: Religion, Nation, Krieg. Der Lutherchoral _Ein feste Burg ist unser Gott_ zwischen Befreiungskriegen und Erstem Weltkrieg. Münster 2014 : Waxmann Verlag, ISBN 978-3-8309-2901-7 350 S. € 34,90

: Berliner Friedenspfarrer und der Erste Weltkrieg. Ein Lesebuch. Freiburg 2013 : Centaurus Verlag, ISBN 978-3-86226-197-0 248 S. € 24,80

: Seelsorge, Frömmigkeit und Kriegserfahrungen im Ersten Weltkrieg. Feldpost an den Pfarrer zu Brochterbeck. Münster 2013 : Dialogverlag, ISBN 978-3-941462-78-6 226 S. € 14,80

: Der Erste Weltkrieg und die Christenheit. Ein globaler Überblick. Stuttgart 2014 : Kohlhammer Verlag, ISBN 978-3-17-022653-1 164 S. € 24,90

: Die Katholische Kirche im Ersten Weltkrieg. Zwischen Nationalismus und Friedenswillen. Regensburg 2014 : Pustet, ISBN 978-3-7917-2581-9 216 S. € 22,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Gerster, Centrum für Religion und Moderne, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs jährte sich im vergangenen Jahr zum hundertsten Mal und gab Anlass für eine unüberschaubare Welle an Publikationen zum Thema: von den vieldiskutierten Monumentalwerken von Christopher Clark und Herfried Münkler bis hin zu unzähligen schmaleren Überblicksdarstellungen. Im Zentrum nicht weniger der in Deutschland erschienenen Schriften stand dabei der Versuch, die politischen, diplomatischen und militärischen Geschehnisse minutiös nachzuzeichnen, um so eine Erklärung dafür zu liefern, wer eigentlich die Schuld am Kriegsausbruch trägt. Lucian Hölscher hat diese Debatte jüngst zu Recht als eine überkommene „Scheindebatte“ bezeichnet, bei der nach dem „moralische[n] Versagen“ anstatt nach der „Verantwortung [für die] Folgen einer Handlung“ gefragt würde.1 Den Grund für die argumentative Verlagerung sieht Hölscher in den Schrecken des Krieges, die ein bis dahin nicht gekanntes Ausmaß angenommen und sich tief in die kollektive Erinnerung eingegraben hätten. Folgt man dieser Argumentation, stellt sich im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg in erster Linie die Frage, wie es den Zeitgenossen möglich war, die bis dahin unvorstellbare Gewaltsamkeit des Krieges argumentativ zu rechtfertigen und emotional zu bewältigen. Eine solche Fragestellung lenkt den Blick geradewegs auf das Phänomen der (christlichen) Religion, die sich in der Geschichte immer wieder als ein wirkmächtiges Instrument kollektiver und individueller Sinnstiftung erwiesen hat. Im Anschluss an das bisher Gesagte kann sich aktuelle Forschung zum Verhältnis von Religion zu Krieg, Konflikt und Gewalt allerdings nicht länger darin erschöpfen, konkrete Rechtfertigungsversuche des Kriegsgeschehens durch Theologen und Kirchenführer zu rekonstruieren. Sie hat vielmehr auch grundlegende Fragen nach der Beziehung zwischen Religion und Gesellschaft zu stellen, beispielsweise welche Möglichkeitsräume religiöse Semantiken und Praktiken für den Einzelnen, aber auch für verschiedene soziale Gruppierungen eröffneten, um Gewalt in diesem Ausmaß auszuüben oder zu verhindern, zu verarbeiten oder zu verdrängen.

Im Kontrast zu der aufgeworfenen Forschungsperspektive beschränkt sich Martin Lätzel in geradezu klassischer Weise darauf, führende Vertreter der katholischen Kirche in Deutschland und einige Politiker des Zentrums zu Wort kommen zu lassen. Seine „historisch-theologische Lesereise“ ist allerdings von Anfang an auch nicht darauf angelegt, „neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu präsentieren“ (S. 10). Lätzel zeigt sich grundsätzlich gut informiert, wenn er sich nach einer kurzen Einleitung mit der Situation der katholischen Kirche vor dem Ersten Weltkrieg, ihrer Haltung in der Frühphase des Krieges und den katholischen Rechtfertigungs- und Verteidigungsversuchen beschäftigt und in einem Exkurs die Besuche deutscher Bischöfe an der Front nachzeichnet. Ein personenzentrierter Zugriff ermöglicht Lätzel in diesen Kapiteln – ebenso wie im Abschnitt über die päpstlichen Friedensbemühungen – einen anekdotenhaften Erzählstil, den er mit zahlreichen längeren Quellenzitaten und ausgewählten Bildern anreichert und der dem Leser eine einfache Lektüre ermöglicht. Konsequenterweise, aber dennoch etwas bedauerlich, wird der Fokus auf die Geistlichen auch in den Kapiteln beibehalten, die sich mit der Situation an der Front auseinandersetzen. Als Quellen verwendet Lätzel hierbei Predigten und Berichte von Militärseelsorgern, vor allem der Feldpröbste von Preußen und Bayern, Heinrich Joeppen und Michael von Faulhaber. Sie dienen ihm dazu, die inzwischen hinlänglich bekannten kirchlichen Argumentationsmuster beispielsweise von Krieg als einer „Strafe Gottes“ (S. 104) und als „Erzieher“ (S. 107) nachzuerzählen. Leider nur am Rande schneidet Lätzel hier auch weniger bekannte Themen wie eine Kinderpredigtvorlage von 1915, in der den Kindern eine Mitschuld am Krieg zugewiesen wird (S. 106), oder die Vorstellung einer ökumenischen Mahlgemeinschaft der Kaiser von Deutschland und Österreich-Ungarn (S. 113) an. Beide Phänomene würden eigentlich dazu einladen, weiterführende Überlegungen zur gesellschaftlichen Rolle von Religion während des Ersten Weltkriegs anzustellen.

Das eigentliche Problem der Darstellung von Lätzel liegt aber weniger in ihrem sehr konventionellen, institutionen- und personenzentrierten Zuschnitt als vielmehr in der daraus resultierenden These, dass der Erste Weltkrieg letztlich einen wesentlichen Modernisierungsschub für die katholische Kirche in Deutschland bewirkt habe. Ein solches Fazit leitet sich zum einen aus der aus heutiger Perspektive formulierten normativen Prämisse ab, dass „sich die Kirche nie mit den Herrschenden gemein machen sollte und eine ihrer Lehre gemäßen kritischen Distanz zu Staat und Gesellschaft bewahren sollte“ (S. 200). Zum Zweiten liegen einer solchen Schlussfolgerung unzureichende Begriffsverständnisse von ‚Moderne’ und ‚Modernisierung’ zugrunde. Unter letzterem wird beispielsweise, ohne dass eine Definition tatsächlich vorgenommen würde, eine scheinbar linear verlaufende funktionale Differenzierung der Gesellschaft verstanden, auf die kirchliche Organisationen lediglich reagieren konnten. Drittens begründet sich Lätzels Sichtweise aus der Tatsache, dass entscheidende Literatur zur Entwicklung der katholischen Gemeinschaft in Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert nicht zur Kenntnis genommen wird. Dies gilt beispielsweise für Thomas Mergels Arbeit zum katholischen Bürgertum oder Olaf Blaschkes Studien zum Verhältnis von Katholizismus und Antisemitismus.2 Dass der Autor am Ende überhaupt zu seiner These gelangt, liegt nicht zuletzt daran, dass er sich im letzten Kapitel mit den dynamischen Entwicklungen der Jugendgruppe Quickborn und der Liturgischen Bewegung beschäftigt und diese mit der scheinbaren Reaktivität der Institution Kirche kontrastiert. Inwiefern dabei der Erste Weltkrieg und die durch ihn verursachten Gewalterfahrungen tatsächlich treibende Kräfte der Entwicklung waren, oder andere Ursachen vorlagen, bleibt anhand des präsentierten Materials allerdings offen. Daraus sogar zu schlussfolgern, dass der „von den Zeitgenossen als bedrohliches Unglück empfunden[e]“ Weltkrieg sich „auf lange Sicht als notwendiger Umbruch“ (S. 200) erwies, klingt fast schon zynisch.

Lätzels einseitiger Sicht auf die Entwicklung der katholischen Kirche in Deutschland hätte sicherlich eine Einordnung in globale Zusammenhänge gut getan, wie sie erklärtes Ziel der knappen Überblicksdarstellung von Martin Greschat ist. Der Emeritus der Kirchengeschichte eröffnet das Bändchen mit einer glänzend informierten Einleitung, die verschiedene Fragestellungen und Spannungsfelder einer solchen „Skizze der globalen Herausforderungen, vor die sich die Kirchen und christlichen Gemeinschaften“ (S. 13) durch den Ersten Weltkrieg gestellt sahen, benennt. Dazu zählt einerseits eine Problematisierung bisheriger geschichtswissenschaftlicher Arbeiten, in denen die Rolle von christlicher Religion und Kirche vor allem aus nationaler Perspektive untersucht wurde. Greschat streicht dagegen bereits eingangs die globale Dimension des Phänomens, gerade auch während des Weltkrieges, heraus, indem er auf die Mobilität von Soldaten und Arbeitskräften verweist. Auf der anderen Seiten setzt er sich intensiv mit neueren kulturgeschichtlichen Ansätze auseinander. Wichtig sei es, so Greschat, zwischen den „im Krieg propagierten Leitbildern“ und der „Frage nach ihrer anhaltenden oder auch abnehmenden Überzeugungskraft“ (S. 10) zu fragen. Ein solches Forschungsprogramm setzt er im Folgenden von Fall zu Fall in unterschiedlicher Intensität um. Ein sehr gelungenes Beispiel bildet in dieser Hinsicht das Deutsche Reich. Greschat gelingt hier auf wenigen Seiten eine äußerst differenzierte Darstellung der verschiedenen religiösen Traditionen von Protestanten, Katholiken und Juden, die eine gemeinsame Wahrnehmung und Beurteilung des Krieges erlaubten und damit zum sogenannten ‚Burgfrieden’ beitrugen. Zugleich geht er über Differenzen und Spannungen nicht hinweg und gleicht am Ende die kirchenoffiziellen Deutungen noch mit deren Wirkung bei der Bevölkerung, und insbesondere an der Front, ab. Diesbezüglich gelangt er zu dem Fazit, dass „[w]er sich vor dem Krieg als bewusster Christ wusste, […] es in der Regel auch während des Krieges [blieb]. Und wer es nicht war, kam durch das Erlebnis des Krieges zumeist nicht zum christlichen Glauben“ (S. 12).

So umsichtig die Darstellung von Greschat in Bezug auf das deutsche Beispiel ist, es verweist zugleich auf die Schwachstellen der Studie. Sie liegen vor allem darin begründet, dass das eingangs beschriebene Phänomen der globalen Herausforderungen letztlich nur selten im Sinne einer globalen Vernetzung und Verflechtung untersucht wird. Stattdessen geht der Autor additiv vor, indem er die Entwicklung christlicher Religion in einzelnen Nationen und Regionen nach- und nebeneinander beschreibt. Sie werden in aufeinanderfolgenden Kapiteln zusammengefasst, die zunächst einen Reigen durch die verschiedenen europäischen Akteurszentren – die Kriegsteilnehmer in Mittel- und Ostmitteleuropa, den südeuropäischen Kriegsschauplatz und die ‚Neutralen’ – bilden. Danach wenden sie sich außereuropäischen Gebieten zu, wobei die USA ein eigenes Kapitel neben Asien und Afrika erhalten. Leider nur an wenigen Stellen wird der schematische Rundgang um den Globus durchbrochen. Wo dies allerdings geschieht, schildert Greschat aufschlussreich Beziehungsgeschichten zwischen Religionen, Nationen, Menschen vor Ort und ‚aus der Fremde’. So gelingt ihm beispielsweise eine spannende Erzählung von der konfliktreichen Entstehung der Balkanstaaten im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in der nicht nur das enge „Miteinander von säkularen und orthodox-christlichen Kräften“ (S. 59) anschaulich zutage tritt, sondern auch die daraus resultierenden Spannungen mit dem Islam beschrieben werden. Vergleichbar beeindruckend schildert der Autor die Konflikte zwischen den sich emanzipierenden christlichen Konfessionen in Afrika und dem anhaltenden Einfluss europäischer Missionare. Im Ergebnis kommt er hierbei, insbesondere mit Blick auf den Protestantismus, zu der Einschätzung, dass eine „Verschiebung des Christentums weg von Europa hin zu anderen Kontinenten“ (S. 151) stattgefunden habe. So spannend diese und andere Einsichten sind, letztlich bleibt beim Leser der Eindruck zurück, dass Greschat eine Geschichte der christlichen Religion während der Zeit des Ersten Weltkrieges geschrieben hat, aber keine, die sich mit dem Krieg und seiner Gewalthaftigkeit beschäftigt.

Texte von und über protestantische Pfarrer, die sich während des Ersten Weltkriegs dezidiert mit der Gewaltfrage auseinandergesetzt und daraus ein intensives Friedensdenken und -engagement begründet haben, versammelt das ‚Lesebuch’ von Karlheinz Lipp. Die Quellensammlung reiht sich in eine Liste von Veröffentlichungen des Autors zum Friedensthema ein und ist ähnlich wie diese aufgebaut3: Auf eine kurze Hinführung folgen nach Themen geordnete Quellenauszüge, die meist durch kurze Einführungstexte kontextualisiert werden. Am Ende stehen ein umfangreiches Literaturverzeichnis sowie ein Personenregister, die den Leser zur weiteren Lektüre und Recherche anregen sollen. Lipp gelingt dabei im Fall des vorliegenden Bandes, der sich mit den Texten und Aktivitäten von Berliner Pfarrern im Umfeld der Deutschen Friedensgesellschaft beschäftigt, eine interessante und vielschichtige Zusammenstellung verschiedener Quellen. Die Bandbreite reicht von Predigtvorlagen und Vorträgen bis hin zu Zeitungsartikeln aus verschiedenen kirchlichen und nicht-kirchlichen Medien. Mit seiner Auswahl wirkt der Autor der Gefahr entgegen, lediglich kirchliche Höhendiskurse abzubilden. Dazu trägt auch bei, dass er das Material immer wieder in Bezug zu den sozialen Kontexten stellt, beispielsweise wenn er darauf verweist, dass sich einer Friedensresolution, die 1913 an protestantische Pfarrer und Theologen im ganzen Reich verschickt worden war, lediglich 395 Geistliche anschlossen, wobei deren Zahl sich allein in Preußen auf 18.000 belief. Ordnet der Band die Quellen den sozialen Gegebenheiten zu, so lässt er auf der anderen Seite bisweilen ein Gespür für semantische Fragen vermissen. Unbeantwortet bleibt zum Beispiel die Frage, ob der auch im Titel verwendete Begriff „Friedenspfarrer“ ein Quellenbegriff ist oder nicht. Auf der anderen Seite lässt die starre Binarität zwischen Krieg und Frieden, die dem Band implizit zugrunde liegt, eine begriffliche Einordnung von ambivalenten Haltungen nur sehr bedingt zu. Ein solches kommt beispielsweise in der Person Walter Nithack-Stahns zum Vorschein, von dem für die Jahre 1914/15 durchaus widersprüchliche Äußerungen bekannt sind (S. 119/120).

Wie sehr religiöse Semantiken und Praktiken ambivalente Anwendung finden konnten, belegt das Buch von Maren Chaoui. Bei dem Werk handelt es sich um eine an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster entstandene Staatsexamensarbeit, die, wie die Herausgeber Hubert Wolf und Thomas Flammer in ihrem Vorwort formulieren, „nicht in der Schublade verstauben“ (S. V) sollte. Und das mit gutem Recht! Denn die Arbeit besticht nicht nur durch die unglaubliche Leistung von Chaoui, 123 Feldpostkarten und einige Briefe, die in den Jahren 1914 bis 1916 an den Pfarrer der katholischen Gemeinde Brochterbeck in Westfalen geschickt worden waren, gewissenhaft transkribiert und ediert – und damit dem Leser zugänglich gemacht zu haben. Die Studie erkundet anhand des Kommunikationsraums, den die Feldpost zwischen den katholischen Soldaten an der ‚Front’ und der ‚Heimat’ – zunächst in Gestalt des Pfarrers, aber über diesen auch mit der weiteren Gemeinde und den Familien – eröffnete, die „komplexe[n] Erfahrungs- und Lebenszusammenhänge einzelner Menschen im Krieg“ (S. 1). Im Zentrum stehen dabei Fragen nach Möglichkeiten und Grenzen der Seelsorge, Formen der ‚Volksfrömmigkeit’ und der Rolle von Religion bei der Bewältigung von Kriegserfahrungen. Chaoui gelingt es mithilfe ihres Materials anschaulich zu machen, dass der Krieg in den meisten Bereichen des alltäglichen Lebens zunächst eine „Symbiose von nationaler Begeisterung und religiöser Euphorie“ (S. 36) auslöste. Sie kam nicht nur in einer religiösen Aufladung der verwendeten Semantiken zum Vorschein, sondern gerade auch in einer veränderten religiösen Praxis, an der Front wie auch in der Heimat. So lässt sich zum Beispiel nachweisen, dass sich die Zahl der Kommuniongänge in den ersten Kriegsjahren verdoppelt hat, weil Angehörige diese stellvertretend für die Soldaten vollzogen. An der Front wiederum erfüllten Gottesdienste und Sakramente häufig die Funktion von „Beruhigungsmittel“ (S. 36). In beiden Fällen ist bereits angedeutet, dass Religion und ihre Praktiken nicht nur gewaltlegitimierend wirkten, sondern auch eine Kompensations- und Trostfunktion erfüllten; und zwar scheinbar umso mehr je länger der Krieg andauerte und als sinnloser Gewaltexzess wahrgenommen wurde.

Insgesamt bestätigt Chaoui mit ihrer gut lesbaren Studie Ergebnisse, die anderenorts, beispielsweise im Tübinger Sonderforschungsbereich ‚Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit’4, bereits früher formuliert worden waren und auf die in den Schlussbemerkungen verwiesen wird. Dabei beschränkt sich die Arbeit dort, wo sie nicht minutiös die Feldpost der Brochterbecker Soldaten analysiert, häufig darauf, wohl ausgewählte Sekundärliteratur zusammenzufassen und wiederzugeben. Das gilt beispielsweise für die Darstellung des katholischen Priesterideals und der kirchlichen Seelsorgeaufgaben vor und während des Ersten Weltkriegs (S. 38–46). Das mag den fortgeschrittenen Wissenschaftler enttäuschen, kommt aber stringenter daher als Ausführungen mancher Doktorarbeiten und entspricht dem Anspruch der Herausgeber, dass die in der Reihe ‚Forum Junge Geschichte’ publizierten Studentenarbeiten letztlich nicht dem vollen wissenschaftlichen Anspruch entsprechen können – und müssen. Dass zeigt sich in der vorliegenden Arbeit weiterhin auch, in der bisweilen verkürzten methodischen Unterfütterung sowie in der fehlenden kritischen Auseinandersetzung mit verwendeten Theoremen. So wäre es durchaus interessant gewesen zu fragen, inwiefern die von Isa Schikorsky übernommenen, für Feldpost typischen Sprachhandlungsstrategien in den untersuchten Quellen tatsächlich angewendet wurden5. Zu diskutieren wäre schließlich auch, inwiefern die von Chaoui gewählten Fragestellungen wesentliche Ergebnisse ihrer Arbeit vorherbestimmten. Denn ihrer Ansicht nach „begründete der Krieg die Haltung einer Friedens- bzw. Heimatsehnsucht, welche in der Hinwendung zu Gott […] resultierte“ (S. 106/107). Somit erwies sich der „Krieg als enorme Antriebskraft von Frömmigkeit“ (S. 113). Eine solche Einschätzung steht der oben von Greschat geäußerten Schlussfolgerung, der Krieg hätte letztlich keine nachweisbare Veränderung der persönlichen Religiosität bewirkt, diametral entgegen.

Die „Kinderkrankheit[en]“ (S. V), unter denen Chaouis Arbeit bisweilen noch leidet, sind dem letzten hier zu besprechenden Buch fremd. Michael Fischer, Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Populäre Kultur und Musik der Albert-Ludwig-Universität Freiburg, beschäftigt sich in seiner Studie, die 2013 an der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen wurde, zwar lediglich mit einem einzigen Lied, dem Choral ‚Ein feste Burg ist unser Gott’. Seine Untersuchung entpuppt sich in ihrer interdisziplinären und multiperspektivischen Anlage jedoch als eine beeindruckende Wirkungsgeschichte des „von Martin Luther als Glaubens- und Vertrauenslied gedichtet[en]“ (S. 9) Kirchengesangs. Fischer konzentriert sich zu diesem Zweck auf die „nationale und bellizistische Aneignung des Liedes“ (S. 9) vom 19. ins frühe 20. Jahrhundert, mit Schwerpunkten auf den antinapoleonischen Befreiungskriegen, der Umwidmung Luthers zu einem „deutschen Heros“ (S. 147) während der Zeit der Reichseinigung und schließlich der Verwendung des Chorals während des Ersten Weltkriegs. In einer eingängigen und konzisen Darstellung erzählt er in weiten Teil die Geschichte eines Liedes, das „seiner religiösen Qualität […] nicht entkleidet [wurde]“, sondern vielmehr zur „religiösen Überhöhung des Nationalen“ (S. 10) beitrug. Der Choral diente häufig, so wird ersichtlich, „nach außen […] als Kriegsgesang“ und „nach innen verband [er] die Forderung nach politisch-staatlicher Einigung“ (S. 41), wobei die äußeren Feinde je nach Situation Franzosen, Katholiken oder Juden sein konnten. Zusätzlich zu dieser fast schon erwartbaren Genese blickt die Studie auch auf alternative Deutungen des Liedes, etwa bei der deutschen Arbeiterbewegung oder den Sozialdemokraten. Sie verwendeten die „Marseiller Hymne der Reformazion“ (S. 69), wie Heinrich Heine den Choral einmal bezeichnet hatte, als ein „Schlachtlied“ (S. 78), in dem eigene Gesellschaftsvorstellungen mit urchristlichen oder reformatorischen Idealen verknüpft wurden. Christus wurde hierbei nicht selten zum ersten Sozialisten.

In methodischer und theoretischer Hinsicht ordnet Fischer seine Arbeit in vier Forschungstraditionen ein, die er allerdings in der sehr knapp gefassten Einleitung nur anreißt. Sie kommen letztlich erst in der Schlussbetrachtung voll zum Tragen, in der er die Ergebnisse seiner chronologisch angelegten Studie in die verschiedenen Debatten einordnet. Es lohnt sich daher gegebenenfalls bei der Lektüre des Buches hinten zu beginnen. An erster Stelle setzt sich Fischer mit dem literaturwissenschaftlichen Ansatz der Rezeptionsästhetik auseinander, der von dem Mainzer Germanisten Hermann Kurzke maßgeblich in die Hymnologie eingebracht wurde und auf den Fischer sich in seiner Arbeit wiederholt bezieht. Mithilfe dieses Instruments lasse sich nachweisen, dass die Fortschreibung des Chorals nicht zufällig geschehen sei, sondern maßgeblich durch Literaten sowie staatliche und religiöse Institutionen vorangetrieben wurde. Dabei handelte es sich vor allem um Vertreter des sogenannten ‚Nationalprotestantismus’, in dessen Entwicklung der Autor die Genese des Kirchengesangs im Folgenden einordnet. Im Anschluss an Beobachtungen von Friedrich Wilhelm Graf schlussfolgert Fischer, dass ‚Ein feste Burg ist unser Gott’ als Teil „religiöser Sprachmuster“ half, eine „unbedingte Opferbereitschaft“ (S. 215) zu begründen, die besonders während des Ersten Weltkriegs ihre Wirksamkeit entfaltete. Im Anschluss an diese Überlegungen setzt sich der Autor schließlich auch noch mit dem literaturwissenschaftlichen Konzept eines apokalyptischen Endzeitgerichts und Funktionszuschreibungen von Religion, wie sie die Soziologen Hubert Knoblauch und Franz Xaver Kaufmann in ihren Arbeiten vornehmen, auseinander. Im Großen und Ganzen versteht es Fischer in seiner Rundschau, die Ergebnisse seiner Arbeit in die wichtigsten Forschungsdebatten zum Thema Religion, Nation und Krieg einzuordnen. Zwar hätte man sich an manchen Stellen gewünscht, dass er auf wichtige Kontroversen, beispielsweise die soziologische Diskussion um den Religionsbegriff, stärker eingegangen wäre. Insgesamt gelingt es ihm aber, eine umfassende „Wirkungsgeschichte des literarischen Texte“ (S. 18) zu schreiben, die, gerade mit Blick auf den Ersten Weltkrieg, detailliert nachzeichnet, wie religiöse Semantiken und Praktiken dazu verwendet werden konnten, Gewalt auszuüben oder zu verhindern, zu verarbeiten oder zu verdrängen.

Obwohl die besprochenen Werke vermutlich keinen repräsentativen Querschnitt der aktuellen Forschung zum Thema Religion und Erster Weltkrieg darstellen, ermöglicht ihre kritische Besprechung doch, alte Gewohnheiten und neue Ansätze aufzudecken. Gleichzeitig lassen sich in der Gesamtschau vorhandene Forschungslücken und gegenwärtige Forschungsfragen erkennen, von denen hier nur die wichtigsten drei noch einmal Erwähnung finden sollen. Erstens muss Forschung zum Verhältnis von Religion und Krieg offen sein für die Polyvalenzen religiöser Semantiken und Praktiken im Umgang mit Gewalt und Konflikt. Längst überkommen sind in dieser Hinsicht Versuche, Religion lediglich in ihrer kriegslegitimierenden Dimension wahrzunehmen. Solche Überlegungen, die meist auf eine unzulängliche Rezeption der Arbeiten von Jan Assmann zum Verhältnis von Monotheismus und Gewalt rekurrieren6, verkürzen die Sichtweise auf ‚das Religiöse’ und helfen nur leidlich, die Rolle von Religionen in konflikthaften Situationen zu verstehen. Zum Zweiten wurde deutlich, dass sich Forschung zum Thema nicht länger damit begnügen kann, Krieg als ein Elitenprodukt, sei es der Regierungskabinette oder im vorliegenden Fall der kirchlichen Hierarchien und Theologen, zu verstehen. Stattdessen gilt es, verschiedene soziale Gruppen in den Blick zunehmen, da der Krieg ein gesamtgesellschaftliches Ereignis war, das auch und gerade auf die Bevölkerung in den Städten und auf dem Land zurückwirkte. Neben der Erschließung neuer Quellen, die mit der Erforschung von Feldpostbriefen eingeläutet wurde, geht es in diesem Zusammenhang auch darum, bekannte Grenzen sozialer Gruppenbildung, beispielsweise durch interkonfessionelle oder transnationale Arbeiten, in Frage zu stellen. Schließlich haben die besprochenen Werke drittens gezeigt, wie wichtig es ist, die zeitliche Perspektive des Verhältnisses von Religion und Erstem Weltkrieg nicht aus dem Auge zu verlieren. Dies betrifft einerseits die Frage, inwiefern sich die Verwendung von religiösen Semantiken und Praktiken im Verlauf des Krieges selbst verändert hat. Zum anderen aber gilt es vor allem die mittel- und langfristigen Folgen des Krieges und seiner Gewalterfahrungen auf die Stellung und Entwicklung von Religion in der Gesellschaft in den Blick zu nehmen. Die hier besprochenen Autoren sind in dieser Hinsicht zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen gelang, sodass letztlich die Frage, inwiefern der Erste Weltkrieg tatsächlich auf das religiöse Leben in Deutschland eingewirkt hat, noch immer unbeantwortet scheint.

Anmerkungen:
1 Lucian Hölscher, Der Geschichtsbruch von 1914. Vortrag im Ruhr-Museum Essen am 1. Juli 2014, URL: <http://www.ruhr-uni-bochum.de/lehrstuhl-ng3/publikationen/hoelscher/DerGeschichtsbruchVon1914.pdf> (15.12.2014), Zitate S. 2 und 4.
2 Vgl. Thomas Mergel, Zwischen Klasse und Konfession. Katholisches Bürgertum im Rheinland 1794–1914 (Reihe Bürgertum 9), Göttingen 1994 und Olaf Blaschke, Katholizismus und Antisemitismus im Deutschen Kaiserreich (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 122), Göttingen 1997.
3 Zu nennen ist vor allem die erstklassige Sammlung: Karlheinz Lipp / Reinhold Lütgemeier-Davin / Holger Nehring (Hrsg.), Frieden und Friedensbewegungen in Deutschland 1892–1992. Ein Lesebuch (Frieden und Krieg. Beiträge zur Historischen Friedensforschung 16), Essen 2010. Jüngst erschienen ist: Karlheinz Lipp, Der Friedenssonntag im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Ein Lesebuch, Nordhausen 2014.
4 Der SFB ‚Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit’ bestand von 1999 bis 2008 an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, vgl. <http://www.uni-tuebingen.de/SFB437/F.htm> (18.12.2014).
Die wichtigsten Ergebnisse sind zusammengefasst in: Andeas Holzem (Hrsg.), Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens (Krieg in der Geschichte 50), Paderborn 2009.
5 Vgl. Isa Schikorsky, Kommunikation über das Unbeschreibbare. Beobachtungen zum Sprachstil von Kriegsbriefen, in: Wirkendes Wort 42,2 (1992), S. 295–312.
6 Vgl. Jan Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998.

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