A. Echterhölter: Schattengefechte

Cover
Titel
Schattengefechte. Genealogische Praktiken in Nachrufen auf Naturwissenschaftler (1710–1860)


Autor(en)
Echterhölter, Anna
Erschienen
Göttingen 2012: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
365 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martina Schlünder, Ludwik Fleck Zentrum am Collegium Helveticum, Eidgenössische Technische Hochschule Zürich

Schattengefechte hat die Kulturwissenschaftlerin Anna Echterhölter ihre Studie genannt, die auf ihrer Dissertation beruht. Darin geht sie genealogischen Praktiken in den Nachrufen von Naturwissenschaftlern zwischen 1710 und 1860 nach. Der Titel evoziert einerseits das Schattenreich der Verstorbenen, andererseits auch das Unterschwellige, das schwer Greifbare von Auseinandersetzungen, die oft implizit in dieser Textsorte zu finden sind.

Zugang zu diesem Schattenreich, der „schwer fasslichen sozialen Dimension der Naturforschung“ (S. 7–8), gewinnt die Autorin anhand von Memorialmedien. Darunter versteht sie Porträts, Nachrufe, Gedächtnismünzen, Medaillen und Orden. Von Interesse ist dabei nicht deren gedächtnisproduzierende Wirkung, sondern ihr genealogisches Potenzial. Unter genealogischen Praktiken versteht sie generell all die Verfahren und Prozesse, in denen es zur Überschreibung von Werten kommen kann (S. 44). Da Memorialmedien soziale Werte an epistemische Grundsätze ankoppeln, eröffnen sie immer wieder Einblicke in die wissenschaftlichen Wertungssysteme, ihre Neusetzungen und Verschiebungen. Als Querbalken bilden sie die Innenstruktur der entstehenden Naturwissenschaften, dienen aber gleichzeitig auch ihrer Außendarstellung. Ihre Untersuchung ermöglicht Erkenntnisse darüber, wie neue wissenschaftliche Methoden und die damit verbundenen Werte und epistemischen Tugenden (wie Genauigkeit und Fehlerverachtung, kausale Rigorosität) auch gesellschaftlich verankert werden konnten.

Konzeptionell vertraut die Autorin auf den Begriff des Denkstils, dem sie in seinen Modifikationen bei Ian Hacking und Arnold Davidson nachgeht. Sie ergänzt zudem das Denkstilkonzept noch um das der „images of knowledge“ aus dem stratifizierten Wissenschaftsmodell von Yehuda Elkana.1 Gerade in diesen sogenannten „Wissensvorstellungen“, verschränken sich „chiastisch“ (S. 330) methodisch-wissenschaftliche Elemente mit gesellschaftlichen Interessen. Dadurch will Echterhölter nicht nur die methodeninternen, sozialen Dynamiken und epistemologische Machtfaktoren untersuchen, die das Denkstilkonzept erfasst, sondern auch die Legitimationsstrategien und die Öffentlichkeitswirksamkeit der Naturwissenschaften erschließen. Gleichzeitig bietet Elkanas Unterscheidung zwischen „Metis“ – der listigen Vernunft – und „epistemischer Rationalität“ ein zusätzliches, unentbehrliches Distinktionsmerkmal, um die vielschichtigen Status-Gefechte der entstehenden Naturwissenschaften aus ihrem Schattenreich zu lösen und der systematischen historischen Untersuchung zugänglich zu machen. Aus diesen Konzepten schält die Autorin schließlich vier Kategorien heraus, mit denen sie die Nachrufe analysiert. Sie beziehen sich erstens auf die Arbeitsweise, also die materielle und räumliche Dimension eines Denkstils; zweitens auf die Herausbildung eines Typus oder personeller Idealtypen, meist männlicher Stereotype wie „der Sieger“ oder „der Reformator“; drittens auf die Reichweite oder die gesellschaftlichen Implikationen eines Denkstils; und viertens auf seine Fixierung in Konzepten wie etwa der „certitude“ bei de Maupertuis, dem „Fehlerregime“ bei Gauß oder der „rigorosen Kausalität“ der physikalischen Physiologen.

Im zweiten Kapitel werden unter dem Titel der „genealogischen Inskriptionen“ zunächst die Nachrufe in ihrer Gesamtfunktion analysiert und als Textsorte mit anderen Memorialmedien verglichen. Sie werden eingebettet in die Geschichte der Leichenpredigten, die immer schon die Funktion hatten, die Hinterbliebenen moralisch zu erziehen. Ihre Schablonenhaftigkeit zielte darauf, nicht dem verstorbenen Individuum zu gedenken, sondern Idealtypen zu generieren. Die Publikation der Totenreden in Gedenkausgaben verbindet die Nachrufe mit der Geschichte anderer biographischer Textsorten, wie den Gelehrtenverzeichnissen der Historia literaria und mit den Anfängen der Bibliographie und Bibliothekswissenschaften. Die hagiographischen Tendenzen und das Kritikverbot beim Sprechen über die Toten verstärkten laut der Autorin den Fortschrittsoptimismus der Naturwissenschaften und legten zudem die Grundlage für die positivistische Wissenschaftsgeschichtsschreibung. Durch die sorgfältige, historische Kontextualisierung des akademischen Nachrufs gelingt es der Autorin plausibel nachzuweisen, dass der eigentliche Wert von Memorialmedien nicht auf der Ebene der Fakten, sondern auf der affektiven Ebene liegt. Durch sie gewinnt man Zugang zu den emotionalen Überzeugungen und den Wertmaßstäben einer Zeit. Sie bilden ein wichtiges Reservoir emotionaler Realitäten. Insofern eignen sie sich in besonderer Weise als Quellen einer Wertungsgeschichte, das heißt einer Wissenschaftsgeschichte, die daran interessiert ist, blinde Flecken und Grauzonen beredten Schweigens in den Blick zu bekommen. In den folgenden beiden Kapiteln werden aus einem Fundus von mehreren Hundert Nachrufen exemplarisch vier ausgewählt, die jeweils paarweise in der Mitte des 18. und 19. Jahrhunderts liegen, um auch Veränderungen während des Untersuchungszeitraums nachzeichnen zu können. Die Autorin analysiert Maupertuis Nachruf auf Montesquieu (1755) und Samuel Formeys Nachruf auf Maupertuis (1759); sowie Sartorius von Waltershausen Elogie auf Carl Friedrich Gauß (1856) und Emil Heinrich DuBois-Reymonds Nachruf auf Johannes Müller (1858). Die Begrenzung auf diese vier Fallbeispiele ist einleuchtend, weil es Echterhölter um das Potenzial des Genres an sich geht, um dessen Fähigkeit akademische Infrastrukturen zu bilden, das heißt um interne Gerüste der Naturwissenschaften, die gleichzeitig der Außendarstellung dienten und die Wissenschaften mit der Gesellschaft verbanden.

Das knappe Ergebniskapitel kulminiert in einer „Dichten Beschreibung“ genealogischer Praktiken. Diese tauchen nicht nur im Untertitel des Buches auf, sondern bilden eine eigene Infrastruktur der gesamten Untersuchung. Absichtsvoll wird das Konzept nicht einmalig abgehandelt, sondern taucht an Kernpunkten der Untersuchung immer wieder auf. Überzeugend legt Echterhölter dar, dass genealogische Praktiken nicht nur akademische Abstammungs- und Familientechniken herstellen, sondern von zentraler Bedeutung für die Überschreibung und Herausbildung von Werten sind, und zwar nicht nur in sozialen Beziehungen, sondern auch in epistemisch wichtigen Konzepten. Folgt man als Leserin dieser Spur/Infrastruktur, kann man performativ nachvollziehen, was Wertungsgeschichte im Sinne der Autorin bedeutet. Das Konzept der genealogischen Praktiken eröffnet eine andere Lesart von Memorialmedien. Es hilft diese vom Aspekt des Biographischen zu befreien und sie so als „neue“ Quellen für eine neue Form der Wissenschaftsgeschichtsschreibung – als Wertungsgeschichte – zu etablieren. Damit kann das in die Wissenschaftsgeschichte zurückgeholt werden, was durch große und kleine Trennungen abgespalten wurde. Affekte und gesellschaftspolitische Machtverhältnisse lassen sich sowohl in (scheinbar unbedeutenden) Praktiken und Texten, als auch in epistemisch wichtigen Konzepten und in den moralischen Selbstverhältnissen der Wissenschaftler aufspüren. Objektivität und wissenschaftliche Rationalität – immer noch der Fokus einer wenn auch weniger positivistischen Wissenschaftsgeschichte – lassen sich historisch ergänzen um die abgespaltene (unterschwellige) Subjektivität und die Metis als treibende Kräfte der Wissensproduktion.

Die Arbeit eröffnet auf diese Weise überraschende und innovative Fragen über die „inneren Werte“ der Naturwissenschaften und ihre Historiographie. Selbstvergegenwärtigung ist sicher ein wesentlicher Bestandteil dieser Geschichtsschreibung und kann zusätzlich einen Pfad in die Geschichte der akademischen Infrastrukturen legen: Welche Geschichte haben „CV“ und Publikationsliste, welche Werte werden darin angehäuft? Wie trennten sich die „Hilfswissenschaften“ von den „eigentlichen“ Wissenschaften, über welches unterschiedliche Wissen verfügen sie?

Verblüffend ist daher, dass Echterhölter mit ihrem Zugang, Trennungen und Abspaltungen zu untersuchen, eine grundlegende Spaltung der Wissenschaftsgeschichte re-inszeniert, ohne sich oder der Leserschaft darüber Rechenschaft abzulegen. Gemeint ist die Trennung zwischen externen und internen Faktoren der naturwissenschaftlichen Wissensproduktion, zwischen dem Epistemischen und Sozialen, die lange Zeit die disziplininternen Auseinandersetzungen der Wissenschaftsgeschichte dominierte.2 Gerade weil sich in den letzten Jahren Abwehrreaktionen und Erschöpfungserscheinungen auf das Schlagwort „Internalismus-Externalismus“ mehren, wäre zumindest eine Fußnote zur Kontextualisierung und Historisierung dieser Debatte hilfreich gewesen. Dies umso mehr, als in den „Science and Technology Studies“ (STS) Konzepte entwickelt wurden, die diese spezifische Trennung anders zu lösen versuchen. Falls Anleihen dort problematisch sind, wäre eine mögliche Alternative auch bei Ludwik Fleck zu suchen, der in Echterhölters Arbeit – trotz der Bedeutung des Denkstilbegriffs – nur gestreift wird. Abgesehen davon jedoch bietet ihre Studie eine Fülle von Anregungen, die für die methodische Weiterentwicklung der Wissenschaftsgeschichte fruchtbar gemacht werden sollten, und von der nicht nur Historikerinnen des 18. und 19. Jahrhunderts profitieren können.

Anmerkungen:
1 Yehuda Elkana, Anthropologie der Erkenntnis. Ein programmatischer Versuch, in: ders., Anthropologie der Erkenntnis. Die Entwicklung des Wissens als episches Theater einer listigen Vernunft, Frankfurt am Main 1986, S. 11–125.
2 Steven Shapin / Simon Schaffer, Up for Air. Leviathan and the Air-Pump a Generation On, in: dies., Leviathan and the Air-Pump. Hobbes, Boyle, and the Experimental Life, with a New Introduction by the Authors, Princeton 2011, S. xi–l.