Umsicht die posthume Veröffentlichung des Buches ermöglicht. Ihr ist dafür und für ihre kluge Entscheidung zu danken, anhand der vorliegenden Notizen nur zu berichten, was Edith Saurer im fehlenden letzten Abschnitt des fünften Kapitels vermutlich hätte niederschreiben wollen, und keine Spekulationen anzubieten zu Edith Saurers Überlegungen für einen zusammenfassenden Schluss. Es ist gut, auf diese Weise den Edith Saurer aufgezwungene Abbruch offen zu legen. Ihr Buch ist unvollendet und Vermächtnis. Edith Saurer hat sich in die Geschichte ihres Faches eingeschrieben als neugierige, kritische und kreative Historikerin, umsichtige Wegbereiterin, wissenschafts- und hochschulpolitische Kämpferin. Für sie war das Erreichte stets Etappe.

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