U. Kypta: Die Entstehung des englischen Schatzamtes im 12. Jahrhundert

Titel
Die Autonomie der Routine. Wie im 12. Jahrhundert das englische Schatzamt entstand


Autor(en)
Kypta, Ulla
Reihe
Historische Semantik 21
Erschienen
Göttingen 2014: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
408 S.
Preis
€ 54,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Di Giusto, Historisches Seminar, Universität Zürich

Der Exchequer – das englische Schatzamt – entwickelte sich im Laufe des 12. Jahrhunderts und bestand danach für 700 Jahre. Im Mittelpunkt der von Ulla Kypta 2012 an der Universität Frankfurt am Main eingereichten Dissertation steht das Erkenntnisinteresse an der außergewöhnlichen Kontinuität dieser Organisation und der Frage, wie diese sich im 12. Jahrhunderts konstituierte. Die zentrale These von Kyptas Studie lautet: Der Exchequer entstand aus unhinterfragt, kontinuierlich wiederholten Routineakten – dem Abfassen der sogenannten Pipe Rolls. Dabei wirkte die Fachsprache dieser Dokumente einerseits abgrenzend und gruppenkonstituierend, andererseits bewirkte die Anpassungsfähigkeit der Sprache, dass sich die Organisation an unterschiedliche Rahmenbedingungen anpassen und sich somit selbst reproduzieren konnte. Im Zusammenspiel von Abgrenzungswirkung und Anpassungsfähigkeit institutionalisierte sich der Exchequer als höchst beständige Organisation.

Das Quellenkorpus der Studie bilden in erster Linie die Pipe Rolls des Exchequers: schriftliche Zeugnisse der Abrechnungen, die ab Mitte des 12. Jahrhunderts im Rahmen eines jährlich stattfindenden Abhörprozesses zwischen dem Exchequer und den Sheriffs und anderen Schuldnern entstanden. Das Außergewöhnliche an diesen Dokumenten ist ihre Vollständigkeit; ab dem Jahr 1155/56 sind alle Pipe Rolls durchgängig bis für das Jahr 1831/32 erhalten. Im Vergleich zur bisherigen Forschung zur englischen Verwaltungsgeschichte, die das Entstehen des Exchequer entweder durch strukturelle Gegebenheiten oder durch einzelne, bewusst agierende Akteure zu erklären versuchte, schlägt die Autorin einen methodologischen Mittelweg zwischen Strukturalismus und Subjektivismus ein. Sie fokussiert auf nicht intendierte, habituelle Praktiken und auf selbststrukturierte und -strukturierende Prozesse der Königsverwaltung. Das Analyseinstrumentarium für ihre Untersuchung ist die Historische Semantik. Für einen Zeitraum von rund fünfzig Jahren (die erste Pipe Roll von 1129/30 und die Pipe Rolls von 1155/56–1183/84) erforscht die Autorin Bedeutungszuweisungen in den Pipe Rolls und wie sich diese kontextspezifisch veränderten.

Kyptas Darstellung gliedert sich stringent in sechs Kapitel: Nach der Einleitung in Kapitel 1, die auf Problemstellung, zentralen Thesen der Studie, Forschungsstand, Aufbau und Quellenlage eingeht, folgt in Kapitel 2 zuerst eine Auseinandersetzung mit der Herstellung einer Pipe Roll – also dem Kontext des Abhörprozesses sowie dem Vorgehen bei der Verschriftlichung dieses Prozesses – und anschließend die semantische Analyse mit einer Inventarisierung des semantischen Bestandes. Was die Praxis der Abrechnung anbelangt, ist der Nachweis besonders interessant, dass die Pipe Rolls jeweils eine ergänzte Abschrift ihrer Vorgängerinnen waren und sie somit nicht nur als Protokolle mit archivierender Funktion zu betrachten sind, sondern als selbststrukturierender Bestandteil des Abrechnungsprozesses selbst. Eine Analyse zur Materialität und zum Aussehen der Pipe Rolls veranschaulicht, dass in den Pipe Rolls eine vertikale Hierarchie des Textes fehlt und die Struktur des Dokuments durch ihre horizontale Untergliederung der Posten viel eher der Logik des Abschreibens folgte und somit den Entstehungsprozess einer Pipe Roll reflektiert. Damit nuanciert die Autorin Forschungen, die für das 12. und 13. Jahrhundert einen Paradigmenwechsel postulieren, etwa von Alain Guerreau oder Ivan Illich, wonach sich eine neue Vorstellung vom Text durchsetzte, die den Text als Einheit – gekennzeichnet durch eine vertikale ordinatio der Schrift und der getrennten Imagination von Text und Welt – konzipierte.1

In Kapitel 3 kommt das Deutungsmodell der Fachsprachlichkeit zur Anwendung, um die Art der semantischen Bedeutungszuweisungen zu untersuchen. Überzeugend wird herausgearbeitet, dass die Pipe Rolls einer Fachsprache auf dem Niveau einer Technikersprache unterlagen. Charakterisierend hierfür waren eindeutige Fachtermini, Standardisierungen in Bezug auf Formulierungen, Aufbau und graphische Darstellung sowie Kürze der Sprache (Abkürzungen). Dieses technisch-praktische Wissen konnte nur durch praktische Arbeit erlernt werden und war außerhalb des kleinen Kreises der königlichen Exchequer-Bediensteten schwer zu erlernen und zu verstehen. Signifikant ist die Rekrutierung neuer Mitglieder des Exchequers: Sie stammten nicht aus Schulen, wo Gelehrtenwissen vermittelt wurde, sondern wurden durch Kooptation gewählt. Ihre Erkenntnisse zur Konstiuierung einer Fachsprache setzt Kypta gekonnt in Dialog mit einer anderen zeitgenössischen Quelle: dem sogenannten Dialogus de scaccario. Die bisherige Forschung sah darin ein theoretisches Lehrbuch, mit dem das Schreiben und Verstehen der Pipe Rolls erlernt werden konnte. Im Vergleich zwischen den beiden Sprachen zeigt die Autorin nun, dass nur wer das grundlegende Know-how der Abrechnung bereits erlernt hatte, dem Dialogus detailliertere und implizite Informationen entnehmen konnte. Der Dialogus diente demzufolge der Habitusbildung unter Mitgliedern des Exchequers. Durch die Fachsprachlichkeit der Pipe Rolls und dem im Kreise des Exchequers zu erlernenden Habitus wurde eine Abgrenzung nach Außen erzeugt. Das unbeabsichtigte Resultat dieser Fachsprache war eine Stabilisierung der Abrechnungs- und Verwaltungsstrukturen.

Die Funktionalität der Rechnungssprache wurde indessen durch ein zweites Charakteristikum der Rechnungssprache aufrechterhalten: ihrer Änderungs- und Anpassungsfähigkeit (Kapitel 4). Die Autorin zeigt, wie sich die Pipe Rolls sprachlich kontinuierlich änderten und sich langfristig an veränderte Gegebenheiten anpassen konnten. Kypta deutet die Wandlungsprozesse der Sprache als unintendiert. Nicht einzelne Akteure waren bewusst an einem Entscheidungs- und Veränderungsprozess beteiligt, sondern es agierte ein „diachrones Schreiberkollektiv“ als „bewusstseinslose Selektionsinstanz“ (S. 210). Die Autorin zieht den Analogieschluss, die Anpassungsfähigkeit der Sprache als Evolution zu erklären. Anhand der Begriffe “Variation, Selektion und Stabilisierung“ unterscheidet sie verschiedene Typen von Änderungsverläufen in der Rechnungssprache der Pipe Rolls. Durch Selektionsprozesse konnte die Sprache funktional bleiben und sich somit selbst reproduzieren.

Unter Anwendung der institutionellen Organisationstheorie subsumiert die Autorin anschließend in Kapitel 5 die Resultate aus den vorhergehenden Kapiteln und liefert eine kohärente Interpretation für das Entstehen des Exchequers: Die Kombination aus Abgrenzung und Identitätsbildung mittels Fachsprache einerseits und die Anpassungsfähigkeit der Rechnungssprache andererseits ermöglichte die Bewahrung der Funktionalität der Abrechnungsprozeduren über die Zeit, dabei institutionalisierten sich die praxisorientierten Schreib-Routinen zu einer Organisation um. Gerade weil dieser Prozess ungeplant – und nicht etwa durch die planerische Hand eines Königs oder Gelehrten – vonstattenging, entwickelte sich eine Organisation mit besonderer Stabilität und hoher Legitimität. Abschließend findet sich am Ende des Buches in Kapitel 6 auf wenigen Seiten eine Verortung der neuen Resultate innerhalb der mittelalterlichen Geschichte und nebst einem Tafelteil mit ausgewählten Abbildungen von Passagen der Pipe Rolls auch ein hilfreiches Personen- und Sachregister.

Zu den größten Vorzügen von Ulla Kyptas innovativer Studie gehören methodische und theoretische Versiertheit und Thesenstärke. Der Umgang mit den untersuchten Quellen und die Anwendung des semantischen Analyseinstrumentariums erfolgen geschickt und genau. Kypta schafft es, die abstrakten Ergebnisse ihrer semantischen Analysen auf eingängige und kontextnahe Weise darzustellen. Der Konzepttransfer aus der Theoriebildung vermag meist zu überzeugen (Kapitel 3: Fachsprachlichkeit; Kapitel 4: Evolutionstheorie; Kapitel 5: institutionelle Organisationstheorie). Wegen ihrer Nähe zum Sozialdarwinismus gelten evolutionäre Deutungsmodelle in den Geschichtswissenschaften als höchst problematisch. Kypta ist sich dessen bewusst; sie setzt sich dementsprechend differenziert mit der Theorie auseinander. Überzeugend erscheint der Vorteil eines solchen Modells, weil damit historische Transformations- und Selbstreproduktionsprozesse erklärt werden können. Außerdem kommt das Deutungsmodell nicht auf das Soziale zur Anwendung, wie sie beteuert, sondern lediglich auf Veränderungsprozesse innerhalb von Sprache. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive stellt sich aber die Frage, ob Sprachwandel tatsächlich nur unintendiert stattfindet.2 Ergänzend zu immanenten Ansätzen, zu denen man die Evolutionstheorie zählen dürfte, könnten funktionalistische und soziolinguistische Ansätze etwa die Sicht auf Sprachkontakt-Phänomene oder Know-how-Transfers öffnen. Damit ließe sich der Exchequer als semipermeable Organisation darstellen, die nicht nur durch unintendierte Prozesse geleitet, sondern auch ab und an bewusst durch das Soziale interferiert wurde. Der durchaus innovative Fokus auf evolutionäre Erklärungsmodelle stand dem Einbezug von soziolinguistischen Ansätzen im Wege.

Dieser Einwand ändert nichts daran, dass Ulla Kyptas These und Argumentationen zur Entstehung des Exchequers als Organisation überzeugen. Das Buch ist inspirierend und wird nicht nur der Schriftlichkeitsforschung und der Forschung zu Wissen im Mittelalter neue Impulse verleihen, sondern leistet einen wesentlichen Forschungsbeitrag für die Institutionengeschichte und die Diskussion um Staatsbildungsprozesse.

Anmerkungen:
1 Vgl. Alain Guerreau, Textus chez les auteurs latins du 12e siècle, in : Ludolf Kuchenbuch / Uta Kleine (Hrsg.), »Textus« im Mittelalter. Komponenten und Situationen des Wortgebrauchs im schriftsemantischen Feld, Göttingen 2006, S. 149–178, und Ivan Illich, Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand, Frankfurt am Main 1991.
2 Eine vortreffliche Übersicht zu den Theorien des Sprachwandels findet sich bei Michele Loporcaro, Teoria e principi del mutamento linguistico / Theorien und Prinzipien des Sprachwandels, in: Gerhard Ernst u.a. (Hrsg.), Romanische Sprachgeschichte (RSG), Bd. 3, Berlin 2009, S. 2611–2633.