M. Dürkop: Das Archiv für Religionswissenschaft

Cover
Titel
Das Archiv für Religionswissenschaft in den Jahren 1919 bis 1939. Dargestellt auf der Grundlage des Briefwechsels zwischen Otto Weinrich und Martin P:n Nilsson


Autor(en)
Dürkop, Martina
Reihe
Religionswissenschaft 20
Erschienen
Berlin 2013: LIT Verlag
Anzahl Seiten
IX, 506 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kay Ehling, Staatliche Münzsammlung München

Im Jahr 1898 wurde das „Archiv für Religionswissenschaft“ (ARW) gegründet und 1943 kriegsbedingt eingestellt. In dieser Zeitschrift erschienen wegweisende Beiträge.1 Die Geschichte des Archivs untersucht nun Martina Dürkop und zwar für die Zwischenkriegsjahre von 1919 bis 1939, in denen es zu einer intensiven deutsch-schwedischen Kooperation kam, für die die Namen der beiden Herausgeber Otto Weinreich und Martin Persson Nilsson stehen. Die „Beteiligung eines ausländischen Herausgebers“ dürfte zumindest bei einer geisteswissenschaftlichen Zeitschrift ziemlich „einmalig“ sein (S. 1). Durch die Zusammenarbeit konnte Schweden sein wissenschaftliches Ansehen steigern, während die deutsche Seite einerseits finanziell profitierte und andererseits ein Stück weit aus der wissenschaftlichen Isolation herauskam, in die sie durch Krieg und Versailler Vertrag geraten war. Wie Dürkop pointiert feststellt, waren 1919 „nur die Deutschen selbst […] über ihre Isolation“ überrascht, „hatten sie doch stets deutschenfreundliche Stimmen gesammelt“ (S. 81). So kam es etwa mit Frankreich, das alle Verbindungen zum ehemaligen Kriegsgegner abgebrochen hatte, erst im Mai 1926 zu einer Wiederaufnahme des vor dem Krieg bestehenden akademischen Schriftenaustauschs (S. 80). Bis in die Mitte der 1920er-Jahre wurden Deutsche, Österreicher, Ungarn und Bulgaren nicht zu internationalen Kongressen eingeladen (S. 85). Erst mit der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund besserten sich die Bedingungen. Otto Weinreich etwa konnte 1928 erstmals dienstlich wieder ins Ausland reisen und in Florenz den Internationalen Etruskologenkongress besuchen (S. 114). Schweden, die Heimat Carl von Linnés, hingegen leistete unmittelbar nach Friedensschluss wertvolle Hilfe beim Wiedereinstieg Deutschlands als Wissenschaftsnation.

Dürkops Buch gliedert sich in zwei Teile: Im ersten Teil wird Schwedens Teilnahme am internationalen Wissenschaftsbetrieb, der Aufbau der schwedischen Altertumswissenschaften, die Kriegszeit und ihre Folgen, die Jahre des Boykotts und die Geschichte des ARW dargestellt (S. 5–258). Im zweiten Teil ist die Korrespondenz zwischen Weinreich und Nilsson abgedruckt und kommentiert (S. 259–462), wobei sich die Briefe Weinreichs fast vollständig im Archiv der Universität Lund erhalten haben, während die Gegenbriefe Nilssons bis auf Vorschriften verloren sind (S. 1f.).

Erste Briefkontakte reichen ins Jahr 1913 zurück. Ab 1920 wird der Briefwechsel intensiv. Weinreich wendet sich mit der Bitte um einen finanziellen Zuschuss fürs ARW an Nilsson und entwickelt die Perspektive einer weitgehenden Zusammenarbeit vor dem Hintergrund einer durch den Krieg am Boden liegenden Wissenschaft. Er schreibt: „Da bin ich nun neulich von Bekannten auf eine Idee gebracht worden, die ich Ihnen vortragen möchte. Wenn wir von neutraler Seite, wo der Geldwert ja ganz anders ist, einen auch nur ganz geringfügigen Zuschuss erhalten könnten, so wäre uns damit, nach dem heutigen Stand der deutschen Valuta, ausserordentlich viel geholfen. Ich habe nun gedacht, ob es vielleicht möglich wäre, dass Sie sich bei Ihrer Stockholmer Religionswissenschaftlichen Gesellschaft dafür verwenden würden, dass diese dem Archiv eine Unterstützung bewilligt […] Sie haben seinerzeit, lieber Herr College, als Sie uns die Freude ihrer Mitwirkung an der Redaktion machten, den Plan eines skandinavischen Konkurrenzunternehmens erwähnt. Jetzt liesse sich vielleicht der Gedanke erwägen, ob durch eine Unterstützung Ihrer Gesellschaft das Archiv zu einem Zentralorgan ausgebaut werden könnte, das, im bisherigen oder erweiterten Umfang, zugleich auch die Publikation von Arbeiten nordischer Forscher übernähme. Vielleicht wäre Ihnen damit auch gedient – sicherlich uns, denn Deutschland wird auf lange hinaus ein verarmtes Volk bleiben, das nur unter den grössten Schwierigkeiten seine wissenschaftliche Publikationstätigkeit wird durchführen können. Abgesehen von der materiellen Seite würde auch der ideelle Wert nicht zu unterschätzen sein, den eine solche Zusammenarbeit in sich birgt. Die Wissenschaft muss und wird auch wieder über nationale Grenzpfähle hinausführen müssen und ich hoffe auch die politisch feindlichen Länder werden nicht dauernd den Boykott der deutschen Wissenschaft aufrecht erhalten wollen. Es ist klar, dass wir als die Geschlagenen [[uns]] nie beginnen können uns ‚anzubiedern‘ – es ist, meiner Ansicht nach, Sache der siegreichen Völker, hier den Verkehr wieder anzubahnen, wie das ja auch z. B. von Seiten Italiens (auch Griechenlands) schon geschieht?“ (Brief 13; S. 266 f.). So wurde Band 20 (1920/21) mit Unterstützung der Heidelberger Akademie und der Religionswissenschaftlichen Gesellschaft in Stockholm gedruckt, und 1923 mit Teubner ein neuer Vertrag ausgehandelt (Brief 42; S. 323ff.), so dass Nilsson, der seit Band 19 (1916/19) unter den Mitwirkenden genannt ist, mit Jahrgang 22 (1923/24) neben Weinreich als Herausgeber des ARW erscheint. Aber die Geldsorgen bleiben: Während der Hyperinflation erhöhen sich die Herstellungskosten im Juli 1923 um 78 ½ Prozent; das Heft kostet um die 72,5 Millionen (Brief 47; S. 330), das Gehalt von Weinreich beträgt 40 Millionen Mark (Brief 45; S. 327).

Gegen Ende der Weimarer Republik blickt Weinreich mit Sorge in die Zukunft. Er setzt auf die Regierung des Reichskanzlers Heinrich Brüning (1930–1932) und bewundert die Studentenschaft in diesen unruhigen Zeiten: „Ein grosses Erlebnis ist die Haltung unserer Studenten: sie arbeiten und schaffen, dass es bewundernswert ist. Je ungewisser ihre Zukunft, desto zielbewusster setzen sie alle Energie an ein konzentriertes Studium und leisten trotz aller Entbehrungen weit mehr als wir im gleichen Alter leisteten“ (Brief 111; S. 404). Von Hitler erwartet er nichts: „Ich habe aber noch nicht allen Rest von Optimismus aufgegeben! Freilich wenn das ‚Dritte Reich‘ ausbricht, dann fürchte ich für unsere wissenschaftliche Arbeit wenig mehr erwarten zu dürfen“ (Briefe 109; S. 402). Immer wieder werden eingereichte Manuskripte diskutiert: so das von Mattias N. Valmin (zur Person: S. 401, Anm. 3), in dem es um Steinhaufen auf griechischen Gräbern geht. Weinreich entwickelt dabei zahlreiche neue Ideen: ‚Sinn‘ der Steinhaufen sei nicht nur die Leiche vor streifenden Hunden, Geiern und dergleichen zu schützen und zugleich die Lage des Grabes sichtbar zu machen, sondern auch die Leiche zu bannen: „der ‚lebende Leichnam‘ wird festgebannt. Er kann den Steinhaufen nicht abwälzen, kein Rückkehrer, Nachgeher werden.“ Der Brauch habe sich später dahin gehend weiter entwickelt, dass nur mehr Mörder, Verbrecher, also besonders „gefährliche“ Tote so gebannt wurden. Der Steinhaufen wurde Fluchmal, postume Steinigung. Funktion des Hermes als Totengeleiter sei es vor allem, den Toten in die Unterwelt zu führen und „damit gewissermassen unschädlich“ zu machen (Brief 111; S. 403). Im Jahr 1941 kommt der Briefwechsel zum Erliegen (Brief 161; S. 458), wird aber 1948 wieder aufgenommen. Wie nach dem Ersten Weltkrieg (Brief 15; S. 270) hat sich bei Weinreich das Gefühl eines odium generis humani eingestellt (Brief 162; S. 459).

Energie und Einsatz der beiden Herausgeber, Weinreich und Nilsson, kann vielleicht nur jemand ganz ermessen und bewundern, der selbst in der Redaktion einer wissenschaftlichen Zeitschrift tätig ist oder war und das tagtägliche Geschäft kennt, vom Einwerben geeigneter Beiträge bis zum Korrekturlesen, das am Ende, wenn der Zeitschriftenband gedruckt oder in digitaler Form vorliegt, Gott sei Dank nicht mehr sichtbar ist. Martina Dürkop hat für das ARW ein spannendes Stück Zeitschriftengeschichte herausgearbeitet, wie man sie sich auch für Klio und Hermes wünscht und mit dem Briefwechsel zwischen Weinreich und Nilsson ein Kleinod sehr persönlicher Wissenschaftsgeschichte zugänglich gemacht.

Anmerkung:
1 Erinnert sei an dieser Stelle nur an Georg Karo, Altkretische Kultstätten, in: ARW 7 (1904), S. 117–157; Georg Wissowa, Interpretatio Romana. Römische Götter im Barbarenland, in: ARW 14 (1916/19), S. 1–49; Kurt Latte, Schuld und Sünde in der griechischen Religion, in: ARW 20 (1920/21), S. 254–298; Friedrich Pfister, Herakles und Christus, in: ARW 34 (1937), S. 42–60.

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