Cover
Titel
"Ein Wunderwerk der Technik". Frühe Computernutzung in der Schweiz (1960–1980)


Autor(en)
Egger, Josef
Reihe
Interferenzen – Studien zur Kulturgeschichte der Technik 21
Erschienen
Zürich 2014: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
263 S.
Preis
€ 31,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Nicolas Chachereau, Université de Lausanne

Obwohl heute der Computer allgegenwärtig ist und die Schweiz wohl zu den weltweit am stärksten computerisierten Ländern zählt, gibt es noch wenig Forschung zur Geschichte des Computers in diesem Land. Deshalb stellt Josef Eggers Studie einen willkommenen Beitrag zum Verständnis der schweizerischen Gesellschaft dar. Das Buch widmet sich einer Zeit, in der der Computer immer wichtiger wurde, jedoch für die Mehrheit der Bevölkerung unsichtbar blieb. „Dem Durchschnittsbürger begegnete das geheimnisvolle Gerät allenfalls bei der Buchung einer Flugreise oder der Einlage ins Sparkonto.“ (S. 11) Nicht in die Fussstapfen eines Durchschnittsbürgers tritt der Leser: Das Gerät soll für ihn nicht geheimnisvoll bleiben. Er soll erfahren, wie Grossrechner zwischen dem Ende der 1950er-Jahre und der Ankunft des Personal Computers 1980 in die Schweizer Grossunternehmen Eingang fanden.

Im Gegensatz zu den vorhandenen Studien zur Geschichte des Computers in der Schweiz stellt Egger nicht die Frage, warum keine schweizerische Informatik-Industrie entstanden ist. Es geht ihm nicht um Bedauern, nicht um „verpasste Chancen“.1 Im Gegenteil, der Zweck des Buches sei dann erreicht, wird in der Einleitung erklärt, „[w]enn es […] gelungen ist, aufzuzeigen, dass rund um den Computer Beachtliches geschaffen wurde und heute noch wird, wenn die Leistungen der EDV-Pioniere in der Schweizer Industrie beispielhaft aufgezeigt werden können“ (S. 12).

Deshalb legt der Text den Akzent auf zahlreiche Projekte der Computeranwendungen in grösseren Schweizer Firmen. Ein Teil der Beispiele wurde bereits von anderen Historiker/innen erforscht, die Mehrheit wird jedoch zum ersten Mal, mittels origineller Quellen aus Firmenarchiven oder Fachzeitschriften, untersucht. Anhand dieser Projekte gibt das dritte Kapitel, mit 57 Seiten das längste des Buches, einen ausführlichen Überblick über die Computernutzung im betrachteten Zeitraum. Darin wird aufgezeigt, dass die Computer insbesondere für die Verwaltung grosser Mengen Daten angewendet wurden. Lohn- und Gehaltsbuchhaltungen, betriebliches Rechnungswesen sowie Lagersteuerungen gehörten zu den Bereichen, die in allen Wirtschaftsbranchen immer häufiger mit Rechnern verwaltet wurden. Je nach Industrie kamen noch andere Anwendungsbereiche dazu. Eggers Studie stellt folgende sechs Branchen vor: Chemie und Pharmaindustrie, Maschinen- und Elektroindustrie, Versicherungen, Banken, Handel und Verkehr.

Es werden drei Phasen unterschieden, bestimmt durch verschiedene technische Möglichkeiten. In der ersten Phase, „Beginn“ genannt (1960–1966), ging es um Rechnungen und Verarbeitungen, die in einem Programmdurchlauf durchgeführt wurden. Diese sogenannte Batchverarbeitung dauerte eine gewisse Zeit und wurde deshalb nicht während des laufenden Geschäfts eingesetzt, sondern immer erst im Nachgang, beispielsweise beim nächtlichen Nachrechnen von Bewegungen auf Bankkonten. Diese Batchverarbeitung wurde bereits vielfältig angewendet, etwa bei wissenschaftlichen Rechnungen in der chemischen Industrie, Lagerüberwachungen bei der Migros, bei der Erstellung der Arbeitspapiere mit Stücklisten und Operationsplänen bei BBC oder bei Statistiken zu Prämieneinnahmen und Schadenfällen bei der Winterthur Versicherung. Mit dem „Aufbruch“ (zweite Phase, 1967–1974) vermehrten sich die Bestellungen und die Anwendungen. Das Einsatzgebiet der Computer wurde erweitert, zum Beispiel schloss die Lohnbuchhaltung jetzt auch Personalversicherungen und Vorsorgebeiträge mit ein. Dank dem Einsatz eines mit dem Zentralrechner verbundenen sogenannten Terminals (Bildschirm und Tastatur), wurde es zudem möglich, den Computer unmittelbar bei den anfallenden Aufgaben einzusetzen. Diese Technik wurde während der letzten Phase, der „Reife“ (1975–1980), vermehrt eingesetzt und mit neuen Möglichkeiten, unter anderem der Datenbank, kombiniert. In dieser Zeit war die Anschaffung eines Computers kein ausserordentliches Ereignis mehr. Dafür rückten die möglichen Probleme der Computeranwendung in den Mittelpunkt, vor allem die Betriebssicherheit der Rechner, die Zuverlässigkeit der Daten, die schlechte Produktivität der Software-Entwicklung, schwierige Projektarbeiten oder die physische Sicherheit der Rechenzentren.

Das dritte Kapitel weist also auf die vielfältigen, wichtigen und in den Schweizer Grossunternehmen ganz üblichen Anwendungen des Computers zwischen 1960 und 1980 hin. Im vierten Kapitel werden acht „Herausragende Anwendungen“ vorgestellt, „die von Pioniergeist und technischem Können zeugen“ (S. 93). Die beschriebenen Projekte wurden zwischen 1959 und 1981 in Betrieb genommen und betreffen Industrie (Rieter, Sandoz), Elektrizitätserzeugung (Grande Dixence), Verkehr (SBB, Swissair), Kommunikation (PTT), Banken (Schweizerischer Bankverein) und Versicherungen (Winterthur). Es wird geschildert, wie technische Herausforderungen gemeistert und die Ergebnisse mit Stolz dem Publikum vorgestellt wurden.

Vielfalt und Pioniergeist der Computeranwendungen stehen zwar im Zentrum der Studie, andere Themen werden jedoch ebenfalls sichtbar, so zum Beispiel die Gründe für den Erfolg oder Misserfolg der Vorhaben. Entsprechend widmet sich Kapitel 5 einigen abgebrochenen Projekten, während sich Kapitel 8 für die Begründung der Projekte und die Praxis der Wirtschaftlichkeitsrechnung interessiert. Auch andere Aspekte werden beleuchtet: Die Überlegungen zum Erfolg der Projekte sowie zur organisatorischen Eingliederung der EDV-Dienste in die Unternehmen (Kapitel 6) oder zum Beitrag des Computers zum Wirtschaftswachstum (Kapitel 9) bilden Ansatzpunkte für weitere Forschungen der Unternehmens- und Wirtschaftsgeschichte. Aus Sicht der Sozialgeschichte sind die Ausführungen zur konkreten Gestaltung der Teamarbeit, zur Veränderung der Berufe, zu den Konflikten zwischen Nutzer und Entwickler oder zum Widerstand der Angestellten und Gewerkschaften besonders interessant (unter anderem S. 69, 126, 133, 145 sowie Kapitel 7). Aus dem Blickwinkel der Kulturgeschichte sind zahlreiche Zitate und mehrere Textstellen zur Medienberichterstattung über den Computer spannend (etwa S. 180–187 oder 226).

In der Einleitung schreibt Josef Egger, ehemaliger Leiter der Informatik-Abteilung bei der SBB, diese Studie sei „aus der Sicht des Praktikers geschrieben“ (S. 12). Ist der Leser aber kein Praktiker, so wird ihn diese Sichtweise öfters stören. Er wird sich fragen, weshalb er so viele technische Details erfahren soll, etwa welche Computer-Modelle die Firmen bestellten. Auch mag ihm das Bild des Computers zu wenig kritisch erscheinen. Der Titel ist ein schönes Beispiel für dieses Problem: „Ein Wunderwerk der Technik“ ist zwar ein Zitat aus der betrachteten Zeit, in der Schlussbetrachtung verschwinden jedoch die Anführungszeichen (S. 238). Damit nimmt der wissenschaftliche Text aus dem Jahre 2014 denselben Standpunkt ein wie ein Zeitungsbericht zur neuen Rechneranlage der Firma Rieter aus dem Jahr 1959. Oft wird auch die Entwicklung als „unaufhaltsam“, „unausweichlich“ beschrieben. Ein Blick in die Technikgeschichte der letzten Jahrzehnte oder in die internationale, insbesondere amerikanische Forschung zur Computergeschichte hätte gezeigt, dass sich eine differenziertere Diskussion lohnt.2 Selbst einige der Studien, auf welche sich das Buch stützt, zeigen dies, etwa Gisela Hürlimanns Arbeit zur Eisenbahn-Automatisierung.3

Die Studie hat also Schwächen. Sie hat aber auch Stärken. Die vorgestellten Projekte werden genau und seriös beschrieben, wodurch die intensive Arbeit in zahlreichen schweizerischen Firmenarchiven erkennbar wird. Die vielen Zahlen werden auch künftigen Historiker/innen nützlich sein. Das Buch lässt sich gut lesen, auch dank einer hilfreichen technischen Einführung im zweiten Kapitel und einem Glossar im Anhang. Vor allem ist das Ziel, das Josef Egger sich gesetzt hatte, erreicht: Das Buch zeigt, dass rund um den Computer tatsächlich Beachtliches geschaffen wurde. Die Anwendung erweist sich als ein viel interessanteres Feld als die Frage des Fehlens einer schweizerischen Computerindustrie. Genau wie die beschriebenen Computerprojekte ist „Ein Wunderwerk der Technik“ eine Pionierleistung. Hoffentlich ebnet sie anderen Forschern den Weg.

Anmerkungen:
1 Stellvertretend: Gregor Henger, Informatik in der Schweiz. Eine Erfolgsgeschichte verpasster Chancen, Zürich 2008.
2 Etwa Michael S. Mahoney, The histories of computing(s), in: Interdisciplinary Science Reviews 30 (2005), S. 119–135.
3 Gisela Hürlimann, „Die Eisenbahn der Zukunft“. Automatisierung, Schnellverkehr und Modernisierung bei den SBB 1955–2005, Zürich 2007.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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