K. Patel u.a. (Hrsg.): Europe and the Atlantic Community in the 1980s

Titel
European Integration and the Atlantic Community in the 1980s.


Herausgeber
Patel, Kiran Klaus; Weisbrode, Kenneth
Erschienen
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
£ 65.00 / € 79,98
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Ariane Leendertz, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln

Nicht nur die Zeitgeschichte qualmt, so könnte man im Anschluss an ein mittlerweile ubiquitäres Schlagwort des historisch interessierten Feuilletons zu bedenken geben. Ebenso rauchen die Köpfe der Historikerinnen und Historiker, die versuchen, Ordnung in die gegenwartsnahe Vergangenheit zu bringen.

Zwar liegen die 1980er-Jahre, denen sich Kiran Patel und Kenneth Weisbrode in ihrem auf eine Tagung von 2010 zurückgehenden Sammelband widmen, bereits zu einem Teil jenseits der magischen Archivsperrfrist. Das erlaubt einer Reihe von Autorinnen und Autoren, ihre Beiträge in neu erschlossenem Quellenmaterial zu verankern. Wählt man als Thema die europäische Integration und verknüpft diese mit der Geschichte der transatlantischen Beziehungen und des Kalten Krieges, scheinen die 1980er-Jahre zudem mit der deutschen Wiedervereinigung und dem Vertrag von Maastricht einen klar zu definierenden Endpunkt zu haben. Jedoch ist dieser Endpunkt nicht mit einem Fluchtpunkt zu verwechseln, wie die Herausgeber und nahezu alle Beiträge herausstellen. Im Verzicht auf teleologische Versuchungen und gerichtete Narrative liegt die Stärke dieses Bandes, der dadurch einen überzeugenden Eindruck der Überlappungen und Gegenläufigkeiten von Ereignissen und Entwicklungen in der europäisch und transatlantisch ausgerichteten internationalen Politik- und Diplomatiegeschichte der 1980er-Jahre vermittelt.

Leitende Fragen sind den Herausgebern zufolge jene nach den kausalen Zusammenhängen zwischen dem Kalten Krieg beziehungsweise seinem Ende, der Vertiefung der europäischen Integration, der Rolle der USA hierbei und der Entwicklung der europäisch-amerikanischen Beziehungen. Dass am Ende zwar Zusammenhänge sichtbar werden, eindeutige Kausalbeziehungen jedoch letztlich nicht benannt werden können (sofern dies auf der Makroebene historischer Entwicklung und methodisch mit Mitteln der qualitativen Quellenanalyse überhaupt möglich ist), führen die Herausgeber zu Recht auf die Komplexität des Untersuchten zurück.

Der Beitrag von Piers Ludlow illustriert das zunächst mit Blick allein auf die institutionellen Ebenen der transatlantischen Beziehungen in der ersten Amtszeit von Ronald Reagan. Wer diese in historischer Perspektive analysieren möchte, muss erstens die bilateralen Beziehungen zwischen den USA und (je nach Auswahl) den einzelnen europäischen Staaten betrachten, zweitens Interaktionen zwischen den USA und der EG, drittens die multilateralen Beziehungen in den zahlreichen inter- und supranationalen Institutionen wie GATT, OECD und IMF über NATO, UN-Sicherheitsrat und KSZE bis zu G7 – und damit ist dann auch nur die höchste Ebene der politischen Beziehungen abgedeckt. Darüber hinaus müssen Regierungswechsel, politische Mehrheitsverhältnisse und wechselnde individuelle Akteure in den Einzelstaaten berücksichtigt werden, wie besonders der Beitrag von Antonio Varsori über die Bedeutung des Europarat-Gipfels von Mailand 1985 vorführt. Entsprechend zieht sich die Aufschlüsselung von politischen und Akteurskonstellationen durch die Beiträge des Bandes, die der Komplexität des Gegenstandes mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen entgegentreten.

Angela Romano stellt amerikanische und westeuropäische Positionen in den Ost-West-Beziehungen anhand der KSZE-Folgekonferenzen zwischen 1980 und 1983 gegenüber. Traten die Vereinigten Staaten für eine konfrontativere Politik gegenüber der Sowjetunion ein, hätten die westeuropäischen Länder sich mehr für eine Fortsetzung der Détente-Politik ausgesprochen – auch wenn im NATO-Doppelbeschluss auf der Ebene der Sicherheitspolitik der Schulterschluss mit den USA erfolgte. Andererseits weckte Ronald Reagan durch seine neokonservative „Falken“-Attitüde und die unilaterale SDI-Initiative verlässlich einigende antiamerikanische Reflexe in Teilen des linken politischen Spektrums sowie der europäischen Friedensbewegungen, die indes zu Lasten der transatlantischen Kooperation der Friedens- und Anti-Atombewegungen gingen, wie Philipp Gassert und Holger Nehring zeigen.

Zentrales Instrument westeuropäischer Entspannungsbemühungen bildeten die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit Staaten des Ostblocks sowie der Sowjetunion, mit der die Bundesrepublik, Frankreich, Großbritannien und Italien 1981 einen Vertrag über den Bau einer Öl- und Gas-Pipeline von Sibirien über die Tschechoslowakei nach Westeuropa abschlossen. Hiermit befasst sich der Beitrag von Ksenia Demidova. Als die US-Regierung nach der Verkündung des Kriegsrechts in Polen im Dezember 1981 Wirtschaftssanktionen verhängte und Ausfuhrverbote in die Sowjetunion verschärfte, traf dies neben der US-Wirtschaft auch die am Pipeline-Deal beteiligten Europäer. Kompressoren und Turbinen, die sie für den Bau der Pipeline in den Osten liefern wollten, stammten von amerikanischen Firmen wie Caterpillar, General Electric und Dresser Industries, die aufgrund der Sanktionen Verluste im dreistelligen Millionenbereich zu befürchten hatten. Die Kollision von Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen trennte damit nicht nur Europäer und Amerikaner, sondern zog in den USA auch massive Proteste der Business-Lobby nach sich, deren Rolle in der Endphase des Kalten Krieges wesentlich genauer zu untersuchen ist, als es in diesem Band geschehen konnte.

Überhaupt nimmt die (Außen-)Wirtschaftspolitik im gesamten Band eine zentrale Stellung ein, wobei offen bleibt, ob dies eine seit den frühen 1970er-Jahren vollzogene Verschiebung sowohl der europapolitischen als auch der transatlantischen Agenda und Ausrichtung der auswärtigen Beziehungen widerspiegelt: eine zunehmende Überlagerung „klassischer“ Fragen der Außenpolitik und Diplomatie durch wirtschaftliche Themen und Interessen. Verhandlungen zwischen den USA und den am Pipelinebau beteiligten europäischen Staaten überlappten sich mit diversen anderen transatlantischen Handelsdisputen wie etwa im Bereich von Informationstechnologien und Telekommunikation, mit denen sich Arthe van Laer beschäftigt. Duccio Basosi unterstreicht die Auswirkungen der amerikanischen Rezession von 1981–1983 auf verschiedene westeuropäische Staaten und die kritische Haltung vor allem der Bundesrepublik unter Schmidt wie Kohl und Frankreichs unter Mitterrand gegenüber der US-Wirtschaftspolitik. Zwar entwickelten die EG-Staaten diesbezüglich keine einheitliche Position; die Unterzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 interpretiert Basosi jedoch als partielle Antwort Europas auf die Reagonomics und ihre Präferenz für den freien, deregulierten Markt.

Erst zum Ende der 1980er-Jahre habe sich, so Mark Gilbert, dann auch die Wahrnehmung der EG in den USA bedeutend verändert. Nach einer langen Periode der Vernachlässigung von Johnson bis Carter entdeckte der US-Kongress, vermittelt über die amerikanische Presse, die EG als neuen wirtschaftlich und damit zugleich politisch starken internationalen Akteur. Womöglich zeichnete sich somit, und hier drängt sich nun doch die Gegenwart in die historische Deutung hinein, bereits in den 1980er-Jahren die im 21. Jahrhundert in politischer Debatte wie öffentlicher Wahrnehmung verbreitete Gleichsetzung der Europäischen Union mit dem freien Binnenmarkt und der Währungsunion ab. Dasselbe gilt für eine „Normalisierung“ der amerikanisch-europäischen Beziehungen zumindest aus der Sicht der USA. Seit den späten 1980er-Jahren wurde (West-)Europa mehr und mehr zu einem unter vielen gobalen Playern auf den wirtschafts- und geostrategischen Weltkarten multinationaler amerikanischer Unternehmen und Sicherheitsagenturen. Tatsächlich scheint die noch bis vor etwa zehn Jahren mit Verve diskutierte Frage, wie ähnlich Amerika und Europa einander seien, nur mehr als Relikt des 20. Jahrhunderts. Vor diesem Hintergrund fordert die Historisierung der 1980er-Jahre geradezu eine Rehistorisierung auch der 1950er- und 1960er-Jahre, vom Fortschreiben zum Umschreiben, heraus.

Die Forschungsperspektiven, die der Band eröffnet, sind damit vielfältig, jedoch aufgrund der eingangs erörterten Komplexität wohl nur durch die Zusammenführung von Einzelstudien zu realisieren. Wichtigstes Desiderat wird es bleiben, wie Patel und Weisbrode abschließend bemerken, die Zusammenhänge zwischen Kaltem Krieg, transatlantischen Beziehungen und europäischer Integration mit Prozessen der Globalisierung in Bezug zu setzen. Ansatzpunkt könnten hierfür beispielsweise die zahlreichen „trade wars“ zwischen EG und USA sein, betrachtet im Kontext wirtschaftlichen und technologischen Wandels (Finanzialisierung, Digitalisierung, Logistik, Kommunikation, Transport) sowie transnationaler bis globaler wirtschaftlicher Zusammenhänge. Dies führt methodisch weit über diplomatie- und politikgeschichtliche Ansätze hinaus, auch wenn hierzu natürlich noch riesige Quellenbestände ihrer Erschließung harren. Diese sind vielleicht an manchen Stellen doch, und dies sei abschließend als kritisches Wort erlaubt, auf ihre institutionelle Genese und Autoren zu befragen, bevor sie als unumstößliche Belege für historische Fakten zitiert werden. Leitet man europäische Reaktionen auf amerikanische Initiativen aus den Akten des Nationalen Sicherheitsrats der US-Regierung her, spiegelt das eine spezifische, institutionell gerahmte Sichtweise wider. Darüber hinaus ist es zweifelhaft, dass die New York Times und das Magazin Newsweek wirklich als alleinige und verlässliche Quelle für die Positionen europäischer Politiker gelten können (wie etwa auf S. 79–81 des Bandes). Der leichte Zugang zu Pressedatenbanken mit Volltext-Suchfunktion, die mit wenigen Mausklicks einen vermeintlichen O-Ton von Helmut Schmidt ausspucken, ist zwar verlockend, sollte aber nicht dazu verleiten, quellenkritische Mindeststandards zu vernachlässigen. Massenmedien und Journalisten sind, wie dagegen Mark Gilbert in seinem Beitrag vorbildlich zeigt, ebenso als Akteure zu historisieren wie Zeitungsartikel als spezifisches Quellengenre zu reflektieren sind.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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