Cover
Titel
Ausreise per Antrag: Der lange Weg nach drüben. Eine Studie über Herrschaft und Alltag in der DDR-Provinz


Autor(en)
Hürtgen, Renate
Reihe
Analysen und Dokumente. Wissenschaftl. Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes d. ehemaligen DDR (BStU) 36
Erschienen
Göttingen 2014: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
338 S., 1 Diagr., 4 Tab.
Preis
€ 24,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Emmanuel Droit, Centre Marc Bloch, Berlin

Seit der Öffnung seiner Archivakten in den frühen 1990er-Jahren steht das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) als bürokratische Terror- und Überwachungsinstitution im Mittelpunkt des Interesses zahlreicher – auch internationaler1 – wissenschaftlicher Untersuchungen über die DDR. Auf der Grundlage aktengestützter Forschung rücken insbesondere die Strukturen des Sicherheitsapparates und seine willkürlichen Auswirkungen auf die ostdeutsche Gesellschaft in den Blickwinkel.

In Anlehnung an eine durch Thomas Lindenberger und andere praktizierte DDR-Sozialgeschichte des Politischen2 haben in den letzten Jahren Historiker wie Jens Gieseke und vor kurzem auch Ilko-Sascha Kowalczuk für einen „Brückenschlag“ (J. Gieseke) zwischen Stasi und Alltag bzw. Stasi und Gesellschaft plädiert.3 Eine solche „kopernikanische Revolution“ hat auch die Abteilung Forschung der BStU erfasst. Renate Hürtgens hier entstandenes Buch ist allerdings Teil ihres breiten regionalhistorischen Forschungsprogramms „Herrschaft und Gesellschaft in der Provinz“.4 Ein solcher Ansatz bringt logischerweise insofern heuristische Effekte hervor, als dass die gewählte Mikroebene es erlaubt, Phänomene zu erfassen, die man auf der Makroebene nicht wahrnehmen kann. Bei einer solchen Perspektive geht es weniger um die Suche nach Repräsentativität als um die Entdeckung spezifischer Erkenntnisse.5

Am Beispiel der Untersuchung der Antragsteller auf ständige Ausreise des DDR-Landkreises Halberstadt zeigt die Studie von Renate Hürtgen exemplarisch, wie man eine solche sozio-politische Geschichte der Herrschaft at the grass roots überzeugend schreiben kann. Im Zentrum des Interesses der Historikerin steht nicht die Frage nach der Integration dieser DDR-Außenseiter in die bundesdeutsche Gesellschaft, sondern die nach dem Werdegang der „Durchschnittsantragsteller“. Sie untersucht diese Schicksalsgemeinschaft, die konkreten Handlungsrepertoires (sowohl seitens der Herrschenden als auch seitens der Beherrschten) und die Interaktionen zwischen dem Staat (verkörpert vor allem durch die Abteilung Innere Angelegenheiten beim Rat des Kreises und die MfS-Kreisdienststelle) und diesem kleinen Teil der Gesellschaft, der durch seinen Antrag das Selbstverständnis des SED-Staates infrage stellte. Hierbei spielt Renate Hürtgen ihre reiche Erfahrung mit einem solchen Ansatz aus, die sie bereits bei ihrer Untersuchung des Spannungsverhältnisses zwischen DDR-Alltag und Staatssicherheit am Beispiel des Produktionsbereiches unter Beweis gestellt hatte.6

In einer an Stendhals „Rot und Schwarz“ erinnernden Art und Weise bereitet die Autorin im ersten Kapitel mit einer Art thick description der historisch-räumlichen lokalen Konstellation des Landkreises Halberstadt im Bezirk Magdeburg die Bühne. Dieses Halberstädter Umfeld spiegelt typische Probleme der DDR der 1970er- und 1980er-Jahre wider (schlechte medizinische Versorgung und Wohnungsnot einerseits, aber auch Modernisierung des Bildungssystems und Entwicklung einer sozialistischen Konsumkultur andererseits) sowie spezifische Merkmale einer Grenzregion (den Status eines Sperrgebietes, die zunehmende Durchlässigkeit der Grenze).7

In den folgenden Kapiteln nimmt Hürtgen sehr sorgfältig den Verlauf von insgesamt 819 Anträgen unter die Lupe, die zwischen 1973 und 1989 im Kreis Halberstadt gestellt wurden. Auf der Grundlage einer breiteren schriftlichen und mündlichen Quellenbasis gelingt es der Autorin, ein differenziertes soziologisches Bild der Gruppe der Antragsteller zu vermitteln. Darüber hinaus bietet sie interessante Forschungsergebnisse an.

Im Gegensatz zur bisherigen Literatur über die Antragsteller, die sich vor allem den der sichtbaren Oppositionsminderheit nahe stehenden „Ausreisewilligen“ gewidmet hat, die zudem oft aus Großstädten wie Berlin oder Jena stammten, belegt sie, dass über die Hälfte der Antragsteller aus Halberstadt einfache, etwa dreißigjährige Industriearbeiterinnen und -arbeiter waren, die bisher ein angepasstes Leben geführt hatten. Schritt für Schritt rekonstruiert Hürtgen die Motive und die Etappen der Antragstellung. Der „kleinste gemeinsame Nenner“ aller Antragsteller war dabei die „Hoffnung auf einen Neuanfang im Westen“ (S. 103). Bei diesem Neustart ging es weniger um die Sehnsucht nach westlichem Konsum als um den Wunsch, in einer offeneren Gesellschaft zu leben, die mehr berufliche Perspektiven und weniger Beschränkungen zu bieten hatte.

Indem diese Individuen den Sprung wagten und einen Ausreiseantrag stellten, bewiesen sie Courage nicht nur gegenüber dem Staat und seinen Sicherheitsorganen, sondern auch gegenüber dem Rest der Bevölkerung. „Die Antragsgemeinschaft“ brach den seit dem Mauerbau zwischen Staat und Gesellschaft geschlossenen stillschweigenden Kompromiss und begab sich damit in eine unangenehme berufliche und soziale Situation. Viele fanden in der Kirche einen wertvollen Schutzraum, selbst wenn diese Schutzfunktion nicht immer für alle Antragsteller automatisch gegeben war.

Mit großer Sorgfalt zeichnet Hürtgen ein sehr präzises Bild der Auswirkungen dieser Situation auf die Familie und das soziale Netzwerk. Beispielsweise belegt Hürtgen, dass bei Anträgen von Ehepaaren oft die Frauen weniger engagiert waren als ihre Ehemänner, weil sie oft die Herrschaftsverhältnisse besser verinnerlicht hatten. Diese Tatsache wurde vom MfS wahrgenommen und anhand präziser Persönlichkeitsprofile als Möglichkeit benutzt, den einheitlichen Willen eines Ehepaars zu schwächen, um auf diese Weise die Rücknahme des Antrags zu bewirken.

Jenseits des Durchschnittsantragstellers widmet Hürtgen auch dem sogenannten „hartnäckigen Antragsteller“ (S. 15) ein Kapitel, also den Personen, die mit Nachdruck und sichtbaren Gesten auf der Ausreise beharrten.

Im vorletzten Kapitel stehen die Akteure der Herrschaft und ihre bereits gut bekannte Praxis im Vordergrund. Selbst wenn diese Frage erst sehr spät in ihrem Buch thematisiert wird, ist sie überzeugend behandelt und bestätigt vorherige Forschungsergebnisse. Hürtgen zeigt letztendlich, wie diffus Herrschaft war und wie sie sich in verschiedenen Funktionsträgern wie Partei- und Staatsfunktionären, Betriebs- und Schulleitern widerspiegelte. Da selbst die inoffiziellen Mitarbeiter dem sozialistischen Kern entstammten, argumentiert Hürtgen, dass das MfS sich nicht „auf eine breite Zuträgerschaft bei den ‚gewöhnlichen‘ DDR-Bürgern stützen“ konnte (S. 241).

Die Studie von Renate Hürtgen stellt in mannigfaltiger Weise eine Bereicherung dar: Erstens erweitert sie unser Verständnis der DDR-Gesellschaft aus der Provinz heraus, wo das MfS als „politischer und moralischer Seismograph“ (S. 44) die Lage zu Recht als stabil einschätzen konnte. Einmal mehr erweist sich die Peripherie als ein geeigneterer Raum als das Zentrum, um ein Land zu verstehen. Zweitens hebt Hürtgen die Pluralität der herrschenden Akteure hervor und belegt sie. Macht ist somit nicht nur eine Frage von SED-Beschlüssen; sie ist vielmehr im Alltag verankert. Macht kann nicht als Einheit verstanden werden, sondern eher – in Anlehnung an Foucault – als ein soziales Kräftefeld bzw. als ein Netzwerk, in dem verschiedene Individuen eingebunden sind.8

Drittens stellt Hürtgen zu Recht klar, dass diese Außenseiter nicht zur Opposition gehörten, selbst wenn es zu Überschneidungen kam. Tatsache war, dass beide Gruppen jedoch einer Minderheitskonstellation in der DDR angehörten und vom SED-Regime sowohl stigmatisiert als auch destabilisiert wurden. Ihre nebeneinander stehenden Aktionen haben in den späten 1980er-Jahren zur Schwächung der Diktatur bzw. zum Zusammenbruch der DDR beigetragen.

Insgesamt bietet dieses Buch ein differenziertes Bild der Ausreiseantragsteller. Es bestätigt, was wir schon über Herrschaft als soziale Praxis in der DDR wussten, und stellt eine sehr gelungene Mikrostudie zur DDR-Gesellschaftsgeschichte dar.

Anmerkungen:
1 Mike Dennis, The Stasi. Myth and Reality, Harlow 2003; Emmanuel Droit, La Stasi à l’Ecole. Surveiller pour éduquer, Paris 2009; Gary Bruce, The firm: The inside story of the Stasi, New York 2010.
2 Thomas Lindenberger (Hrsg.), Herrschaft und Eigen-Sinn in der Diktatur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte der DDR, Köln 1999. Siehe auch Sandrine Kott / Emmanuel Droit (Hrsg.), Die ostdeutsche Gesellschaft. Eine transnationale Perspektive, Berlin 2006.
3 Jens Gieseke (Hrsg.), Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR, Göttingen 2007; Ilko-Sascha Kowalczuk, Stasi konkret. Überwachung und Repression in der DDR, München 2013.
4 <http://www.bstu.bund.de/DE/Wissen/Forschung/Forschungsprojekte/Forschungsprojekte_herrschaft_provinz.html> (15.12.14).
5 Jacques Revel (Hrsg.), Jeux d’échelles. La micro-analyse à l’expérience, Paris 1996.
6 Renate Hürtgen, Zwischen Disziplinierung und Partizipation. Vertrauensleute des FDGB im DDR-Betrieb, Köln 2005.
7 Muriel Blaive / Berthold Molden, Grenzfälle. Österreichische und tschechische Erfahrungen am Eisernen Vorhang, Weitra 2009.
8 Michel Foucault, Histoire de la sexualité, vol. I: La volonté de savoir, Paris 1976.

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