Terras, Melissa; Nyhan, Julianne; Vanhoutte, Edward (Hrsg.): Defining Digital Humanities. A Reader. London 2013 : Ashgate, ISBN 978-1-4094-6963-6 XV, 314 S. £ 25.00

Warwick, Claire; Terras, Melissa; Nyhan, Julianne (Hrsg.): Digital Humanities in Practice. . London 2012 : Facet Publishing, ISBN 978-1-85604-766-1 £ 49.95

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Christoph Hobohm, Fachbereich Informationswissenschaften, Fachhochschule Potsdam

„What is Digital Humanities?“ – so startet zurecht der vom Digital Humanities Centre des University College London (UCL) erstellte Sammelband „Digital Humanities in Practice“. Das Centre sieht sich als die weltweit führende Einrichtung für Digital Humanities (im Folgenden „DH“) und möchte mit dem vorgestellten Buch die ganze Bandbreite der Disziplin darstellen. Interessanterweise werden als Stärke der Universität neben der Informatik und den Geisteswissenschaften die Informationswissenschaften (information studies) genannt. Die Beiträge zu dem Band stammen von Mitarbeitern und Kollegen aus dem Kontext des Centres und sind bewusst als systematischer Überblick angelegt. Dabei wird unter DH die Anwendung digitaler und „Computer-Methoden“ auf die geisteswissenschaftliche Forschung bzw. umgekehrt die Anwendung geisteswissenschaftlicher Methoden auf digitale Objekte verstanden – ohne dass diese beide eingangs definiert werden. Im Gegenteil, es wird auf eine spezifische Definition verzichtet, aus Angst, eine solche Definition würde schnell veralten oder das Feld zu sehr limitieren.

Die Praxis des Londoner Centres wird in neun einschlägig thematischen Kapiteln jeweils mit grundlegenden Darstellungen sowie anhand von Fallstudien dargestellt. QR Codes am Anfang des jeweiligen Kapitels führen auf die entsprechenden Seiten im Weblog des Centres mit weiterführenden Projektbeispielen. Jedes Kapitel endet mit einer ausführlichen Bibliographie, die das Thema auch außerhalb des UCL Kontextes situiert und Vertiefung ermöglicht. Nach einem Kapitel über Forschungen zum (Informations-)Verhalten von Geisteswissenschaftlern bzw. Nutzern digitaler Ressourcen des kulturellen Erbes (Claire Warwick) folgt ein Abschnitt zum Einsatz und zur Bedeutung von Social Media und nutzergeneriertem Inhalt (Claire Ross). In Kapitel drei und vier behandelt Melissa Terras visuelle Medien und bildverarbeitende Technologien, die nach ihrer Aussage zunehmend ins Zentrum von DH rücken. Dabei führt sie kritisch und fachkundig in die Themenfelder Digitalisierung und image processing ein. Weiter im bildlich musealen Kontext stellt Kapitel fünf (Robson, MacDonald, Were und Hess) mehrere 3D Projekte vor, die deutlich machen, welche Potenziale diese Technologie gerade für das kulturelle Erbe birgt. Julianne Nyhan beschreibt den Kern der Computerphilologie in Kapitel sechs, nämlich digitale Edition und Textencoding. Dieses Kapitel macht deutlich, wie sehr der Reader tatsächlich einen sehr grundsätzlichen Überblick über DH gibt: Text Encoding Initiative (TEI) wird in seiner Entstehung und Funktionsweise recht anschaulich erklärt und es wird prinzipiell diskutiert, was digitalisierte Texte kennzeichnet. Im Themengebiet historische und materielle Bibliografie bzw. Buchgeschichte nähert sich Anne Welsh den Informationswissenschaften (Kap. 7). Allerdings muss sie konstatieren: „The relationship between the academic discipline of librarianship (knowledge organization) and Digital Humanities remains, as yet, unexplored“ (S. 149). Leider belegt sie das auch noch praktisch mit einer fehlerhaften Bibliographie ihres Beitrags (zum Beispiel Verlagsname als Kopf des Eintrags). Die letzten beiden Kapitel beschäftigen sich mit den eher institutionellen Rahmenbedingungen von DH, unter anderem mit dem Einsatz von ursprünglich digitalen oder im DH Zusammenhang entstandenen digitalen Objekten in der Lehre und zwar vorwiegend sogenannten open educational resources (OER). Simon Mahony, Ulrich Tidau und Irish Sirmons konstatieren in ihrem Fazit, dass besonders in diesem Bereich noch Forschungsbedarf besteht, da noch unklar erscheint, wie tatsächlich potenzielle Nutzer mit den offenen Ressourcen umgehen. Im abschließenden Kapitel neun spannt Claire Warwick, eine der Leiterinnen des UCL Centre for DH den Bogen zurück zum Eingangskapitel ihrer Co-Direktorin Melissa Terra mit der Frage der Institutionalisierungsform geisteswissenschaftlicher, computerbasierter Projektarbeit. Hierbei kommt sie zu der Erkenntnis, dass eines der Kernprobleme von DH die Frage nach dem „Studienprogramm“ ist: ohne das etablierte Angebot von eigenen Studiengängen bleibt die Forderung nach der Disziplin DH „a frustratingly circular problem“ (S. 208). Dennoch schließt sie sehr optimistisch, wenn sie schreibt, dass die DH-Bewegung gegebenenfalls die ewig beschworene „Krise der Geisteswissenschaften“ überwinden helfen könne.

So ganz befriedigt dieses „pro domo“ Statement den neugierigen Leser letztlich nicht. Das Textbuch erscheint nicht nur vor diesem Hintergrund eher wie eine Rechtfertigung der eigenen Existenz, ohne dass wirklich an die Kernfragen herangegangen wird. Für einen einführenden, überblicksartigen Sammelband mag es eine überzogene Erwartung sein, aber an einigen Stellen wäre doch etwas mehr Tiefgang sinnvoll gewesen. Um nur wenige Beispiele zu nennen: ein wesentlicher Vorteil computerbasierter kritischer Edition ist doch die mögliche Automatisierung des Kollationierens und Textvergleichs und nicht nur die Annotation multimedialer Publikationen. Davon wird gar nicht geschrieben, stattdessen wird recht eindimensional TEI referiert. Ähnlich wenig Reflexion weist wie erwähnt das Thema historische Bibliografie auf oder selbst das sogar mit „Open Access“ überschriebene Kapitel zu neuen offenen Lernformen. Claire Warwick beklagt zurecht, dass Wissenschaftler kein Renommee ernten über die einfache Bereitstellung oder das Kursieren von Daten (S. 195), sondern nur durch Analyse und Evaluation derselben. Das gleiche sollte meines Erachtens für einen Reader zu einer (als neu empfundenen) ganzen Disziplin gelten. Und das betrifft beide Aspekte: die Analyse der geisteswissenschaftlichen Position und die Evaluation der eingesetzten Methoden. Im ersten Fall reicht es nicht, nur auf die fortgeschrittene Digitalisierung der Gesellschaft („greater immersion“) zu verweisen, um den Einsatz digitaler Methoden zu erklären; auf der anderen Seite wäre eine tiefergehende Rezeption und Reflexion der Methodologie der eingesetzten Methoden selbst in einem überblicksartigen Sammelband angebracht: da reicht es nicht zu erklären, das Verhältnis zu informationswissenschaftlichen Disziplinen sei „unerforscht“ (siehe oben).

Mehr grundsätzliches erhofft sich der DH interessierte Leser von einem anderen Sammelband der gleichen Institution. „Defining Digital Humanities“ wird explizit als „Reader“ bezeichnet (im Gegensatz zum ersten beschriebenen Band), der die eingangs gestellte Frage „What is Digital Humanities?“ wenn auch ebenfalls nicht beantworten will, so doch umfassend explorieren möchte. Mit dichten 330 Seiten ist der Band auch weitaus umfangreicher und erhebt den Anspruch, in 23 sehr unterschiedlich langen Kapiteln Wesentliches zum Studium der Disziplin DH zusammenzustellen. Dabei handelt es sich fast ausschließlich um wieder abgedruckte Publikationen aus bisher verstreuten Quellen. Begleitende Kommentare von Autoren und/oder Herausgebern stellen die einzelnen Abschnitte in ihren konkreten Entstehungskontext und thematischen Zusammenhang. Zusammengetragen sind Texte der letzten zehn bis 15 Jahre, vor allem seit der eher zufälligen Prägung des Begriffs „Digital Humanities“ mit der Publikation des von Susan Schreibman, Ray Siemens und John Unsworth herausgegebenen (meines Erachtens immer noch unerreichten) „Companion“.1

Zu dem wenigen Originalmaterial in dem Reader, zählt neben den erwähnten Meta-Kommentaren, eine auch in den Social Media weitergetriebene Zusammenstellung von „further reading“ Literatur-Empfehlungen (Kap. 22), eine Liste mit 20 Fragen zur Anregung einer Seminar-Diskussion des Konzeptes Digital Humanities (Kap. 23) und ein Originaltext eines der Herausgeber Edward Vanhoutte, der den Paradigmenwechsel („historical shift“) von Humanities Computing zu Digital Humanities sehr lesenswert nachzeichnet unter der Überschrift „The Gates of Hell“ (Kap. 6). Entsprechend dem Titel des Bandes beschäftigen sich fast alle Beiträge mit dem Versuch einer Definition der als neu empfundenen Disziplin. Dabei ist das Buch in vier Abschnitte unterteilt: im ersten ist der Fokus noch auf dem Term „Humanities Computing“ und es kommen (auch) eher die Urväter des Feldes zu Wort wie Willard McCarty und John Unsworth. Ein neu abgedruckter Aufsatz von Melissa Terras untersucht statistisch die Herkunft von Autoren auf DH Konferenzen, was ihn durch seinen analytischen Zugriff von den ansonsten eher essayistisch angelegten Beiträgen unterscheidet.

Der zweite Abschnitt akzeptiert dann in der Entwicklung schon eher den Begriff „Digital Humanities“ und kulminiert mit dem einzigen Aufsatz des Bandes, der fachwissenschaftlich auf einer Metaperspektive argumentiert: Paul Rosenblooms „Towards a Conceptual Framework for the DH“ (Kap. 11), der dort jedoch sein eigenes wissenschaftstheoretisches Modell der „Great Scientific Domains“ auf die Geisteswissenschaften ausbreitet ohne wirklichen Bezug auf aktuelle Wissenschaftskulturen- oder Domänendebatten etwa von C.P. Snow, Wolf Lepenies, Bruno Latour oder Birger Hjørland.2

Der dritte Abschnitt des Readers trägt vorwiegend Blogbeiträge zusammen; zeichnete sich die Community ja immer schon durch rege computervermittelte Kommunikation aus (etwa mit einer der ersten Mailinglisten überhaupt: dem seit 1987 laufenden „electronic seminar“ HUMANIST McCarty’s3). War „Humanities Computing“ und Computerphilologie noch auf Mailinglisten angewiesen, so artikuliert sich „Digital Humanities“ in der Blogo- oder Twittersphäre. In Abschnitt vier werden aus diesen dann die Resultate des Blogposts von Fred Gibbs vom September 2011 abgedruckt, in dem er die „Community“ nach Definitionen gefragt hatte und sehr unterschiedliche Antworten erhielt, die er versuchte zu kategorisieren.

Der Reader mit dem Anspruch, „in one volume the core necessary readings in our discipline“ zusammenzutragen und „to provide a set of texts for students beginning to engage in this field“ (S. 6) ergänzt damit sehr gut den Band des Vorjahres, der eher inhaltlich in DH einführen möchte. Beide zusammen ergeben ein gutes, erstes Bild der Disziplin – vor allem auch ihrer offensichtlich immer noch vorhandenen Nöte, sich selbst zu finden.

Dennoch bleibt ein unbefriedigender Eindruck zurück: Waren die Computerphilologie, die computervermittelte Geschichtswissenschaft und viele andere „klassische“ Geisteswissenschaften nicht eigentlich schon weiter? Und warum werden die Erkenntnisse der jeweils neu hinzugewonnenen zweiten Hälfte der Disziplinbezeichnung, nämlich „Computer“, „Informationstechnologie“ oder „Digital-“ nicht über die dazugehörige Disziplin – nämlich die Informationswissenschaft – wahrgenommen und das Rad stets neu erfunden? Als „Einstieg“ bleibt das bereits erwähnte Companion nicht erreicht (auch weil dieses zumindest mit Busa die Dokumentationswissenschaft würdigt). Die vorgelegten Bände des Centre for Digital Humanities des UCL zeichnen jedoch ein interessantes Bild der neueren Entwicklung.

Anmerkungen:
1 Susan Schreibman/Raymond George Siemens/John Unsworth (Hrsg.), A Companion to digital humanities (Blackwell companions to literature and culture 26), Malden, MA 2004 or online as open access: <http://www.digitalhumanities.org/companion/> (04.12.2014).
2 Vgl. Paul S. Rosenbloom, On computing. The fourth great scientific domain, Cambridge 2013; Charles Percy Snow, The two cultures and the scientific revolution, Cambridge 1959; Wolf Lepenies, Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft, Reinbek bei Hamburg 1985; Bruno Latour, Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt am Main 2002; Birger Hjørland/Hanne Albrechtsen, Toward a New Horizon in Information Science: Domain Analysis, in: Journal of the American Society for Information Science 46 (1995), S. 400–425.
3 Das Archiv befindet sich unter: <http://dhhumanist.org/> (04.12.2014).

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