: Der rote Hiob. Das Leben des Werner Scholem. München 2014 : Carl Hanser Verlag, ISBN 978-3-446-24622-5 383 S. € 24,90

: Werner Scholem. Eine politische Biographie (1895–1940). Konstanz 2014 : UVK Verlag, ISBN 978-3-86764-505-8 495 S. € 24,99

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Knut Bergbauer, Köln

Werner Scholem gehört, betrachtet man die kommunistische Bewegung im Deutschland der Weimarer Republik, zum Kanon der Bekannten und Vielgenannten und doch blieb die Person dahinter bisher eher unbekannt. Natürlich gab es eine Reihe biographischer Daten, sein Name taucht in fast allen Untersuchungen über den deutschen Kommunismus – wenn man von den Retuschen realsozialistischer Provenienz einmal absieht – vor 1933 auf und die Prominenz seines Bruders, des Religionshistorikers und Kabbalisten Gershom Scholem, warf auch einen Schein auf dessen älteren Bruder Werner. Aber eine Biographie, die das Leben Werner Scholems in den Mittelpunkt gestellt hätte, fehlte bisher. Desto bemerkenswerter ist, dass nun, fast 75 Jahre nach seinem Tod – im Juli 1940 im KZ Buchenwald – zeitgleich zwei Biographien erschienen. Und, so viel sei schon im Voraus gesagt, beide Arbeiten sind gelungen.

Ralf Hoffrogges „politische Biographie“ (so der Untertitel) und Mirjam Zadoff „kulturgeschichtlicher Text“ (S. 31) können durchaus auch als Ergänzungen gelesen werden. Schon in den Titelfotos beider Bücher wird dies deutlich. Während bei Hoffrogge Werner Scholem als Propagandist anlässlich einer „Krieg dem Kriege“-Demonstration seiner Partei zu sehen ist, sitzt er bei Zadoff verschmitzt lächelnd oder unsicher am Rand einer Parkbank.

Werner Scholem wurde am 29. Dezember 1895 als dritter Sohn des Ehepaars Arthur und Betty Scholem in Berlin geboren. Der Vater war Druckereibesitzer in Berlin, deutsch-national und Patriarch des Hauses. Wie in vielen deutsch-jüdischen Familien des späten Kaiserreichs, wurden Sabbat und jüdische Feiertage begangen, man lehnte Taufe und Mischehe ab, aber meist aus einer Mischung aus Tradition und der Unmöglichkeit, angesichts des grassierenden Antisemitismus, die Gemeinschaft zu verlassen. Werner befand sich schon seit seiner frühen Adoleszenz in einem permanenten Ausnahmezustand mit seinem Vater. Was in Berlin nicht mehr möglich schien, sollte nun die Wolfenbütteler Samsonschule richten, auf die Werner 1909 geschickt wurde. Die jüdischen Wurzeln und der preußische Geist von Schule und Internat schienen hierfür hervorragend geeignet. 1911 erzwang er seine Rückkehr nach Berlin, das er nach erneuten Streitigkeiten zwei Jahre später wieder verlassen musste.

Aber während dieser beiden Berliner Jahre hatte Werner Scholem, jenseits von Schule, Elternhaus und Berufsperspektive, nach Orientierungen im Leben gesucht und war fündig geworden. Zunächst hatte er sich für einige Monate dem zionistischen Jugendverein „Jung-Juda“ angeschlossen, dann wählte er die sozialistische Arbeiterjugendbewegung als neue Heimat. Damit war die Richtung bestimmt, in der sich sein weiteres Leben entwickeln sollte. Wie auch das Leben seines zwei Jahre jüngeren Bruders Gerhard, der sich kurz nach ihm „Jung-Juda“ angeschlossen hatte, um bald zu einem Vordenker der Gruppe zu avancieren.

Hannover, wohin Werner 1913 geschickt wurde, bewirkte bei ihm keine „Läuterung“, er schloss sich hier der Arbeiterjugend im Stadtteil Linden an und an seinem 18. Geburtstag auch der SPD. In der Arbeiterjugend hatte er auch die ein Jahr jüngere Emmy Wiechelt kennengelernt, schon nach kurzer Zeit verlobte man sich und im Herbst des Folgejahres zog Werner Scholem in die Wohnung seiner Schwiegereltern. Mirjam Zadoff stellt die Hochzeit der beiden, mitten im Krieg 1917, an den Anfang ihrer Biographie, so wirkungsmächtig sieht sie die Verbindung des aus einer jüdischen Mittelschichtenfamilie stammenden Werner Scholem mit einer (nichtjüdischen) Frau aus dem Proletariat. Diese Verbindung manifestierte den Bruch zwischen Arthur Scholem und seinem Sohn Werner endgültig. Er wurde verstoßen und enterbt, selbst der Mutter Betty wurde aller Kontakt untersagt. Vieles über das Leben Werner Scholem in den Jahren des Ersten Weltkrieges konnten beide Autoren dem Briefwechsel zwischen Werner und Gerhard entnehmen, die wichtigste Quelle für diese Lebensphase. Wie viele seiner jungen Genossen und Genossinnen agitierte auch Werner Scholem gegen den aufziehenden Krieg, wurde enttäuscht von der Haltung der SPD, seiner Partei, und fand vor allem in der Haltung Karl Liebknechts, der als einziger gegen die Kriegskredite gestimmt hatte, Hoffnung. 1915 bestand Werner sein Abitur und wurde nur kurze Zeit später zum Kriegsdienst eingezogen. Ralf Hoffrogge widmet sich den beiden Brüdern während der Kriegszeit ausführlich, schildert ihr zeitgleiches Engagement in der sozialistischen (Werner) und zionistischen (Gerhard) Jugend gegen den Krieg akribisch. Nun an einer Stelle gehen ihm etwas die (jüngerschen) Gäule durch (auch wenn er dessen Haltung so gar nicht teilt): Angesichts einer Verwundung Werners formuliert er (entgegen seines sonst nüchternen Stils, hier relativ prosaisch-pathetisch): „Nach dem Kontakt von Stahl und Fleisch folgte in einem unvermeidlichen Verwaltungsakt der Kontakt von Stahlfeder und Papier… [...] ...Körper sind vergänglich, Stahl und Papier geduldig.“ (S. 72) Vielleicht hätte diesem Teil, wie auch dem späteren Abschnitt über Werner Scholem als Politiker – sieben Jahre, die ein Drittel des Buches ausmachen – die eine oder andere Straffung oder Kürzung gut getan.

Ende Januar 1917 wurde Werner, der in Uniform an einer Anti-Kriegsdemonstration der Arbeiterjugend in Halle teilgenommen hatte, denunziert, verhaftet und später verurteilt. Aus der Haft entlassen, kam er noch einmal an die Front, bis Kriegsende und Revolution. Er hatte sich zwischenzeitlich der USPD angeschlossen und war nach deren Hallenser Parteitag vom Oktober 1920, mit der Majorität der USP-Mitglieder, zur KPD gewechselt. Im Dezember 1920 zog Werner Scholem mit seiner Familie von Halle nach Berlin, um eine Stelle beim zentralen KPD-Organ „Rote Fahne“ anzutreten. Schon im Februar 1921 wurde er Mitglied des Preußischen Landtages, drei Jahre später auch des Reichstages. Aber angesichts der politischen Konstellationen bedeutete seine exponierte Stellung auch immer eine Gefährdung. Werner Scholem wurde in diesen Jahren nicht nur von Polizei und Justiz beobachtet, auch die politischen Gegner griffen ihn an: als Sozialisten und Juden. Sowohl Mirjam Zadoff wie auch Ralf Hoffrogge, beobachten und reflektieren diese Reaktionen sehr genau. Auch, wie seine eigene Partei, die KPD, mit ihm, als Jude und Intellektueller immer etwas Außenseiter, umging. Hier wird ein schwieriges und zu Missdeutungen verleitendes Forschungs-Feld von beiden Autoren, wie unterschiedlich sie auch argumentieren mögen, hervorragend beschrieben. Trotz meiner Kritik an Überlängen in Hoffrogges Arbeit, kann man die politischen Hintergründe, die zu Scholems rasantem Aufstieg und Sturz in der Politik führten, anhand seiner Beschreibung gut nachvollziehen. Mirjam Zadoffs Darstellung, die an dieser Stelle wesentlich kürzer ausfällt, legt ihren Schwerpunkt ohnehin deutlicher in Richtung seiner Person und seiner Familie.

Zusammen mit Ruth Fischer und deren Mann Arkadi Maslow, gehörte Werner Scholem Mitte der 1920er-Jahre zum Führungstriumvirat der KPD. Als „Linke Opposition“ innerhalb der Partei aufgestiegen, wurden sie zunächst von Moskau und Teilen der Komintern protegiert, um wenig später entmachtet und schließlich aus der Partei gedrängt zu werden. 1926 endgültig aus der KPD geworfen, schließt er sich – mit anderen Dissidenten – 1928 zum „Leninbund“ zusammen, den er, als sich kein Erfolg einstellt, nach kurzer Zeit wieder verlässt. Damit ist, so beschreiben es beide Biographen, seine Zeit als „politischer Aktivist“ beendet. Er studierte Jura und als er sein Studium 1931 beendete, blieben ihm noch eineinhalb Jahre Referendariatszeit bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten. Er wird nie in diesem Beruf arbeiten, geschweige denn davon existieren können.

Eine Nach-Geschichte zur Biographie Werner Scholems nimmt in diesen Jahren vor 1933 ihren Anfang. Er lernte Marie-Luise von Hammerstein kennen, die älteste Tochter des General Kurt von Hammerstein, Chef der Heeresleitung. Mit der spannenden Geschichte des Generals und seiner Familie haben sich seit einem frühen Manuskripts Arkadi Maslows und dessen Rezeption durch Franz Jung auch Alexander Kluge und am umfangreichsten und populärsten Hans Magnus Enzensberger mit seinem Buch „Hammerstein oder der Eigensinn“1 befasst. Als Werner und Emmy Scholem April 1933 verhaftet wurden, kam schnell der Verdacht auf, dass Marie-Luise sie verraten habe. Während Hoffrogge, anhand der Aktenfunde, ein differenzierteres Bild zeichnet und die Generalstochter entlastet, hält Mirjam Zadoff die Behauptung Emmys für belegt – freilich ohne stichhaltige Beweise zu liefern.

Während Emmy Scholem 1934 fliehen konnte, blieb Werner in NS-Haft zurück. Zwar wurde er vom Gericht freigesprochen, doch nur, um anschließend als „Schutzhäftling“ in das KZ Lichtenburg eingewiesen zu werden. Aus seiner Lichtenburger, Dachauer und später Buchenwalder Zeit sind einige Zeugnisse vorhanden, die das Leben und Leiden Werner Scholems in KZ-Haft beschreiben. Es entsteht das Bild eines desillusionierten Mannes, intelligent und politisch denkend, der einerseits als „prominenter“ Häftling galt, andererseits von einigen kommunistischen Häftlingen als „Trotzkist“ und damit als Gegner wahrgenommen wurde.

Werner Scholem war, so der überwiegende Tenor, innerhalb der Häftlingsgesellschaft kein einfacher Mithäftling. Ludwig Bendix und Ernst Federn, die die umfangreichsten Erinnerungen über ihn hinterlassen haben, beschreiben ihn übereinstimmend als großen Pessimisten und „Zwangscharakter“. Seine Ermordung – im Juli 1940 im Steinbruch des KZ Buchenwald – kam dennoch für alle überraschend. Über den Ablauf sind sich beide Biographien relativ einig, nur die Gründe müssen gemutmaßt werden. Mit großer Wahrscheinlichkeit gehörte der Mord in eine Reihe anderer Morde an prominenten „Politischen“ zur selben Zeit, er könnte aber auch ein Opfer des Kampfes von „Politischen“ gegen „Kriminelle“, der zu dieser Zeit heftig tobte, geworden sein. Beide Autoren schildern die möglichen Varianten und lassen ihre Biographien keineswegs hier enden, sondern widmen sich dem weiteren Lebensweg von Emmy, Edith und Renate Scholem und auch Gerhard Scholem, dessen Leben so ganz anders verlief.

Wer nun sollte welche Biographie lesen? Ralf Hoffrogge hat seine Biographie auf Grundlage seiner Dissertation verfasst. Das führt gelegentlich zu Weitschweifigkeit und einem nüchtern-sachlichen Stil. Mirjam Zadoff hingegen formuliert eleganter, pointierter, ohne dadurch aber die Fakten aus den Augen zu lassen. So bleibt die Ergänzung, wie schon eingangs angedeutet, die große Stärke beider Arbeiten.

Noch eine persönliche Anmerkung: Ralf Hoffrogge fragt sich, ob wohl Marie-Luise von Hammerstein nach 1945 von der Ermordung Leo Roths während der „Säuberungen“ in der Sowjetunion gewusst habe. Leo war Mitarbeiter im Abwehrapparat der KPD und mit Marie-Luise und Helga von Hammerstein befreundet. Der Rezensent war 1999, zusammen mit einer Kollegin und Freundin, zu Besuch bei Ernst Scholem, einem Cousin Werners, in einem Berliner Altenheim. Vermittelt hatte den Besuch Nathan Steinberger, schon seit seiner Kindheit mit Leo Roth befreundet. Steinberger war von 1937, dem Todesjahr Leo Roths, bis 1946 in sowjetischer Haft (dann „ewig verbannt“ bis 1955). An einem Schrank in Ernst Scholems Wohnung hing ein Foto Werners, den er tief verehrte. Da er uns bei unseren Fragen zu Leo Roth nicht weiterhelfen konnte, verwies er uns an Franz von Hammerstein, einen Bruder von Marie-Luise und Helga. Man kannte sich, war befreundet, jenseits aller ideologischen Differenzen, und man erinnerte, in diesem vertrauten Kreis, auch die Biographien jener, die umgekommen waren.

Anmerkung:
1 Hans Magnus Enzensberger, Hammerstein oder der Eigensinn. Eine deutsche Geschichte, Frankfurt am Main 2008.

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