Ch. Ritzi u.a. (Hrsg.): Gymnasium im strukturellen Wandel

Titel
Gymnasium im strukturellen Wandel. Befunde und Perspektiven von den preußischen Reformen bis zur Reform der gymnasialen Oberstufe


Herausgeber
Ritzi, Christian; Tosch, Frank
Erschienen
Bad Heilbrunn 2014: Julius Klinkhardt Verlag
Anzahl Seiten
Preis
€ 24,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Anna Kranzdorf, Historisches Seminar, Universität Mainz

Der Sammelband „Gymnasium im strukturellen Wandel“ stellt sich die anspruchsvolle Aufgabe, 200 Jahre Geschichte des Gymnasiums nachzuzeichnen. Dabei sollen sowohl bisherige Forschungsergebnisse zur Gymnasialgeschichte zusammengetragen als auch neue Forschungsfelder erschlossen werden. Viele Aufsätze verfolgen dabei erfreulicherweise einen langen diachronen Ansatz, der alte Gewissheiten zerschlägt und neue Sichtweisen eröffnet. Das Spannungsverhältnis zwischen den Beharrungskräften des deutschen Schulwesens und der Anpassung an kontinuierlichen gesellschaftlichen Wandel zeichnet sich dabei als ein wesentliches Merkmal deutscher Bildungsgeschichte ab.

Die Aufsätze beruhen auf Beiträgen einer Tagung, die im Oktober 2010 an der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) in Berlin stattfand. Methodisch ist der Band breit angelegt. Die Autoren legten den Fokus auf Fächer oder Berufsgruppen oder bedienten sich lokaler und regionaler Fallstudien, um den langen Untersuchungszeitraum handhabbar zu machen.

In der Einleitung führen die Herausgeber pointiert in die Thematik und das breite Spektrum der Beiträge ein. Zudem geben sie einen prägnanten Überblick über die wesentlichen Stufen des gymnasialen Strukturwandels, begonnen beim Typisierungsprozess der höheren Knabenschule im 19. Jahrhundert bis hin zur Auflösung der Gymnasialtypen durch die Oberstufenreform 1972.

Andreas Fritsch eröffnet die Fachaufsätze mit einem Beitrag zur Geschichte des altsprachlichen Unterrichts von den Preußischen Reformen bis in die Gegenwart. Sein Schwerpunkt liegt auf den Ursprüngen des Themas, dem neuhumanistischen Bildungskonzept Wilhelm von Humboldts, sowie auf seiner Weiterentwicklung im 19. Jahrhundert. Eher skizzenhaft legt er die Entwicklung in der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus, der DDR und der Bundesrepublik dar. Er schließt mit der Feststellung, dass das gegenwärtige Gymnasium nicht mehr „durch die alten Sprachen definiert“ sei, dass Latein aber „als dritthäufigste Fremdsprache […] weiterhin einen beachtlichen Platz einnimmt“ (S. 29). Hier treten die erwähnten Beharrungskräfte des deutschen Schulwesens am Beispiel des Lateinunterrichts deutlich zu Tage.

Gerhard Kluchert untersucht das berufliche Selbstverständnis der Gymnasiallehrer. Dies gliedert er in drei zentrale Aspekte: berufliche Grundorientierung, Stellung und Handhabung der Auslese sowie das Verhältnis zu den Schülern. Bezüglich der beruflichen Grundorientierung hätten sich die Gymnasiallehrer im Kaiserreich sowohl als Angehörige der Gelehrtenwelt als auch als staatstreue Beamte verstanden. Ein Bruch habe in den 1960er/1970er-Jahren stattgefunden, als im Zuge der Bildungsexpansion nicht mehr nur Angehörige des Bildungsbürgertums Gymnasiallehrer wurden: Der Philologe, einst Angehöriger des Bildungsbürgertums und der gehobenen Beamtenschaft, gehörte nun zu einer „sehr viel breiteren akademischen Dienstleistungsschicht“ (S. 42). Was allerdings konstant bleibe, sei das Selbstverständnis als akademisch ausgebildeter Fachlehrer und das durch eine „Bürokratisierung der Lehr- und Lernprozesse“ (S. 46) insgesamt rational geprägte Berufsprofil. Diese beiden Merkmale seien unter anderem dafür verantwortlich, dass sich die Mehrzahl der Lehrer auch in diktatorischen Systemen nicht als „Glaubenserwecker[n]“ und „weltanschauliche[n] Propagandisten“ instrumentalisieren ließen (S. 46). Die Selektion sei zum einen wesentlicher Bestandteil der Aufgabe eines Gymnasiallehrers, zum anderen verteidigen sie damit ihre eigene soziale Exklusivität1. Jedoch habe sich die Argumentation bei der Auslese gewandelt, indem ständische Argumentationsfiguren zurück- und die Leistung in den Vordergrund trete. Das Verhältnis zu den Schülern war meist distanziert bis autoritär, allerdings änderte sich das Autoritätsverhältnis: Der Lehrer erhielt seine Autorität nicht qua Amt, sondern durch Sachverstand und Persönlichkeit. Somit sind trotz einiger Veränderungen für Kluchert die ausgeprägten Kontinuitätslinien der eigentliche Befund. Die institutionellen Strukturen des deutschen Bildungswesens hätten eine „erstaunliche Konstanz“.

Wie Veränderungen in einem eher starren und schwerfälligen System möglich waren, zeigt Frank Tosch in seinem Beitrag und eröffnet zugleich den Reigen der lokalen und regionalen Fallstudien zur Gymnasialgeschichte. Seine Untersuchung bezieht sich auf das sogenannte „Frankfurter System“, eine Reformschule, die ab 1892 als erste das Gymnasium mit dem Realgymnasium verband. Dazu war ein lateinloser Unterbau vonnöten, eine zur damaligen Zeit fast ketzerische Forderung. Gute Vernetzung, Offenheit aller Beteiligten und eine gewisse Vermarktung in der Öffentlichkeit waren laut Tosch Faktoren dafür, dass die Frankfurter Reformer ihr Vorhaben durchsetzen konnten.

Der Beitrag von Bernd Zymek und Frank Ragutt beschäftigt sich mit dem Narrativ, dass es sich bei Gymnasien um elitäre Anstalten handle. Besonders in der Nachkriegszeit war dies bei der Wiedereinführung des dreigliedrigen Schulsystems sehr wirkmächtig. Die Autoren haben schulstatistische Daten von 1935–1948 ausgewertet und sich so bewusst über die Zäsur von 1945 hinweggesetzt2. Das zentrale Ergebnis der Datenanalyse ist die Widerlegung dieses Narrativs: Die Gymnasien wurden seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer stärker zu „multifunktionalen Schulen“, deren Mehrzahl „weit entfernt war von dem elitären Ideal grundständiger Gymnasien“ (S. 136). Die Mehrzahl der Schüler besuchte ein Gymnasium nur in der Unter- und Mittelstufe, da es lange die einzige Schule war, die Berechtigungen vergab. Auch in den 1930/1940er-Jahren fand ein Ausbau der Gymnasien statt, allerdings nur in der Unter- und Mittelstufe, wohingegen der Zugang zur Oberstufe absichtlich gedrosselt wurde. Die Bildungsexpansion der 1960er-Jahre ist auf den Ausbau der Oberstufe zurückzuführen, der Schulbesuch wurde somit verlängert. Zudem fand eine weitere Expansion durch die Einführung von Koedukation sowie mehrzügiger Gymnasien statt.

Anke Huschner und Hannah Ahlheim wenden sich jeweils einer Schule als Fallbeispiel zu. Huschner untersucht die Oberschule am Schwanenteich in Berlin Weißensee von 1900 bis 2008 und zeichnet ihre Entwicklung in fünf politischen Systemen nach. Ahlheim betrachtet die Oberschule in Kleinmachnow vom Nationalsozialismus über die DDR bis ins wiedervereinigte Deutschland. Interessant ist, dass diese Schule in allen Systemen eine Art Eliteschule war. Das Spannungsfeld zwischen dem Bedarf einer geistigen Elite und einer gesellschaftlich akzeptierten Argumentation für eine Elite ist ein vielversprechender Ansatz, gerade in Systemen, wo prinzipielle Gleichheit herrschen soll. Diese Aufsätze könnten gute Beiträge zur Frage nach Kontinuität und Wandel über Zäsuren hinaus liefern. Leider verharren sie im Deskriptiven und schöpfen ihr analytisches Potential nicht aus.

Die letzten beiden Artikel widmen sich der gegenwärtigen Gymnasialentwicklung. Dass es hierbei vornehmlich um die Oberstufe geht, passt zu dem Ergebnis von Zymek/Ragutt, dass seit den 1960er-Jahren die Bildungsexpansion auf der Oberstufe stattfand. Die Oberstufe war also die nächste Struktur, die sich dem gesellschaftlichen Wandel anpassen musste. Ulrich Ernst legt dabei den Fokus auf die Entwicklungen in Brandenburg nach der Wiedervereinigung. Dabei zeichnet er einen Transformationsprozess nach, der sowohl beeinflusst war durch die notwendige Anpassung an die Schullandschaft der Bundesrepublik Deutschland als auch durch lokale Traditionen und Besonderheiten. Marko Neumann und Ulrich Trautwein resümieren zunächst die zentralen Entwicklungen der gymnasialen Oberstufe und stellen für jedes Bundesland die Ausgestaltung der Qualifizierungsphase und der Abiturprüfung in einer übersichtlichen Tabelle dar. Exemplarisch zeigen sie mit der so genannten Tosca-Repeat Studie, welche Effekte die Neuregelung der Oberstufe in Baden-Württemberg hatte. Sie sehen eine Tendenz, dass sich die Bundesländer trotz weiterhin bestehender Unterschiede in Bezug auf die Oberstufe immer weiter annähern, um zu einer größeren Vergleichbarkeit des Abiturs zu gelangen. Weitere Reformen der Oberstufe seien zu erwarten.

Vor allem die Beiträge von Kluchert und Zymek/Ragutt demonstrieren den Gewinn aus der Betrachtung von deutscher Bildungsgeschichte über einen längeren Zeitraum und vor allem über die Zäsur 1945 hinweg. So wird deutlich, dass das Jahr 1945 auch in bildungspolitischer Perspektive alles andere als eine „Stunde Null“ war3. Vielmehr setzten sich Trends aus den 1920er-Jahren in den 1960/70er-Jahren fort. Die sozialgeschichtliche Fixierung auf Strukturen bei gleichzeitiger Unterschätzung der handelnden Personen muss zwar relativiert werden und bedarf der weiteren empirischen Erforschung. Insgesamt sind die Beiträge als Erkenntnisgewinn und Perspektiveneröffnung für die bildungshistorische Forschung äußerst wertvoll, helfen sie doch Sichergeglaubtes zu korrigieren und neue Erkenntnisse zu gewinnen. Demnach stellen nämlich nicht die 1960er/1970er-Jahre, sondern die 1950er-Jahre die Ausnahme dar.

Anmerkungen:
1 Kluchert verweist u.a. auf Hartmut Titze, Zur Tiefenstruktur des Bildungswachstums von 1800 bis 2000. Lern- und Bildungsprozesse in neuer Sicht, in: Die Deutsche Schule 95 (2003), S. 180–196.
2 Zymek und Ragutt haben im Archiv der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung (BBF) ein bisher unbearbeitetes Quellenkorpus ausfindig gemacht, nämlich die Rohdaten der „Auskunftsstelle für Schulwesen“.
3 So lautet auch der Titel des Aufsatzes von Zymek und Ragutt „Keine ‚Stunde Null‘“.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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